Zwei Kinder der Asháninka im brasilianischen Regenwald sitzen in einem hohen Baumhaus und schauen herunter.
Zwei Kinder der Asháninka, eines der größten indigenen Völker Südamerikas. Seit mehr als einem Jahrhundert drängen Siedler, Holzfäller, Ölunternehmer und Agrarfirmen auf ihr Land und nehmen ihnen die Lebensgrundlagen. (Foto: Mike Goldwater)

Für die meisten weißen Menschen ist die Geschichte des Kolonialismus eine Nebensache und eine Sache der Vergangenheit. Aus der Schule werden sie in dem Glauben entlassen, die Eroberung des Planeten durch weiße Gesellschaften sei eine Geschichte des Erfolges.

Aber das stimmt nicht. Die Geschichte des Kapitalismus und der Moderne ist eine Geschichte, in der Menschen ausgebeutet, vertrieben, unterdrückt, versklavt und ermordet wurden und bis heute werden. Der Wohlstand westlicher Demokratien fußt auf der Ausbeutung von Menschen und der Zerstörung von Natur vornehmlich in Ländern des globalen Südens.

Auch wenn es im 19. und 20. Jahrhundert zur Entkolonialisierung weiter Teile Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und der Karibik kam, blieben viele der vom Kolonialismus aufgezwungenen Strukturen erhalten.

Diese "kolonialen Kontinuitäten" zeigen sich erstens darin, dass Reichtum und Besitz noch immer ungleich verteilt sind. Während weiße Menschen mehrheitlich in Wohlstand leben, kämpfen vor allem Indigene gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und Identitäten. Zweitens besteht die ethnische und geschlechtliche Stigmatisierung und Abwertung weiter.

Der Kolonisierung Amerikas folgte eine Zweiteilung einer hochkomplexen Welt. Eine binäre Weltsicht breitete sich über weite Teile des Globus aus: Kolonialherren herrschten über Kolonisierte.

Diese Unterteilung kannte meist nur zwei Seiten: männlich und weiblich, weiß und nichtweiß, entwickelt und unterentwickelt, kultiviert und unkultiviert, rational und irrational, wertvoll und wertlos.

Während weiße Menschen, vor allem weiße Männer, auf der "wertvollen" Seite standen, galten nahezu allen anderen Menschen als minderwertig oder gar wertlos.

Entdecken und zerstören

Die Einteilung fand vor allem auf drei Ebenen statt. Erstens wurden Geschlechter einem binären Überbau untergeordnet. Jede Selbstdefinition von Geschlecht und Geschlechtsidentität wurde damit ausgelöscht. Während die Männer als rational galten, wurden Frauen als emotional kategorisiert.

Zweitens fand eine sogenannte Rassifizierung der Menschen statt. Aufgrund äußerer Merkmale oder Zuschreibungen wurden Menschen in "weiß" und "nicht weiß" unterteilt. "Weiße" galten als überlegen, rational und zivilisiert, "Nichtweiße" hingegen als schwach, irrational und primitiv.

Drittens wurde eine Einteilung in wertvoll und wertlos zwischen den Menschen und der Natur vorgenommen. Die Natur wird dabei als kostenloses ökonomisches Gut betrachtet. Ökosysteme, Pflanzen und Tiere werden als etwas angesehen, das angeeignet, verbraucht und zerstört werden kann.

Dieser stark vereinfachte Blick in die Vergangenheit zeigt, wie über die letzten 500 Jahre ein ganzes Mosaik an Lebensformen und Individualitäten dem Patriarchat als Herrschaft des weißen Mannes untergeordnet wurde und wie das bis heute unser Denken prägt.

Zwei Beispiele dafür sind die angebliche Entdeckung Amerikas durch weiße Europäer und die Produktion von Wissen darüber, was der Natur und uns Menschen guttut.

Die Kolonisierung des amerikanischen Doppelkontinents nahm ihren Anfang im Jahr 1492, als das erste Schiff aus Europa mit dem "Entdecker" Christoph Kolumbus im heutigen Mittelamerika anlegte. Das war in gewisser Weise der Beginn der Zweiteilung der Welt. Dennoch gilt die Entdeckung Amerikas bis heute als eine Geschichte des Erfolges.

