Arbeitsgruppendiskussion beim Bürgerrat Demokratie 2019 in Leipzig.
Ganz unterschiedlichen Menschen zuhören, mit ihnen ins Gespräch kommen, das ist nicht einfach, aber es ist der einzige Weg. (Foto: Mehr Demokratie/​Flickr)

Als eine Reaktion auf die Studie "Grenzen des Wachstums" wurde 1992 auf dem "Erdgipfel" in Rio de Janeiro beschlossen, das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zu propagieren, um Kapitalismus mit Ökologie vermeintlich zu vereinen.

1995 begannen die jährlichen Weltklimakonferenzen und in ihrem Umfeld die Gegenproteste. Vernachlässigt wurde zunächst häufig, dass die eigentlichen Klimaschutzmaßnahmen lokal und national umgesetzt werden müssen. Außerdem dominierte die fossile Lobby die Konferenzen und setzte den Rahmen für völlig unzureichende Ergebnisse.

Ein Jahr nach dem desaströsen Weltklimagipfel 2009 in Kopenhagen fand 2010 das erste Klimacamp im Rheinland statt. Das Konzept zielte auf Vernetzung, schuf eine Ideenschmiede und legte den Grundstein für die heutige Klimabewegung.

Besonders die massiven Proteste im Hambacher Forst 2018 und die jährlichen Aktionstage des Bündnisses "Ende Gelände" trugen dazu bei, anhand eines konkreten Themas die Forderung nach Klimagerechtigkeit in das Bewusstsein der deutschen Linken und Progressiven zu tragen.

Ziel war, von der Zivilgesellschaft die nötige Radikalität einzufordern, die dem Ausmaß der Klimakrise gerecht wird. Eine Krise, die wir in Deutschland bis jetzt nur erahnen können, die aber für viele Menschen auf der Welt seit Jahrzehnten existenzbedrohend ist.

Diese Betroffenen forderten eine Klimagerechtigkeitsbewegung. Es geht darum, dass die Kämpfe und die Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus in grundlegender Verbindung mit den für die Klimakrise verantwortlichen Herrschaftsverhältnissen stehen.

Das Aufkommen der global agierenden Bewegungen Fridays for Future und Extinction Rebellion machte 2019 zum Jahr der Klimaproteste und verankerte das Thema Klima in der Tagespolitik.

Im Gegensatz zu den autonomen Bewegungen um den Hambacher und den Dannenröder Forst im Jahr 2020 schlugen die neuen Bewegungsgruppen wie Fridays for Future einen Kurs der Dialogbereitschaft ein.

Diese Diskursverschiebung innerhalb der Bewegung hin zur Appell- und Dialogpolitik und zum Kuschelkurs mit Parteien führen dazu, dass das kämpferische Momentum, das die Bewegung zu den Erfolgen gebracht hat, verblasst und sich Realpolitik breitmacht.

Zuletzt polarisierte der "Aufstand der Letzten Generation" als radikale Flanke die Bewegungsdebatten. Doch bietet diese Form der Radikalität keine ausreichende Lösung.

Wir brauchen ökologischen Klassenkampf

Die Klimakrise folgt aus sozialer Ungerechtigkeit und massiven Unterschieden in Machtverhältnissen. Könnten alle weltweit gleichberechtigt über fossile Energienutzung mitbestimmen, wären wir vermutlich nicht in einer Klimakrise, die zuerst für Menschen im globalen Süden existenzbedrohend ist.

Die Einhaltung einer 1,5-Grad-Grenze einzufordern, ist kein Schritt zu Klimagerechtigkeit, unter anderem, weil viele Staaten aus dem globalen Süden jahrzehntelang eine Ein-Grad-Grenze verlangt haben.

Der Begriff der 1,5-Grad-Grenze verkürzt die für viele Menschen schon lange existenzielle Frage der Klimakrise zu einer abstrakten, technischen Debatte, geleitet von Naturwissenschaften und Klimamodellen.

