Die zwei Blöcke des Gas-und-Dampf-Kombikraftwerks von Trianel in Hamm-Uentrop, aufgenommen bei Nacht.
Gaskraftwerk im Ruhrgebiet: Viele neue Erdgasturbinen wünscht sich die Gasbranche – ginge es auch anders? (Bild: Dirk Vorderstraße/​Wikimedia Commons, CC BY 2.0)

Auch Verfechter der erneuerbaren Energien wissen: Es gibt Zeiten, in denen es an Sonne, Wind und neuerdings auch an Wasser mangelt. Wann die Sonne scheint und wie die Winde wehen, lässt sich zwar immer besser vorausberechnen und die Erneuerbaren sind keineswegs, wie Kritiker behaupten, "Zufallsenergie" – dennoch sind hundert Prozent Erneuerbare ohne eine wetter- und kalenderunabhängige Reserve nicht sehr ratsam.

Bei diesem "Backup" für die erneuerbaren Energien wird meist an neue schöne Kraftwerke gedacht. Atomkraft, Öl und Kohle fallen da weg, also bleiben meist nur Gaskraftwerke übrig. Und weil die klimaneutral sein müssen, kommen als Brennstoff nur grüner Wasserstoff oder Biogas infrage.

Das "Backup" für die Erneuerbaren ist Teil der Kraftwerksstrategie, an der das Bundeswirtschaftsministerium seit Monaten bastelt. Die Reserve soll um die 30.000 Megawatt groß sein, fast 24.000 Megawatt davon sollen neue Kraftwerke sein, davon wiederum 8.800 Megawatt direkt mit Wasserstoff betriebene und 15.000 Megawatt auf Wasserstoff umzurüstende Erdgas-Kraftwerke, hat die Bundesregierung kürzlich auf eine Anfrage im Bundestag mitgeteilt.

Über die neuen knapp 24.000 Megawatt führt das Wirtschaftsministerium gerade Konsultationen mit der EU-Kommission, damit für den Bau später Beihilfen gewährt werden können. Im kommenden Frühjahr, so der Plan, will die Bundesregierung die Wasserstoff-Kraftwerke ausschreiben.

Ob Zehntausende neue Megawatt wirklich gebraucht werden, ist aber umstritten. Wie viel "Backup" nötig ist, hängt unter anderem davon ab, wie groß der künftige Strombedarf zur Dekarbonisierung von Industrie und Verkehr ist, ob sich dieser Bedarf vor allem durch Erneuerbare decken lässt oder ob zusätzliche thermische Kraftwerke gebraucht werden.

Flexibilitäts-Effekte "extrem schwer abzuschätzen"

Die Größe der Reserve bestimmt sich aber auch danach, ob die Kundschaft beim Stromverbrauch künftig flexibel agiert, also wie sich Haushalte, aber auch Großverbraucher in der Wirtschaft darauf einstellen, dass beispielsweise um die Mittagsstunden der meiste Solarstrom anfällt.

Bereits 2030 könnte eine flexible Anpassung an den Stromverbrauch einer installierten Leistung von 20.000 bis sogar 50.000 Megawatt entsprechen, erwarten Energieforscher und die Bundesnetzagentur.

Die Größe der Zahl beeindruckt, sagt aber noch nicht viel darüber, wie viele Kraftwerke am Ende wirklich nicht gebaut werden müssen.

Denn hier geht auch um den Zeitfaktor. Wer das Laden des E-Autos aufschiebt, verschiebt seinen Verbrauch um Stunden. Ein flexibles Unternehmen könnte eine Anlage für Tage vom Netz nehmen. Vergrößern ließe sich der Effekt weiter, wenn sich kleine wie große Stromabnehmer zu virtuellen Kraftwerken zusammenschließen würden.

Wie viel Kraftwerkskapazität sich mit solchen flexiblen Verbrauchern einsparen lässt, ist nach Ansicht von Christian Rehtanz von der Technischen Universität Dortmund "extrem schwer abzuschätzen".

Zunächst gehe dabei nichts ohne Digitalisierung, betont der Chef des Energie-Instituts der Dortmunder TU. Nötig seien überall Haus-Energiemanagement-Systeme. Keiner stehe nachts auf, um sein Auto zu laden oder einen Ladevorgang zu beenden, erklärt Rehtanz. Erst wenn solche Prozesse massenhaft automatisch abliefen, ließen sich große Flexibilitäts-Potenziale erschließen.

Die Entscheidungen über flexible Verbräuche würden Haushalte künftig auch meist an einen Dienstleister, einen sogenannten Aggregator, abgeben, erläutert der Energieökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum. Diese Art von Dienstleistungs-Kontrakten werde es sehr bald geben, sagt Löschel voraus. Es sei auch viel besser, Flexibilitäten in größeren Einheiten zu heben.

