Mit dem passenden Energiesystem können die Erneuerbaren massenhaft teure Importe überflüssig machen, sagt Branchenchefin Simone Peter. (Bild: Maëlan Poyer/​Shutterstock)

Klimareporter°: Frau Peter, in Deutschland gebe ein klimapolitisches "Rollback", erklärte die Vorständin der Stiftung Klimawirtschaft, Sabine Nallinger, kürzlich auf einer Tagung. Ist Klimapolitik in Deutschland auf dem Rückzug?

Simone Peter: Es gibt zwei gegenläufige Bewegungen. Zum einen ist es so, wie Hermann Scheer es beschrieb: Jedes Prozent Wachstum der Erneuerbaren löst einen enormen Widerstand bei den fossilen Lobbys aus.

Derzeit zeigt sich das an den mühsamen Prozessen vor dem kommenden Weltklimagipfel. Einige Länder wollen noch den letzten Tropfen Öl und den letzten Kubikmeter Gas aus dem Boden pressen und einen Teil der Emissionen per CCS abscheiden.

Hierzulande stellt der Bundesfinanzminister den Kohleausstieg infrage. Im Verkehrs- und Gebäudesektor sind wir noch immer weit von den Klimazielen entfernt. Einen Rückschritt sehe ich auch beim Klimaschutzgesetz, in dem Sektorenziele aufgelöst werden.

Aber zum anderen geht der Ausbau der erneuerbaren Energien endlich wieder voran, global und in auch Deutschland. Wir kompensieren damit nicht nur den Atomausstieg, es sind auch weniger Kohlekraftwerke am Netz. Beim Solarstrom haben wir im September bereits die Ausbauziele fürs ganze Jahr erreicht. Auch mit der Windkraft kommen wir voran, wenn auch langsamer. Bei Bioenergie, Wasserkraft und Geothermie gibt es aber noch deutlich Nachholbedarf.

Dennoch besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Vorteile der heimischen Erneuerbaren auch letzte Zweifler überzeugen. Sie sind günstiger und krisensicherer.

Haben Sie dem Finanzminister schon erklärt, woher billige Energie in Zukunft kommt?

Wir haben ihn zu unserem Sommerfest 2024 eingeladen.

Aber auch bei anderen Politikern gibt es Unsicherheit darüber, ob die Energieversorgung für Deutschland und Europa mit wachsenden Erneuerbaren-Anteilen gesichert ist.

Dabei stammen unsere Stromimporte in den letzten Monaten vor allem aus erneuerbaren Quellen unserer Nachbarn. Ganz Europa steuert um und Erneuerbare setzen sich immer öfter am Markt durch. Jetzt muss das Strommarktdesign noch an die Erneuerbaren angepasst werden, denn dezentral funktioniert anders als zentral.

Der Bundesfinanzminister will die 60 Milliarden Euro, die jetzt aufgrund des Urteils des Verfassungsgerichts im Klima- und Transformationsfonds fehlen, durch einen Nachtragshaushalt beschaffen und dafür die Schuldenbremse für 2023 aufheben. Wie finden Sie das?

Es ist richtig, dass die Ampel die Schuldenbremse kurzfristig wieder aussetzt und so die Mittel bereitzustellen. Die fehlenden Mittel sind aber auch langfristig zu sichern. Klar muss sein, dass rentierliche Investitionen in die Zukunft auch perspektivisch möglich sein müssen. Deutschland hinkt bei den öffentlichen Investitionen in seine Infrastruktur weit hinterher.

Einige Institute haben auch aufgezeigt, wo sich bei fossilen Subventionen Einsparungen eignen. Klar ist: Die Klimakrise und der internationale Wettbewerb warten nicht. Die Transformation der Industrie muss gelingen. Das hat auch ein früheres Verfassungsgerichtsurteil mit Blick auf die Verpflichtung zur Klimaneutralität eingefordert.

Als "Backup" fürs künftig erneuerbare Stromsystem will das Wirtschaftsministerium um die 24.000 Megawatt neue Gaskraftwerke ausschreiben, die H2-ready sein und später Wasserstoff verbrennen sollen. Ihr Verband zweifelt, dass die 24.000 Megawatt wirklich gebraucht werden ...

Die Regierung will sich offenbar zu jeder Zeit für jede Situation absichern. Das ist legitim, aber erstens haben wir ein schnell verfügbares heimisches Backup steuerbarer Kapazitäten und zweitens dürfen wir keine neuen Abhängigkeiten von fossilen Energien erzeugen. Die Kraftwerke werden nur ein paar Stunden gebraucht. Überkapazitäten werden dann schnell teuer.

Eine diversifizierte Erdgasversorgung hat uns durch den letzten Winter gebracht. Das ist anerkennenswert. Heimische, dezentral eingesetzte erneuerbare Energieträger sind aber auf jeden Fall krisensicherer, günstiger und klimafreundlicher. Zudem passen flexibel steuerbare Bioenergie, Wasserkraft, grüne Kraft-Wärme-Kopplung, Speicher und Elektrolyseure besser zu den fluktuierenden Quellen Wind und Sonne.

