Gar nicht rosig: Wärmepumpen gelten nun als Symbol einer Energiewende, die gesellschaftliche Auseinandersetzungen in neuer Schärfe auslöste. (Bild: Ralf Geithe/​Shutterstock)

Beginnen wir mit einer Schätzfrage. Aus welchem Jahr und von welchem Bundesministerium stammen diese Sätze? "Bislang ist die Energiewende allerdings in erster Linie eine Stromwende. Insbesondere im Wärme-, Gebäude- und Verkehrssektor hat die Energiewende noch nicht das nötige Tempo erreicht."

Die Auflösung: Dies schrieb 2019 das Bundeswirtschaftsministerium, damals noch unter Peter Altmaier (CDU). Zu finden ist diese realistische Einschätzung im zweiten Fortschrittsbericht zur Energiewende, der den Energiewende-Stand des Jahres 2017 wiedergab.

Dass sich die Energiewende im Wesentlichen hinter der Steckdose versteckte – diese Erzählung war in den letzten Jahren der großen Koalition überall zu hören. Was das aber wirklich bedeutet, stellt sich nun erst unter der Ampel-Koalition heraus.

Wenn er seine Energie- und Klimapolitik erklärt, zieht der aktuelle Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gern den Vergleich zu den Zeiten der großen Koalition. Wir kämen aus einer Zeit, in der Deutschland sich eingeredet habe, allein mit dem Beschluss, 2045 klimaneutral sein zu wollen, sei dieses Ziel schon erreicht – so beschrieb Habeck die Zustände unter der Groko jüngst beim Jahrestreffen der Erneuerbaren-Branche in Berlin.

Ampel will zweifach mit Groko-Erbe aufräumen

Damit habe die Ampel-Regierung in zweierlei Hinsicht aufgeräumt, fuhr Habeck fort. Zum einen habe sie am Anfang der Legislatur eine ehrliche Bilanzierung vorgenommen, im Stil einer "brutalen Härte".

Zum anderen müsse man, wenn Beschlüsse und Realität nicht zueinander passten, entweder die Beschlüsse ändern oder die Wirklichkeit – die Ampel stehe dafür, die Wirklichkeit zu ändern. Das markiere den Unterschied zur großen Koalition, setzte Habeck den Punkt.

 

Schaut man sich die Wirklichkeit zur bald erreichten Regierungs-Halbzeit der Ampel an, ist festzuhalten: Die Stromwende kommt tatsächlich schneller voran. Dafür sorgten zahlreiche Gesetzespakete – vor allem aber genießt der Ausbau von Wind- und Solarenergie jetzt den rechtlichen Vorrang eines "öffentlichen Interesses".

Und so werden in diesem Jahr in Deutschland mehr als 10.000 Megawatt Photovoltaik neu ans Netz gebracht – doppelt so viel wie 2021 und ein bis dato nie erreichter Zuwachs. Das nötige Klimatempo ist hier schon erreicht.

Schwieriger ist die Lage bei der Windkraft. Hier sollen in diesem Jahr um die 4.000 Megawatt hinzukommen. Diese von Habeck genannte Zahl übersteigt zwar den Ausbau des letzten Jahres um zwei Drittel, aber die ab 2025 nötigen 10.000 Megawatt jährlich liegen noch in weiter Ferne.

Zudem hat die Windbranche inzwischen die 4.000 Megawatt de facto für ungültig erklärt. Sie erwartet für dieses Jahr einen realen Zubau – bei dem die Stilllegungen herausgerechnet sind – von höchstens um die 3.000 Megawatt.

Politisches Kaliber der Wärme- und Verkehrswende unterschätzt

Von der Kanzler-Vorgabe, in Deutschland müssten täglich vier bis fünf Windräder errichtet werden, hat sich auch die Windbranche inzwischen verabschiedet. Als ein unerwartet großes Problem zeigt sich aktuell, dass fertige Anlagen beim Straßentransport immer häufiger im Stau stehen. Kurzfristig ist hier auch keine Abhilfe in Sicht, da kann Habeck noch so oft auf den visionär angedachten Transport auf dem Wasser verweisen.

Vor allem stellte sich in der ersten Ampel-Halbzeit mit recht brutaler Härte heraus, dass die Wärme- und die Verkehrswende ganz andere politische Kaliber darstellen als die Stromwende.

