Mehrere hellgrüne Linienbusse warten neben- und hintereinander an einer Ampel.
Linienbusse in Shenzhen. (Bild: Enxyclo/​Unsplash)

Drei Überlegungen veranlassten Mitte der 2000er Jahre die chinesische Führung unter dem damaligen Staats- und Parteichef Hu Jintao, die E-Mobilität zu fördern: Das Land sollte unabhängiger von Ölimporten werden, die Luftqualität besonders in den Städten sollte sich verbessern. Obendrein bot die batterieelektrische Technologie – im Gegensatz zur Verbrennertechnik – die Chance für chinesische Unternehmen, Weltmarktführer zu werden.

2009 legte Chinas Führung dann einen Plan zur Elektrifizierung der Busflotte des Landes auf. Im Rahmen eines nationalen Demonstrationsprogramms wurden zehn Städte aufgefordert, drei Jahre lang mindestens jeweils 1.000 neue Elektrobusse in ihre Flotten aufzunehmen.

Erste Millionen-Metropole in acht Jahren elektrifiziert

Eine der ausgewählten Testregionen war die 20-Millionen-Metropole Shenzhen, Heimat vieler Tech-Unternehmen und zur damaligen Zeit eine der am meisten von Smog geplagten Städte Chinas.

Die meisten der über 900 Buslinien werden von einem der drei Staatsunternehmen Shenzhen Bus Group, Shenzhen Eastern Bus und Shenzhen Western Bus betrieben.

Eingeführt wurden die E-Busse in Shenzen in drei Etappen: 2009 kamen die ersten Elektrobusse zum Einsatz. Auf eine dreijährige Demonstrationsphase folgten ab 2012 kleinere Pilotversuche der Verkehrsbetriebe. Diese wurden ab 2015 auf die gesamte Flotte ausgedehnt.

Acht Jahre nach dem Start des Projekts war die gesamte Busflotte in Shenzhen elektrifiziert. Damit verfügte die Stadt 2017 als weltweit erste über eine vollelektrische öffentliche Busflotte aus über 16.000 batteriebetriebenen Fahrzeugen.

Die Elektrifizierung der Taxis verlief ähnlich rasant, Ende 2019 fuhren rund 21.500 Elektrotaxis und damit 99 Prozent der Flotte elektrisch. Auch Müllwagen und andere schwere Nutzfahrzeuge wurden elektrifiziert, wie die Weltbank in einer Studie zur Elektrifizierung des öffentlichen Verkehrs in Shenzhen aus dem Jahr 2021 festhält. Behördenfahrzeuge sind seit 2020 ebenfalls vollständig auf E-Antrieb umgestellt.

In weniger als einem Jahrzehnt gelang es der Stadt, ihre durchschnittliche Luftverschmutzung um 50 Prozent zu reduzieren. Unter den 20 größten Wirtschaftsmetropolen Chinas hält Shenzhen als einzige alle nationalen Standards für Luftqualität ein.

Shenzhen als Blaupause fürs gesamte Land

Das Shenzhen-Experiment diente als Blaupause für das ganze Land. Im Jahr 2021 waren knapp 60 Prozent der insgesamt etwa 700.000 Stadtbusse und Linienbusse aller chinesischen Städte rein elektrisch unterwegs, bis 2030 sollen laut Plan die 100 Prozent erreicht werden. In China sind derzeit mehr als 420.000 Elektrobusse im Einsatz, was etwa 99 Prozent der weltweiten Flotte entspricht. Zum Vergleich: In Deutschland haben gerade einmal 2,2 Prozent der öffentlichen Busse einen Elektroantrieb, laut E-Bus-Radar 2023 sind das 1.884.

In den drei Schlüsselbereichen zukünftiger Mobilität – Elektrifizierung des Verkehrs, autonomes Fahren und App-basierte Fahrtvermittlung – spielt China eine Pionierrolle und Shenzhen ist eine der Experimentierregionen.

Wie konnte China innerhalb weniger Jahre sowohl zum größten Verbraucher als auch zum größten Hersteller von Elektrofahrzeugen werden? Die Ökonomin Keyu Jin, die an der London School of Economics lehrt, hält die "Fähigkeit des Staates, kollektives Handeln im Dienste der Ziele der Nation zu mobilisieren" für einzigartig. Auch sei – das ist eine allgemein geteilte Überzeugung bei China-Expert:innen – eine "Kombination aus staatlicher Steuerung auf der Makroebene und Marktmechanismen auf der Mikroebene" entscheidend.

Technik und Fahrzeuge aus heimischer Produktion

China ist nicht nur der größte Markt für Elektrobusse, sondern gleichzeitig der größte Hersteller. 98 Prozent aller E-Busse weltweit werden nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hier gebaut.

Marktführer bei E-Bussen ist die Firma BYD, die kürzlich auch zum größten Elektroautohersteller der Welt wurde. Angefangen hat das in Shenzhen ansässige Unternehmen allerdings mit E-Bussen, 2011 kamen die ersten Modelle auf den Markt. Inzwischen hat BYD weltweit über 65.000 rein elektrische Busse und Reisebusse ausgeliefert.

Foto: Fabian Grimm

Timo Daum

ist Wissen­schaft­licher Mit­arbeiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Vor Kurzem ist sein Buch "Big Data China. Technologie – Politik – Regulierung" im Wiener Mandelbaum-Verlag erschienen.