Der neue Maßstab ist Flexibilität in Verbindung mit Systemdienlichkeit. Für eine sichere Versorgung brauchen wir in Deutschland also eher eine Flexibilitäts- als eine Kraftwerksstrategie.

Meist wird davon geredet, die Erneuerbaren müssten ins Stromsystem integriert werden. Ist es tatsächlich nicht eher so, dass sich das Stromsystem den Erneuerbaren anpassen muss?

Das ist genau der Punkt. Nicht die Erneuerbaren müssen sich an das System anpassen, sondern das System an die Erneuerbaren. Deshalb ist Dezentralität die neue Währung.

Das betrifft auch Wasserstoff. Wir dürfen uns hier nicht von Importen überschwemmen lassen, sondern grünen Wasserstoff auch als Flexibilitätsoption nutzen, indem er zum Beispiel überschüssigen erneuerbaren Strom in der Region speichern kann.

Das Bundeskabinett hat jetzt zusammen mit den Ferngasbetreibern beschlossen, es soll ein Kernnetz von 9.700 Kilometern für Wasserstoff gebaut werden. 50 bis 70 Prozent des Wasserstoffs soll künftig importiert werden. Hat man da nicht auf Sie gehört?

Foto: BEE

Simone Peter

leitet seit 2018 den Bundes­verband Erneuerbare Energie (BEE), die Dach­organisation der Ökoenergie-Verbände. Die promovierte Biologin ist seit fast 25 Jahren als energie­politische Expertin bekannt. Sie baute die Agentur für erneuerbare Energien mit auf und leitete die Branchen­organisation bis 2006. In der ersten "Jamaika-Koalition" 2009 im Saarland wurde sie Ministerin für Umwelt, Energie und Verkehr. Bis 2018 war sie fünf Jahre Bundes­vorsitzende der Grünen.

Es ist gut, dass es das Kernnetz geben wird. Ich komme aus dem Saarland, einer Stahlregion. Mir ist klar, welchen riesigen Bedarf an Wasserstoff wir für Stahl- und Chemiewerke haben, um sich mit grünen Molekülen zu dekarbonisieren.

Das haben wir übrigens gerade in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Wirtschaftsvereinigung Stahl klargemacht: Nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil braucht es schnell Klarheit für die Industrie, wie die Wasserstoffprojekte finanziert werden.

Wenn man die Importmengen allerdings überschätzt, schwächt das den heimischen Hochlauf des Wasserstoffs. Bringen wir hierzulande Elektrolyseure und die Umwandlung aus Bioenergie voran, wird 2030 heimisch erzeugter grüner Wasserstoff preislich konkurrenzfähig sein. Das hat das Wuppertal-Institut in einer Studie nachgewiesen.

Als "Backup" sollen auch 3.600 Megawatt sogenannter Sprinter-Kraftwerke dienen, die mit Biomethan betrieben werden. Allerdings ging bei den bisherigen beiden Ausschreibungen für die Biomethan-Sprinter kein einziges Angebot ein. Hat die Branche doch kein Interesse?

Die Null-Ergebnisse liegen am wirtschaftlichen Rahmen der beiden Ausschreibungen. Der alleinige Fokus auf Spitzenlastkraftwerke muss ersetzt werden durch einen Anreiz zur Kraft-Wärme-Kopplung. Nur das ist effizient und lohnend.

Die Bioenergie braucht aber auch eine grundsätzliche Ansage vonseiten der Bundesregierung. Wird sie künftig im Wärme- oder im Stromsektor oder in der Mobilität gewollt? Letztlich entscheidet sich das am Markt. Die Bundesregierung sollte sich jedoch schon überlegen, ob sie die Möglichkeiten der Bioenergie zur Wärmeauskopplung oder zur flexiblen Stromerzeugung nicht stärker nutzen will.

Viele in Ihrer Branche ärgern sich, dass die Möglichkeiten der Erneuerbaren ständig unterschätzt werden. In diesem Sinne kritisieren Sie die Langfristszenarien des Bundeswirtschaftsministeriums zur Entwicklung des Energiesystems bis 2050. Die Berechnungen würden bei allen Erneuerbaren-Technologien die Realität "nicht korrekt" abbilden, ist Ihr Resümee.

Dies führe in der Summe zu Abweichungen im hohen zweistelligen Terawattstunden-Bereich, sagen Sie weiter. Anders gesagt: Die Gutachter des Ministeriums irren sich in einer Größenordnung von bis zu 99 Milliarden Kilowattstunden. Ist das nicht übertrieben viel?

Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Pfade, auf denen sich das Energiesystem bis 2045 oder 2050 entwickeln wird. Werden aber Anlagengrößen und Leistungsfähigkeit, wie zum Beispiel bei der Windenergie, von vornherein zu niedrig angesetzt, potenzieren sich Fehler und es kommt mit Sicherheit ein falscher Pfad heraus.