Im heutigen Amerika lebten jedoch schon lange vor Kolumbus Menschen. Die Erzählung von der Entdeckung ist also falsch und vom Eurozentrismus geprägt, einer Perspektive, in der die Welt aus einer europäischen und weiß-privilegierten Sicht erklärt wird.

Zu verstehen, dass wir Menschen auch schon vor Kolumbus und anderen europäischen Eroberern in Amerika gelebt haben, kann helfen, diese Denkmuster ausfindig zu machen.

Naturschutz ohne Menschen

Die Vereinten Nationen und die Weltnaturschutzunion IUCN wollen im Rahmen der UN-Biodiversitätskonvention 30 Prozent der gesamten Erdoberfläche – sowohl der Landflächen als auch der Meere – bis zum Jahr 2030 unter strengen Naturschutz stellen.

Dieser sogenannte "Global Deal for Nature and People" soll verhindern, dass die letzten noch vorhandenen intakten Ökosysteme der Zerstörung durch Menschen zum Opfer fallen. Er gilt als das größte Naturschutzprojekt, das je verwirklicht werden sollte.

Doch die Skepsis gegenüber dem Vorhaben ist groß, vor allem indigene Gemeinschaften üben deutlich Kritik daran. Diese fällt durchaus unterschiedlich aus und reicht von Forderungen nach vertraglich abgesicherten Schutzgebieten unter ihrer Verwaltung bis zur generellen Ablehnung von Naturschutzvorhaben durch westliche oder staatliche Akteur:innen.

Im Naturschutz zeigt sich immer wieder: Wird nach Lösungen gesucht, sind es meist solche, die Menschen und Natur trennen. Im Namen des Naturschutzes wurden indigene Gemeinschaften von Beginn an ihrer Lebensgrundlagen beraubt.

Ein Beispiel ist der erste Nationalpark der Geschichte, der 1864 gegründete Yosemite-Nationalpark. Vor und während der Durchsetzung dieses Vorhabens wurden dort lebende First Americans vertrieben und ermordet. Die Gebiete wurden zu einem quasi menschenleeren Raum erklärt, wo weiße Menschen jedoch unbeschränkt Gold abbauen konnten.

So geschieht es auch bei einigen Projekten der Naturschutzorganisation WWF. Ein aktuelles Beispiel ist das Schutzgebiet Messok Dja in der Republik Kongo.

Dort wurde ein vom WWF unterstütztes Schutzvorhaben ohne die nötige Zustimmung der ansässigen Gemeinschaften umgesetzt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kam es daraufhin zu "grausamer Gewalt und Missbrauch durch Ranger".

Weitere Beispiele in Indien oder Nepal lassen ein strukturelles Problem beim WWF beziehungsweise bei Einrichtung und Management von Naturschutzgebieten erkennen.

Elementare Menschenrechte werden verletzt

Diese Vorgänge lassen sich in das Phänomen des Green Grabbing einordnen. Es entstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Grünen Ökonomie.

Nach der Logik der Profitsteigerung werden dabei natürliche Ressourcen und Lebensräume in den Markt eingegliedert und bekommen einen ökonomischen Wert. So dürfen Indigene in Schutzgebieten beispielsweise nicht mehr für ihren Lebensunterhalt jagen.

Doch die Trennung von der Natur gilt nicht für alle. Während indigene Gemeinschaften für Naturschutzprojekte aus ihren angestammten Gebieten vertrieben werden, wird der Ökotourismus gefördert. Menschen mit entsprechenden finanziellen Mitteln können sicher sein, zum Spaß auf Jagd gehen zu können.

Neben der Vertreibung kommt es häufig auch zu schlimmen Menschenrechtsverletzungen an indigenen Menschen. Misshandlungen, Gruppenvergewaltigungen und Mord sind Praktiken, die genannt werden müssen und die von Menschenrechtsorganisationen wie Survival International seit Jahren dokumentiert werden.

Die Befürchtungen indigener Gemeinschaften sind danach mehr als berechtigt, wenn sie davor warnen, dass auch der "Global Deal for Nature and People" wieder zu dazu führen wird, dass sie ihre Lebensräume aufgeben müssen und dass ihre Menschenrechte verletzt werden.