Er verschleiert zudem den Weg, wie wir die Klimakrise eindämmen können: Nur durch tiefgreifende soziale Veränderung können wir zusammen Lösungen erarbeiten, die alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit berücksichtigen und sich gegen die Interessen von Konzernen, Nationalstaaten und Milliardären richten, die das Problem verursachen.

Als Klimagerechtigkeitsbewegung müssen wir Gegenmacht aufbauen. Dafür müssen wir den Gerechtigkeitsaspekt für mehr Menschen im globalen Norden spürbar machen.

Wie sollen wir also weitermachen?

Wir müssen weg von leeren Worthülsen wie "Systemwandel" und "climate justice" auf Klimademos, bei Protesten oder Waldbesetzungen und hin zur Organisierung der gesamten Bevölkerung. Der Ruf nach Klimagerechtigkeit muss aus praktischen Initiativen begreifbar werden und dabei sowohl globale als auch lokale Verhältnisse berücksichtigen.

Carola Rackete

wurde als Kapitänin der "Sea‑Watch 3" bekannt, die Flüchtlinge im Mittelmeer aus Seenot rettete und trotz eines Verbots der italienischen Behörden den Hafen von Lampedusa anlief. Die Ökologin und Aktivistin veröffentlichte 2021 das Buch "Handeln statt hoffen".

Klimagerechtigkeit in Europa und weltweit bedeutet demnach auch, soziale Ungerechtigkeit und Klassenunterschiede abzubauen und klarzumachen, dass auch hier erhebliche Unterschiede in Konsum und Verantwortlichkeit für die Klimakrise existieren.

Es ist nicht nur grundsätzlich notwendig, soziale Gerechtigkeit einzufordern, aber gerade jetzt läuft die Klimagerechtigkeitsbewegung während der zweiten Invasion von Russland in die Ukraine Gefahr, noch weiter gegen arme Menschen ausgespielt zu werden, die unter steigenden Lebenshaltungskosten am meisten leiden.

Zu lange hat die Klimagerechtigkeitsbewegung es verpasst, aufzuzeigen und vorzumachen, wie Klimaschutz mehr soziale Gerechtigkeit im globalen Norden bringen würde. Doch spätestens jetzt ist es unabdingbar, Lösungen sichtbar zu machen, die sowohl sozial als auch ökologisch sind. Falls wir diese Chance vergeben, verspielen wir möglicherweise jede Chance auf Klimaschutz.

Rückzug ins Polit-Kloster verhindern – Basisarbeit machen

Innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung müssen wir klarstellen, dass es nicht darum geht, sich ein hübsches politisches Kloster zu bauen, in das nur die bereits Politisierten Zutritt haben. Gesellschaftliche Veränderung können wir nicht erreichen, wenn wir uns komplett aus der Gesellschaft in eine abgeschlossene Parallelgesellschaft zurückziehen und uns darauf fokussieren, die bereits Bekehrten noch stärker zu politisieren.

Die Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft ist sicher eine Herausforderung, sie ist aber ein essenzieller Bestandteil von Bündnisarbeit – und notwendig, um zu gewinnen.

Ja, wir wollen und müssen gewinnen, nicht einfach nur recht haben. Diese Organisierung für eine befreite, klimagerechte Welt können wir uns mit allen vorstellen, die die Realität im Kapitalismus als erdrückend empfinden.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung bezieht sich immer wieder solidarisch auf die Revolution in Nordostsyrien, in Rojava, ohne aber umsetzen zu wollen, was diese erfolgreich vorgemacht hat: immer wieder das Gespräch mit jeder einzelnen Familie in jeder Straße suchen, um sich gemeinschaftlich mit allen zu organisieren.

Das Radikalste also, was die Klimagerechtigkeitsbewegung machen kann, ist Basisarbeit an der Wurzel der Gesellschaft.

Wenn wir proletarisch-prekär geprägte Menschen vergessen oder sie aktiv aus unserer Politik ausschließen, weil sie nicht in unseren Lifestyle passen, können wir nicht weiterkommen.

Ein Beispiel: Es bringt nichts, gegen Autolärm im Berliner Regierungsviertel zu protestieren, während die meistbefahrenen und damit auch meistverschmutzten Straßen durch prekäre Viertel gehen.