Die politischen Gräben, die sich um das Heizungsgesetz oder das Verbrenner-Aus auftaten, wurden dabei nicht nur von politischen Populisten aufgerissen. Klimaschutz versteckt sich heute eben nicht mehr hinter der Steckdose, sondern bricht in der eigenen Garage oder im Heizungskeller hervor und okkupiert den Geldbeutel. Das ist eine andere Qualität.

Wie stark die Ampel-Regierung diesen wichtigen Unterschied zur Stromwende unterschätzt oder ausgeblendet hat, darüber wird es noch jede Menge Debatten geben. Viel ärgerlicher ist, dass gerade auch Habeck seinem eigenen Imperativ – Beschlüsse ernst nehmen und die Wirklichkeit entsprechend ändern – inzwischen selbst nicht mehr folgt.

Wenn die Wirklichkeit nicht mehr passt, werden jetzt auch bei der Ampel die Beschlüsse geändert. Schlimmster Fall ist bisher die Reform des Klimaschutzgesetzes. Indem sie die Ziele für die Einzelsektoren wie Verkehr oder Gebäude aufgibt, kündigt die Regierung den bisher verbindlichen Klimaschutz auf, wie Umweltschützer zu Recht kritisieren.

Millionen Tonnen zu viel ausgestoßenes CO2 sollen in die Zukunft verschoben werden – bis im Jahr 2030 der Showdown droht.

Auch Habeck neigt inzwischen zum Schönrechnen

Wie seine Vorgänger im Amt lässt auch Habeck mittlerweile einen Hang zum Schönrechnen erkennen. So kalkuliert sein Ministerium in einem Hintergrundpapier: Mit dem reformierten Klimagesetz könne die Bundesregierung durch bereits erlassene oder geplante Klimaschutzmaßnahmen bis zu 80 Prozent der Klimaschutzlücke im Jahr 2030 schließen.

Robert Habeck erläutert an einem Balkendiagramm die bisherige und geplante Entwicklung der Treibhausgasemissionen in Deutschland von 1990 bis 2040.
Habeck, der als Erklärer mit "brutaler Härte" begann, kommt nun öfter in Erklärungsnot. (Bild: Screenshot/​Phoenix)

Die eindrückliche 80 hielt Habeck auch landauf, landab den Kritikerinnen und Skeptikern aus Klimabewegung und Öffentlichkeit entgegen – nach dem Motto: Was wollt ihr, wir sind doch auf einem Weg, das Klimaziel für 2030 zu erreichen.

Tatsächlich aber sind von den 80 nicht einmal 70 Prozentpunkte einigermaßen gesichert. So steckt in der 70 laut Habeckscher Rechnung etwa die Klimawirkung des alten Entwurfs zum Gebäudeenergiegesetz, das in den letzten Wochen praktisch neu geschrieben wurde – und in jetziger Fassung die Lebensdauer fossiler Heizungen auf Jahre verlängert.

Fragwürdig für die Klimabilanz sind auch der LNG-Boom, der Trick mit den "H2-ready"-Heizungen im Gebäudeenergiegesetz und nicht zuletzt die Tausenden Megawatt geplanter Backup-Kraftwerke für das künftige Stromsystem. Auch die nennen sich H2-ready und laufen trotzdem noch auf Jahre mit Erdgas statt mit grünem Wasserstoff.

Energiewende bleibt vor allem Stromwende

Dabei könnte die Ökostrombranche, wenn man sie denn richtig ließe, schon bald um die 25.000 Megawatt erneuerbare und regelbare Kraftwerksleistung erbringen, um die Zeiten, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, erneuerbar zu überbrücken.

Selbst über den enormen Aufschwung beim Solarstrom, an dem sich Klimaschützer gerade ein wenig berauschen, kann man nicht vollends glücklich sein. Denn je mehr sonnige Tage an der Strombörse über Stunden den Strompreis auf null drücken, desto mehr Betreiber großer frei finanzierter Solarparks beginnen sich zu fragen, wie sie unter solchen Umständen ihre Investition refinanzieren sollen.

Hohe Erneuerbaren-Anteile hinter der Steckdose sind schön und gut. Noch immer beschränkt sich die Energiewende aber auf eine Stromwende. Bei Wärme und Verkehr ist Deutschland, nimmt man die Realität zur Kenntnis, teilweise hinter die Startlinie zurückgefallen. Da warten wir noch auf die berühmte Initialzündung.