Während sich die Debatten um Klimaerhitzung und Ökosystemzerstörung richtigerweise auf wissenschaftliche Erkenntnisse beziehen, bleibt indigenes Wissen meist außen vor. Sogenanntes Traditional Ecological Knowledge findet in westlichen Diskursen zu wenig Beachtung.

Es sind Indigene, die die letzten verbliebenen intakten Ökosysteme der Erde aufrechterhalten. Zerstört werden diese Ökosysteme überall dort, wo Konzerne des globalen Nordens tätig werden.

Um nur einige Zahlen zu nennen: Zwischen 1970 und 2016 sind zwei Drittel der an Land lebenden Wirbeltierarten verschwunden, in den subtropischen Gebieten Nord- und Südamerikas schrumpfte die Wirbeltiermasse auf ganze sechs Prozent. In Deutschland ist die Biomasse fliegender Insekten zwischen 1989 und 2014 um drei Viertel zurückgegangen.

Indigenes Wissen und Landrechte anerkennen

Um diese Entwicklungen aufzuhalten und im besten Falle umzukehren, ist es unumgänglich, dem Wissen und den Praktiken indigener Gemeinschaften und Völker den Raum zu eröffnen und als Europäer:innen zurückzutreten, zuzuhören und zu lernen.

Schließlich befinden sich 80 Prozent aller noch existierenden Tier- und Pflanzenarten in indigenen Gebieten, obwohl diese Territorien nur noch ein Viertel der Landfläche des Planeten ausmachen.

Wenn es uns damit ernst ist, die planetaren Lebensgrundlagen zu schützen und einen sozialen und ökologischen Kollaps zu verhindern, müssen zuallererst die Staaten und Konzerne aus dem globalen Norden grundlegend umdenken. Das bedeutet jedoch nicht einfach nur, den indigenen Stimmen mehr Beachtung zu schenken.

Es bedeutet erstens, dass den indigenen Gemeinschaften der Erde die Federführung beim wohl größten Vorhaben der Menschengeschichte, der Bewältigung der Klimaerhitzung und des Massensterbens der Arten, übergeben werden muss. Zweitens muss unverzüglich die Anerkennung der Souveränität indigener Gemeinschaften und die Rückgabe ihrer geraubten Lebensräume erfolgen.

Tino Pfaff
Foto: XR

Tino Pfaff

Der Sozial­arbeiter und Sozial­pädagoge ist im Presseteam von Extinction Rebellion Deutsch­land aktiv. Zurzeit studiert er Gesellschafts­theorie an der Universität Jena. Unter anderem ist er Mitglied von Amnesty International und dem Flüchtlings­rat Thüringen.

Die von indigenen Gemeinschaften getragenen Schutzgebiete, die sogenannten ICCAs, zeigen, dass auf diese Weise organisierter Naturschutz ein Schlüsselelement zur Erhaltung der biologischen Vielfalt ist.

Die Praktiken und das Wissen sind dabei so reichhaltig wie die Zahl indigener Völker auf der Erde. Die weltweit etwa 5.000 indigenen Völker mit zusammen rund 450 Millionen Menschen sind alles andere als eine homogene Gruppe.

Um nur einige bekanntere zu nennen: die Aborigines in Australien, die Native Americans und die Inuit in Nordamerika, die Tuareg in den Sahara-Staaten, die Ainu in Japan, die Adivasi in Indien, die Maori in Neuseeland oder die vielen verschiedenen indigenen Völker im Amazonasregenwald, wie die Kichwa.

"Naturschützer scheinen zu glauben, dass nur Außenstehende sich um die Natur kümmern wollen und sie effektiv schützen können", sagt Charles Jones Nsonkali von der Baka-Organisation Okani in Kamerun. "Aber für mich ergibt das keinen Sinn."

Nsonkali fragt: "Wer wird sich mehr um die Natur kümmern als diejenigen, die sie ihr Zuhause nennen und für ihr Überleben auf sie angewiesen sind? Wer versteht besser, wie man sich um die Natur kümmert, als jemand, der jeden Tag seines Lebens durch den Wald läuft und jede Pflanze, jeden Baum und jedes Tier kennt?"

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