Ein gehäufter Teelöffel Zucker vor schwarzem Hintergrund.
Noch ein Löffel? (Foto: Stuart Burford/​Shutterstock)

"Irgendetwas stimmt nicht mehr", sagte mein Nachbar neulich. Dies mulmige Gefühl teilt er mit vielen anderen. Die Menschen haben Sorgen. Sie spüren, dass die Welt aus den Fugen geraten ist und etwas getan werden muss. "Zeitenwende", ist klar. Aber was genau bedeutet das? Und wenn ja, für wen?

Wir schwanken zwischen den realen Bildern vom russischen Krieg in der Ukraine und den fiktiven Bildern vom Ersten Weltkrieg aus Hollywood. Erstere schockieren, letztere lassen jubeln. Dazwischen bleibt bloß Verunsicherung.

Verwundert reiben wir uns die Augen, wieso die Welt plötzlich inmitten eines fossilen Energiekriegs steckt. Wir fragen uns, wie nahezu an der Öffentlichkeit vorbei Deutschlands Gas-Abhängigkeit entstanden ist, ohne dass sie jemals ernsthaft thematisiert oder kritisiert wurde.

Verwirrt blicken wir auf ein gigantisches Artensterben. Jeden Tag verschwinden etwa 150 Tier- und Pflanzenarten von der Erde und kehren nie wieder zurück, bevor wir überhaupt begriffen haben, dass es sie gibt und wozu sie vielleicht nützlich sein könnten.

Erschrocken erleben wir erste Auswirkungen einer Klimakatastrophe, die ahnen lassen, wie sie in der Zukunft den Menschen die Lebensgrundlage nehmen wird.

Doch alle, die ihre Sorgen oder Ängste artikulieren und auf irgendeine Weise Veränderungen einfordern, werden entweder ausgelacht oder niedergebrüllt. Von Medien und Politik ernst genommen werden überwiegend nur diejenigen, die in zweifelhaften Initiativen jegliche Veränderung boykottieren.

Irgendetwas stimmt nicht mehr.

Dabei schien doch alles auf gutem Weg. Über 180 Staaten der Welt haben das Pariser Klimaabkommen von 2015 ratifiziert. Alle 27 EU-Staaten haben 2022 in Brüssel einvernehmlich den europäischen Green Deal ausgerufen. Nun geht es endlich los!

Doch als das EU-Parlament nach monatelangen Gesprächen jetzt einen Kompromiss für eine "Fit for 55"-Neuwagen-Regelung gefunden hat, tritt der deutsche Verkehrsminister so unvermittelt auf die Bremse, dass fast der ganze Green Deal ins Schleudern gerät. Dazu singt seine Partei einlullende Schlaflieder, dass alles so bleiben kann, wie es ist, und pustet uns mit "Technologieoffenheit" gefüllte Seifenblasen in die Zukunftsträume.

Leider geht auf diese Weise gar nichts los, sondern alles weiter wie gehabt: Es werden überflüssige Gasterminals gebaut, immer mehr Flächen versiegelt, illegal Waldgebiete gerodet – als würden uns die Folgen solcher Handlungen nichts angehen. Dabei zahlen wir schon jetzt irre viel Geld, und zwar nicht nur für horrende fossile Energiepreise.

Irgendetwas stimmt nicht mehr. Doch wo und was – und vor allem wieso?

Die Lobby kennt die Regeln der Medien

Was wir derzeit erleben, sind die schleichenden Folgen eines seit Jahren nebelhaft versprühten Gifts des Zweifels. Die fossile Lobby führt gezielte PR‑Kampagnen. Milliarden Petro-Dollar flossen in die Konzeption und Erprobung ausgeklügelter Begrifflichkeiten und Framings.

Porträtaufnahme von Claudia Kemfert.
Foto: Oliver Betke

Claudia Kemfert

leitet den Energie- und Umwelt­bereich am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW). Seit 2016 ist sie Mitglied im Sach­verständigen­rat für Umwelt­fragen, der die Bundes­regierung berät. In Beiräten und Kommissionen ist sie unter anderem für die EU-Kommission und für Forschungs­institute tätig. Sie ist Heraus­geber­rats­mitglied von Klimareporter°.

Deren einziges Ziel: Zweifel säen. Zweifel an Erkenntnissen. Zweifel an Wissenschaft. Zweifel an Frauen. Zweifel an der Zivilgesellschaft.

Denn Zweifel bremst jede Aktivität. Veränderung braucht Zuversicht. Wer sich nicht sicher fühlt, wagt keine Experimente. Wer Angst hat, bricht nicht auf.

Das Spektrum der Kampagnen reicht von Hass und Hetze in sozialen Medien bis hin zu subtilen Narrativen und Voreingenommenheiten gegenüber jeglicher sozial-ökologischer Veränderung.

Auf der bewährten Klaviatur von Werbung und Propaganda wurde der breiten Öffentlichkeit deswegen durch permanent wiederholte Grundmelodien beigebracht, Kohle, Öl und Gas brächten Wohlstand, Freiheit und Glück. Angebliche Nebenwirkungen seien kein Problem. Wer etwas anderes behaupte, sei Öko‑Aktivist oder neuerdings sogar "Klima‑Terrorist".