Auch verorten die Szenarien des Wirtschaftsministeriums die Bioenergie auf einem absteigenden Ast. Wir sehen das anders. Ist die Klimabilanz von importiertem, oft aus Fracking-Gas gewonnenem LNG besser als die von Bioenergie, gerade auch, wenn sie künftig verstärkt aus Abfällen gewonnen wird? Sicher nicht.

Bei der Photovoltaik rechnen die Szenarien mit einer massiven Abregelung. Zum Ausgleich soll es dann Stromimporte geben. Auch das kann es ja wohl nicht sein.

Diese Punkte trafen daher auch beim Ministerium schon auf offene Ohren.

Beim Strom sagen alle Studien für Deutschland einen Durchmarsch der Erneuerbaren voraus. Dagegen liegt im Wärmebereich der Erneuerbaren-Anteil erst bei 20 Prozent, bei der Mobilität sogar nur bei sieben Prozent. Wie lässt sich das ändern?

Auch hier brauchen wir ein klares Bekenntnis zur Energiewende. Deutschland ist längst kein Vorreiter mehr. International werden die Weichen pro Erneuerbare viel stärker gestellt.

Frankreich will eine Million Wärmepumpen pro Jahr im Land selbst produzieren, Nordeuropa versorgt sich schon lange überwiegend mit Wärmepumpen. Die USA gehen voran mit ihrem Inflation Reduction Act. Die Asiaten stürmen voran bei der E‑Mobilität.

Unbedingt geht es darum, die Leute mitzunehmen.

Das wird immer mehr zu einem Standortproblem für Deutschland. Bei der Wärmewende kam hierzulande eine unglückliche Debatte zum Gebäudeenergiegesetz dazu. Hier müssen wir von einer ideologischen zurück zu einer faktenorientierten Debatte.

Beim "Heizungsgesetz" wurde fälschlicherweise suggeriert, Minister Habeck würde in jedem Keller die Heizung herausreißen. Richtig ist aber, dass es einen Heizungsaustauschpfad geben muss, denn fossile Heizungen laufen perspektivisch in eine Kostenfalle.

Als die Heizungsdebatte im Sommer heiß lief, wandten Sie sich ausdrücklich gegen einen Populismus, der sich am Heizungsgesetz festgebissen und die Wärmepumpe zum Feindbild stilisiert hatte. Das sei unsäglich, unwürdig und kontraproduktiv, erklärten Sie auf dem Sommertreffen Ihres Verbandes in Berlin. Das waren deutliche Worte.

Mich hat die monatelange Debatte schon sehr bewegt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Wirtschaftsminister schon einmal zum meistverfemten Politiker der Nation und eine Technologie wie die Wärmepumpe zum Feindbild wurde.

Sicher wurden Fehler gemacht, auch von der Regierung. Aber trotz klarer Faktenlage zur Klimakrise und zur Notwendigkeit einer längst überfälligen Wärmewende eine so starke Verunsicherung zu produzieren, war erschütternd.

Und das erleben nicht nur wir als Erneuerbaren-Branche, sondern auch Klimawissenschaft und Klimabewegung. Ich finde, das muss man in so einem Fall dann auch klar benennen.

Muss man nicht anerkennen, dass wir bei der Energiewende in eine neue Phase kommen? Um auf Ökostrom umzusteigen, ist heute nur noch ein gutes Gewissen nötig. Bei der Wärmewende und der Verkehrswende sieht das doch anders aus. Das sind die Menschen viel stärker und oft ganz persönlich betroffen.

Unbedingt geht es darum, die Leute mitzunehmen. Im Stromsektor ist die Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen vielerorts gelungen, es gibt aber noch Luft nach oben.

Die hohen Anfangsinvestitionen bei der Wärme erfordern, dass das Gebäudeenergiegesetz wie auch das Gesetz zur Wärmeplanung gut sozial flankiert werden. Das hätte auch von Anfang an die Botschaft sein müssen.

Jetzt muss es darum gehen, die vorgesehenen Fördermittel im Nachtragshaushalt festzuschreiben und weiter auszuzahlen. Die Regierung hat versprochen, dass Effizienz und Erneuerbare im Gebäudesektor vom Stopp nicht betroffen sein werden.

 

Auch wenn es möglicherweise kein Rollback in der Klimapolitik gibt, ist aber auch klar, dass mit Klimaschutz derzeit bei Wahlen wenig zu holen ist. Befürchten Sie da nicht einen politischen Stillstand in der zweiten Hälfte der Legislatur?

Derzeit hält nach meinem Eindruck das hohe Tempo der Gesetzgebung und der Maßnahmen zur Beschleunigung der Energiewende noch an – von der Wärmegesetzgebung über das Solarpaket bis zur "Plattform klimaneutrales Stromsystem". Auch die Kraftwerksstrategie soll noch kommen.

Aber es fehlen noch die Biomassestrategie, das Speichergesetz, eine Baugesetznovelle, ein Wasserstoff-Beschleunigungsgesetz und die Umsetzung des Bund-Länder-Pakts zur Planungsbeschleunigung.

Hier ist jetzt Eile geboten, denn ab dem kommenden Sommer werden die anstehenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl 2025 das Tempo der Gesetzgebung drosseln.