Smartes Potenzial bleibt begrenzt

Flexible Tarife bedeuten letztlich auch, betonen die Experten, dass die Haushalte einen Teil ihrer Entscheidungsbefugnis abgeben und Netzbetreiber dann auch Verbraucher "abregeln" können, um extreme Verbrauchsspitzen zu verhindern und das Netz nicht zu überlasten.

Solche Spitzen können eintreten, wenn sich wegen niedriger Strompreise viele flexible Haushalte zugleich entschließen, den Stromspeicher zu laden oder die Wärmepumpe anzuwerfen.

Christian Rehtanz erwartet aber noch einen weiteren Flexibilitäts-Effekt: Entnehmen viele Haushalte zu Niedrigpreiszeiten Strom, steige die Nachfrage und damit der Strompreis. Das mindere wiederum die durch flexible Tarife erzielbare Kosteneinsparung.

Alle Projekte hätten bisher gezeigt, dass sich durch Flexibilität etwa zehn Prozent der Kosten sparen ließen, relativiert der Experte für Energiesysteme und Energiewirtschaft die aktuellen Versprechen der Werber für smarte Haustechnik.

Derzeit könne man schwer sagen, so Rehtanz, wie viele tausend Megawatt sich durch flexible Verbraucher von den Verbrauchsspitzen beim Strom "kappen" lassen. Sind es 20.000 oder 10.000 Megawatt oder nur 5.000? Auf eine konkrete Prognose lässt sich Rehtanz derzeit nicht ein. Es gebe zu viele Einflussfaktoren, gibt er zu verstehen.

Auch bei der Industrie ist das Potenzial offenbar begrenzt, durch Flexibilisierung den Bau neuer Kraftwerke einzusparen.

So sind die Prozesse beispielsweise in Zementwerken so eng aufeinander abgestimmt, dass das Herunterfahren einer Anlage sich sofort auf die anderen auswirkt. Damit das nicht eintritt, müssten Puffer geschaffen oder größere Maschinen hingestellt werden.

Um ein Zementwerk energetisch zu flexibilisieren, müsste man es am Ende "fast verdoppeln", sagt Rehtanz. Und das sei nicht wirtschaftlich, nicht einmal bei extrem hohen Strompreisen.

Alles in allem: Flexible Verbraucher können neue Kraftwerke überflüssig machen – in welchem Umfang, ist jedoch nicht klar.

Silodenken bisher nicht überwunden

Auch andere Backup-Optionen stehen eher noch auf dem Papier. Die ersten der sogenannten H2‑ready-Kraftwerke, die erst noch mit fossilem Erdgas laufen und später auf Wasserstoff umgestellt werden sollen, nehmen nach Regierungsplänen voraussichtlich erst 2028 den Betrieb auf.

Reine Wasserstoff-Kraftwerke könnten 2030 lediglich fünf bis knapp neun Prozent der nötigen Reserveleistung erbringen, ergab eine Auswertung von Daten der Netzbetreiber durch das Science Media Center in Köln.

Die Bundesregierung plant weiter auch mit sogenannten Biomethan-Spitzenlastkraftwerken. Von denen sollen 3.600 Megawatt neu gebaut werden. Nur hat sich für die Biogas-Kraftwerke in den letzten beiden Ausschreibungen kein Investor begeistern können. Stand des bisherigen Neubaus hier: null.

Zum einen wird es also mit dem Aufbau der Backup-Kapazität eng, zum anderen soll schon 2030 der Anteil der Erneuerbaren am Strommarkt bei 80 Prozent liegen.

Der Energiekonzern RWE hat aus der Lage offenbar schon seinen Schluss gezogen und bot jetzt an, zwei Braunkohleblöcke bis 2025 und damit länger laufen lassen als bislang geplant. Offizielle Begründung ist die Energiekrise, tatsächlich aber hat der Konzern die sich auftuende Lücke bei der Reserveleistung im Blick, gerade für den Winter.

 

Andreas Löschel kritisiert seinerseits, dass die Bundesregierung sich schon jetzt darauf festgelegt hat, die Kraftwerkskapazitäten ganz klassisch auszubauen. Der Energieökonom plädiert dafür, die verschiedenen "Backup"-Optionen, also auch Flexibilisierung und Speicher, in die Planungen einzubeziehen und alles integriert zu betrachten.

Löschel, auch Chef der Energiemonitoring-Kommission der Regierung, greift dazu die alte Forderung auf, in Deutschland einen Kapazitätsmarkt aufzubauen. Dort würden dann die "Backup"-Möglichkeiten gegeneinander antreten, also zum Beispiel Unternehmen, die flexible Verbraucher verwalten und Einsparung als Kapazität anbieten, gegen solche, die neue Kraftwerke bauen oder Speicher betreiben wollen.

Die Diskussion darüber werde nicht geführt, bedauert Löschel, bisher denke man im Strommarkt in Silos. Dabei wüssten wir tatsächlich nicht, wie die Zukunft aussieht, sagt er.

Jedenfalls wissen wir nicht, wie viele Kraftwerke wir künftig nicht brauchen.