Unsere Aktionen richten sich zu häufig nur an die jetzt Mächtigen und zielen auf Medienbilder ab. Doch wenn die Menschen, die vom Problem am meisten betroffen sind, in unserer Organisation weder bedacht noch einbezogen werden, dann können wir keine ernsthafte Gegenmacht aufbauen.

Umgekehrt gibt es auch positive Beispiele von Gruppen, die sich etwa mit Arbeiter:innen der Automobilzulieferer oder mit den Beschäftigten im ÖPNV für eine sozial gerechte Transformation einsetzen wollen.

Welche Radikalität brauchen wir?

Angesichts der immer weiter fortschreitenden Klimakatastrophe ist es verständlich, dass der Ruf nach radikaleren Aktionsformen immer lauter wird, denn Appell- und Dialogpolitik sind gescheitert.

Zurzeit diskutiert die Klimagerechtigkeitsbewegung vermehrt über Sabotage, wie sie in den 1980ern in der Friedensbewegung bereits umgesetzt wurde. Die "Letzte Generation" nutzt das Mittel der Sachbeschädigung erfolgreich für Medienaufmerksamkeit und bringt sich stark in die Position einer radikalen Flanke mit polarisierenden Aktionen.

Die Debatte um Sabotage wird jedoch teilweise geführt, als stelle sie eine magische Pille dar. Dabei verliert sie einen fundamental wichtigen Punkt aus den Augen:

Foto: privat

Janus Petznik

ist Klima- und No-Border-Aktivist. In der Bewegung ist er auch unter dem Namen Momo bekannt.

Eine Eskalation der Taktiken, in der immer weniger Menschen immer große Risiken eingehen, ist nur ein Teil der Lösung. Eine soziale Veränderung schaffen wir nur durch die Vielen, durch das Organisieren der Gesellschaft und eine Vielfalt von Beteiligungsformen.

Zwar sollen Aktionen gern polarisieren, doch dürfen wir insgesamt als Bewegung nicht den Bezug zur Gesellschaft verlieren. Denn ohne eine breite Zustimmung und eine zivilgesellschaftliche Radikalität wird es unmöglich sein, eine Veränderung der Machtverhältnisse herbeizuführen.

Um diese Vielfalt zu erreichen, müssen wir Klimaaktiven unsere Vorurteile gegenüber weniger Aktiven und auch unseren missionarischen Eifer ablegen, der andere soziale Probleme für unwichtig erklärt. Wir müssen auf einer respektvollen Ebene mit anderen ins Gespräch kommen und ein Verständnis dafür kultivieren, dass im Grunde alle Menschen Teil von gesellschaftlichen Verbesserungen sein wollen, auch wenn unsere Vorstellungen darüber weit auseinandergehen mögen.

Es ist richtig, Klimaverbrecher klar zu benennen und ihre Macht anzugreifen, aber dem Großteil der Gesellschaft müssen wir immer wieder die Hand zu Gespräch und Beteiligung ausstrecken und nach gemeinsamen Anliegen suchen.

Darüber können wir schon heute viel von anderen lernen: etwa von der Deep-Canvassing-Strategie der queeren Community in Los Angeles, von der Zusammenarbeit von NGOs und Ölplattformarbeiter:innen in Schottland oder vom Projekt "Larger Us" in Großbritannien.

Wir können uns dafür einsetzen, RWE und Wintershall Dea als größte deutsche fossile Unternehmen zu enteignen, Mietpreise zu deckeln und die Deutsche Wohnen zu vergesellschaften, wir können kostenlosen ÖPNV fordern, um Fahren ohne Fahrschein möglich zu machen, eine Reduktion der Wochenarbeitszeit, kostenlose Kinderbetreuung, Aufenthaltspapiere und demokratische Beteiligungsmöglichkeiten für alle in Deutschland lebenden Menschen.

Oder in den Worten von Chico Mendes: "Umweltschutz ohne Klassenkampf ist nur Gartenpflege."