Und siehe da: Jeder investierte Euro der "Klimaschmutzlobby" zahlte sich aus. Die politisch interessierte, aber medial nicht geschulte bürgerliche Gesellschaft ließ sich verunsichern und will mit "solchen Leuten" lieber nichts zu tun haben – selbst wenn es die eigenen Kinder und Enkel sind, die nicht nur protestierend auf die Straße gehen, sondern sogar erfolgreich vor Gericht ziehen.

Unbemerkt sickert das sorgfältig angerührte Gift auch in die seriösen Medien ein – größtenteils ungewollt und selbst von kritischen Redaktionen unbemerkt. Knackige Wortschöpfungen und schlüssige Narrative werden selbst von geschulten Moderatorinnen und Moderatoren nicht mehr hinterfragt. Die Medien arbeiten ordentlich, aber die Lobby kennt ihre Regeln und ihre Arbeitsweise – und trickst sie aus.

Wissenschaft wird als bloße "Meinung" diffamiert

Unabhängige Medien legen Wert auf "Ausgewogenheit" und stellen einer "Meinung" gewöhnlich eine "Gegenmeinung" gegenüber. Also diffamiert man wissenschaftliche Erkenntnisse als "Meinung" und finanziert großzügig Studien mit scheinbar gegenläufiger Meinung.

Aus Sicht der Wissenschaft ist klar, dass bei solchen scheinbar widersprüchlichen Studien Äpfel mit Birnen verglichen werden, aber für wissenschaftliche Laien wirkt es wie ein fachlicher Disput. Auch noch so kritische Redaktionen haben für die komplizierte Fachsprache und die wissenschaftlichen Feinheiten nur selten Gespür. Und schon schnappt die Falle zu.

Das schleichende Gift der Desinformation wirkt. Aus Verunsicherung wird politische Lähmung und die fossile Industrie maximiert weiter ihr fossiles Kapital. Seit Jahrzehnten geht das nun schon so.

Dabei ist wissenschaftlich längst erwiesen:

Erneuerbare Energien sind unschlagbar billig. Erneuerbare Energien reduzieren den Strompreis an der Börse. Erneuerbare Energien helfen den Ausfall französischer Atomkraftwerke auszugleichen. Erneuerbare Energien reduzieren fossile Importe. Erneuerbare Energien liefern heimischen und resilienten Strom für Elektroautos und Wärmepumpen. Erneuerbare Energien sichern Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Klingt wie ein Werbespot der Erneuerbaren-Branche? Ist aber knochentrockene Wissenschaft.

Alle diese Fakten haben Sie nie gehört, sondern immer nur das Gegenteil? Genau das ist die Methode.

Der Klimawandel kostet allein in Deutschland eine Billion Euro, nicht der Klimaschutz. Auch dieser Fakt erstaunt Sie, weil Sie gerade das Gegenteil gelesen haben? Stimmt nicht, eben das ist die Methode.

Haben Sie gelesen, dass uns die energetische Gebäudesanierung angeblich eine Billion Euro kosten wird? Stimmt nicht, ist Methode. Fakt ist, dass die energetische Gebäudesanierung nicht nur Kosten verursacht, sondern diesen auch der Nutzen gegenübergestellt werden muss.

Wenn man das macht, ergeben sich maximale Kosten von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. So hat es eine jüngst veröffentlichte wissenschaftliche Studie ermittelt. Vermiedene Kosten durch weniger Klimaerwärmung und geringere Folgeschäden sind da noch nicht eingerechnet. Auch davon haben Sie nichts gehört? Sie ahnen es: Das hat Methode.

Irgendetwas stimmt nicht mehr, sagt mein Nachbar. Richtig – und ich kann Ihnen sagen, was: Es ist die gezielte Desinformation zum Nutzen der fossilen Industrie.

Raus aus dem Teufelskreis der Gespensterdebatten

Wir müssen endlich die Kurve kriegen. Wir müssen endlich raus aus dem Teufelskreis der Gespensterdebatten. "Listen to the science!", ruft die Jugend, und sie hat recht.

Es ist richtig, dass wir uns von fossiler Energie verabschieden. Es ist richtig, Gebäude besser zu dämmen, auf Hitze und Kälte einzustellen. Es ist richtig, alte Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen oder hybride Heizsysteme zu ersetzen. Und es ist richtig, dies mit gezielten Förderungen gerade für finanziell Schwache zu finanzieren.

Es ist richtig, den Bahnverkehr zu stärken, weniger "Stehzeuge" zu nutzen und stark auf Elektromobilität zu setzen, weil so der Energiebedarf deutlich gesenkt werden kann und so auch Kosten sinken.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrates in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Es ist richtig, weniger wertvolle Flächen zu versiegeln und bedrohte Arten zu schützen. Es ist richtig, möglichst wenig Fleisch und stattdessen mehr pflanzliche Nahrung zu verzehren.

All das wissen wir doch eigentlich alle längst. Wir lassen uns nur verunsichern. Das Gift des Zweifels ist Zucker für den Schweinehund.

Doch die Zeit der Ausreden ist vorbei. Denn wenn wir endlich vom Sofa runterkommen und gemeinsam anpacken, dann könnte bald alles wieder stimmig sein. Das wirksamste Gegengift zu den Lügen-Kampagnen der fossilen Industrie sind unser Wissen und vor allem unser Handeln. Ganz bestimmt.

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