Als die Klimabewegung 2018 "Systemwandel statt Klimawandel" forderte, fühlt es sich so an, als ob sie nicht mehr zu stoppen wäre. Aus den staubigen Feldern im Angesicht des Hambacher Forstes wuchs das Gefühl, dass "wir es schaffen können" und wirklich "unstoppable" sind.
Die ersten Klima-Streiks 2019 trugen und nährten dieses Gefühl. Schüler:Innen demonstrierten entschlossen und bestreikten die Abläufe der Normalität, statt zu Schule zu gehen. Das unmöglich Geglaubte erschien am Horizont: die Überzeugung, dass wir dem Klimawandel wirklich etwas entgegensetzen.
Die Covid-Pandemie sorgte für einen herben Rückschlag der Bewegung. Nach zwei Jahren Corona und dem erneuten Angriffskrieg auf die Ukraine durch Russland ist es ein Erfolg, dass die Klimagerechtigkeits-Bewegung immer noch da ist.
Doch die politische Lage hat sich verändert. Die Voherrschaft des Spätkapitalismus gerät ins Wanken, die Lebensmittel-Inflation liegt in Deutschland bei bis zu 20 Prozent, mit dem Krieg in der Ukraine kommt es zu einer Verschiebung des Narrativs über fossile Brennstoffe.
Wie also weitermachen? Wo ist die Energie, mit der wir gestartet sind? Wie können wir unter sich ständig verändernden Umständen arbeiten? Für uns gilt: Veränderte Umstände verlangen neue Taktiken.
Soziale Gerechtigkeit und Klimawandel sind untrennbar miteinander verbunden. Auf dieser Grundlage können wir neue Wege gehen und Beziehungen aufbauen.
Das Ziel ist eine Bewegung, die sich aus der breiten Bevölkerung organisiert und den Status quo infrage stellt. Es geht darum, als organisierte, resiliente Struktur die herrschende Klasse herauszufordern. Eine vereinte Bewegung, die den Fokus auf die Gegenmacht der Zwischenmenschlichkeit legt, ermöglicht uns den Widerstand gegen die kapitalistische Normalität.
Aber wie organisieren wir uns in diese Richtung?
Ein Sprung ins organisierte Ungewisse
Unsere These: Es ist wichtig, dass wir uns von der alten marxistischen Analyse trennen, die auf Wachstum beruht, weil die Klimakrise nicht als Variable einbezogen ist. Stattdessen brauchen wir einen gesellschaftlichen Diskurs, eine Debatte mit den Vielen, um gemeinsam die Probleme der Gesellschaft zu erkennen.
Payal Parekh
ist eine internationale Klimaaktivistin mit breiter wissenschaftlicher Expertise. Seit ihrer Jugend engagiert sie sich für Ökologie und Menschenrechte. Payal Parekh hat einen Doktortitel in Klimawissenschaften und Meereschemie vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Woods Hole Oceanographic Institution, beendete aber ihre Forschungsarbeit und war in Führungspositionen bei internationalen Umweltorganisationen und in Basisbewegungen tätig. Parekh ist in Indien geboren und lebt in der Schweiz.
Wenn wir die Klimakrise weiterhin als ein Umweltproblem und nicht als Problem der Wirtschaftsform und der Machtverteilung betrachten, werden wir die Mehrheit der Bevölkerung nicht überzeugen können. Ohne sie werden wir diese Krise nicht überwinden. Denn der Klimawandel konfrontiert die Menschheit mit einer intersektionalen Krise nie dagewesenen Ausmaßes.
Eine neue gemeinschaftliche Analyse würde es uns ermöglichen, soziale Probleme und entscheidende Momente frühzeitig zu erkennen und Kampagnen mit praktischen Lösungsvorschlägen zu führen, um langfristig eine politische Verschiebung nach links zu erreichen.
Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass viele Menschen im kapitalistischen Alltag hart kämpfen, mit prekären Arbeitsverhältnissen und Care-Arbeit, Inflation und dem Abbau des Sozialstaats.
Indem wir Verständnis und Unterstützung für die täglichen Herausforderungen aufbauen, füllen wir das Wort Solidarität mit Leben und bauen eine Organisation der Gemeinschaftlichkeit auf, also einen Zusammenschluss der Vielen, um darüber einen persönlichen und politischen Mehrwert zu schaffen. Die aktive Organisierung anhand systemischer Probleme eröffnet die Aussicht das herrschende System bei der Wurzel zu packen und gemeinsam Lösungen zu erkämpfen.
Ein wichtiger Bestandteil ist dabei die Analyse der bestehenden Ungerechtigkeits- und Diskriminierungsstrukturen, die unsere Gesellschaft formen. Die patriarchal-kapitalistische Hegemonie sollte Grundstein der Problemanalyse sein. Dabei darf uns die Formulierung einer Utopie nicht im Weg stehen oder zur Verklärung gesellschaftlicher Gruppen als revolutionäres Subjekt führen. Für eine praktische und spürbare Verbesserung brauchen wir eine starke Analyse.
Gerechtigkeit ist kein Extra
Die Folgen der Klimakrise sind zum Alltag im globalen Süden geworden und auch im Norden spürbar. Die 1,5‑Grad-Grenze wird mit 66-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 2023 und 2027 überschritten. Überall sind wir mit zerstörerischen Folgen konfrontiert, die uns mahnen: Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Die Wachstumserzählung des Kapitalismus ist tief verwurzelt in unserem Verständnis von Arbeit und gesellschaftlichem Zusammenleben. Heute kann das soziale Subjekt einen Mehrwert vor allem durch Konsum und Status gewinnen, der wiederum durch Arbeit erworben wird. Das bedarf einer grundsätzlichen Veränderung.