Größter Hersteller in Europa ist Solaris aus Polen mit einer Auslieferung von rund 400 Elektro- und Wasserstoffbussen im Jahr 2021. Weitere europäische Hersteller sind Ebusco und VDL aus den Niederlanden.

BYD beherrscht zudem die gesamte Kette der Rohstoffversorgung. Der Konzern produziert nicht nur die Fahrzeuge, er besitzt auch Förderrechte für Lithium in Chile und baut die Akkus in seinen eigenen Batteriefabriken.

Die Akkus von BYD enthalten dem Unternehmen zufolge kein Kobalt, ein seltenes Metall, das wegen der fragwürdigen Förderbedingungen in Kongo in der Kritik steht. Zusammen mit der chinesischen Firma CATL ist BYD zudem Weltmarktführer bei E-Auto-Batterien.

Ausbau der Ladeinfrastruktur

BMW-Chef Oliver Zipse ist überzeugt: "Es wird 2035 in Europa keine flächendeckende Infrastruktur für Elektroautos geben."

In China dürften solche Einschätzungen wohl nur Kopfschütteln ernten. Dort ist der Ausbau der Ladeinfrastruktur Chefsache: 2022 hat die Volksrepublik 649.000 öffentliche Ladepunkte hinzugefügt, mehr als 70 Prozent der weltweit installierten Zahl. Die "China Charging Infrastructure Promotion Alliance" geht von einem weiteren deutlichen Wachstum aus, für 2023 werden 975.000 öffentliche Installationen prognostiziert.

Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es derzeit insgesamt 74.000 öffentliche Ladesäulen, wie dem Ladesäulenregister der Bundesnetzagentur zu entnehmen ist.

Wie sehr Ladeparks Alltag in Chinas Städten sind, beschreibt Jochen Stahnke in einer Reportage für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Am Rande der vierten Ringstraße liegt einer der größten Ladeparks der Stadt, mit sechzig Plätzen. Eine Tafel zeigt an, wie viele Steckplätze bald frei werden und wo ein Auto bereits vollgeladen, aber nur noch nicht abgefahren ist. Die Preise variieren nach Tageszeit. Allein Peking hat 7.700 Ladeparks mit insgesamt mehreren Hunderttausend Stromanschlüssen."

China elektrifiziert den globalen Süden

Chinas "Playbook" einer Elektrifizierung des heimischen Marktes für private und öffentliche Fahrzeuge gepaart mit dem Aufbau einer heimischen Industrie, die diese Entwicklung bedienen kann, ist attraktiv für andere Länder des globalen Südens. Die chinesische Industrie strebt an, das Modell zu exportieren, nicht nur nach Europa – wo Chinas größter Autobauer SAIC bereits nach einem Standort zur Elektroautoproduktion sucht. 

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Chinas green energy industry wird in den nächsten Jahren entlang der "Neuen Seidenstraße" und anderer Verbindungen auch versuchen, den globalen Süden zu elektrifizieren.

Im Visier ist der afrikanische Markt, so etwa in Nigeria, dessen Haupstadt es Shenzhen gleichtun will: Die Lagos Metropolitan Area Transport Authority (Lamata), die die größte Stadt Afrikas bedient, plant den Einsatz von 12.000 Elektrobussen in den nächsten sieben Jahren. Sie ist dazu eine Partnerschaft mit Oando Clean Energy eingegangen, einer Tochterfirma von Nigerias größtem Energieunternehmen Oando, die laut Vereinbarung auch die Finanzierung der Busse und Ladestationen übernimmt.

Die Busse werden vom chinesischen Nutzfahrzeugbauer Yutong geliefert und vor Ort montiert. Yutong mit Hauptsitz in Zhengzhou (Henan) ist neben BYD einer der größten Bushersteller der Welt und nach eigenen Angaben in fast allen afrikanischen Ländern vertreten. In Nigeria und Äthiopien verfügt Yutong über eigene Produktionsstätten.

Auch in der kenianischen Hauptstadt Nairobi wird die batterieelektrische Zukunft vorbeitet, dort werden demnächst elektrische Kleinwagen montiert. Im Juli dieses Jahres unterzeichneten das kenianische Elektrofahrzeugunternehmen Autopax und der chinesische Autohersteller SGMW eine Partnerschaftsvereinbarung für die Produktion günstiger Elektrofahrzeuge. Vor Ort soll Autopax das chinesische E-Auto-Modell Wuling Mini in Lizenz herstellen. In China ist der Wuling Mini eines der beliebtesten Elektroautos und kostet nur umgerechnet 5.000 US-Dollar.

 

China hat eine Industrie aufgebaut, die elektrische Fahrzeuge günstig und in großer Stückzahl liefern kann. Zudem ist das Land in der Lage, diese zu exportieren. In dieser Größenordnung können das Hersteller aus anderen Ländern nicht bieten. Zumal Europa eher mit neokolonial anmutenden Rohstoffdeals und E-Fuels-Abenteuern zu reüssieren versucht.

Der These der Umwelt- und Entwicklungsforscherin Hannah Ritchie von der Universität Oxford ist vermutlich zuzustimmen: "China könnte eines der ersten Länder sein, das den Massenbesitz an Verbrennern überspringt und direkt auf Elektrofahrzeuge umsteigt. Dies würde dazu beitragen, einen Weg für andere Länder mit mittlerem Einkommen zu ebnen, indem Elektrofahrzeuge für Erstkäufer auf der ganzen Welt erschwinglich werden."

Lesen Sie hier Teil 1: Deutschlands Stagnation und Chinas Dynamik bei der Dekarbonisierung des Verkehrs