Das kollektive "Wir" muss das sein, worüber wir uns definieren. Wir müssen den Kausalzusammenhang von Konsum/Wachstum und gesellschaftlichem Status auflösen und dem Individuum eine neue Identität ermöglichen. Durch eine resiliente Gemeinschaftlichkeit wird ein Mehrwert für alle möglich. In einem solchen Raum können wir wieder Hoffnung schöpfen.
In den letzten Jahren hat sich die Klimabewegung massiv mobilisiert und teilweise ein kollektives "Wir" definiert – zu den Highlights gehörten Ende-Gelände-Blockaden mit 5.000 Menschen, die Fridays-for-Future-Demos mit bis zu 1,4 Millionen Teilnehmenden oder Lützerath im vergangenen Januar.
Janus Petznik
ist Campaigner und Netzwerker für die deutsche Klimagerechtigkeitsbewegung. Er konzentriert sich auf den Aufbau von Kristallisationspunkten des Protests wie im Hambacher Forst oder zuletzt in Lützerath. Zurzeit arbeitet er vor allem am Aufbau alternativer Strukturen zur kapitalistischen Normalität. In der Bewegung ist er auch unter dem Namen Momo bekannt.
Jedoch gibt es größere Gruppierungen und gesellschaftliche Schichten wie Arbeiter:innen und Migrant:innen, die meist fehlen oder unsichtbar gemacht werden, egal ob auf der Demo, bei der Aktion, der Lobbyarbeit oder im Gemeindeengagement.
Wir stellen fest: Wir werden sie nur erreichen, wenn wir einen Weg finden, der vom reinen Mobilisieren wegkommen kann und bereit ist, "Deep Organizing" und "Community Organizing" umzusetzen.
Beim Community Organizing geht es darum, dass Leute aus dem gleichen Viertel zusammenkommen, um gemeinsam Lösungen zu einem Problem zu fordern. Dadurch lernen Menschen, Verantwortung zu übernehmen und politische Werkzeuge zu nutzen.
Ein Beispiel ist die Kampagne "Ghar bachao, ghar banao" (Rette das Haus, baue das Haus). In Mumbai forderten Slumbewohner:innen, die fast 50 Prozent der Stadt ausmachen, dass ihre Häuser nicht zerstört und die Dienstleistungen in den Slums verbessert werden.
In Irland entschied sich eine Mehrheit der Bevölkerung, zwischen 2014 und 2016 ihre Wasserrechnung nicht zu bezahlen, da die Trinkwasserversorgung zuvor steuerfinanziert war. Im Jahr 2021 hat die Regierung die Wasserrechnungen schließlich annulliert.
Eine weitere solche Bewegung in jüngster Zeit, in der Soziales und Klima zusammen gedacht werden, ist "Deutsche Wohnen & Co enteignen".
Unser entscheidender Vorteil ist People Power. Wenn wir diesen Vorteil nutzen wollen, müssen wir mehr Menschen aktivieren. Organizing, also die gezielte organisierte Ermächtigung der Gesellschaft, erfordert einen komplett neuen Ansatz und jede Menge Einsatz.
Es erfordert, dass wir intensive Gespräche mit Leuten in ihrem Viertel oder an ihrem Arbeitsplatz führen. Hauptsächlich geht es darum, zuzuhören. Welche Probleme haben sie, was sind ihre Bedürfnisse und Wünsche, wie sieht ihr Alltag aus? Was ist Ihre Vision für eine klimafreundliche Zukunft?
Ein besseres Verständnis ihrer Situation ermöglicht es, die Verbindungen zum Klima zu ziehen. Was bedeutet es, dass es keine Alternative zum Auto gibt, obwohl Benzin teurer wird? Was passiert, wenn Familien ihre Wohnungen besser isoliert haben möchten, um die Heizkosten im Winter zu senken, aber die Vermieter:innen nicht bereit sind zu investieren?
Anhand praktischer Probleme können Kampagnen gemeinsam konzipiert werden, dadurch entsteht Vertrauen. Obwohl Organizing Zeit beansprucht, ist es unserer Ansicht nach der schnellste Weg zu einer gesellschaftlichen und klimatischen Wende.
Weder das Ausblenden noch das Ignorieren der Arbeiter:innenklasse hat bisher funktioniert, um echte Klimagerechtigkeit und einen Systemwechsel zu erreichen. Erst eine breite Bewegung ermöglicht es, unseren Vorteil auszudehnen. Es ist eine Grundvoraussetzung, um neue Taktiken zu entwickeln. Je diverser eine Gruppe ist, desto kreativer und findiger ist sie, da sich ihre Blickwinkel vermehren.
Ein Myzel der Veränderung
Um erfolgreich zu sein, müssen wir verstehen, dass es nicht nur eine einzige richtige Theorie des Wandels gibt. Es gibt auch nicht nur eine richtige Strategie, um einen ökologischen und sozialen Wandel zu erzeugen.
Wie in einem Theater oder in einem Ökosystem gibt es verschiedene Rollen. Alle werden gebraucht, wie Protagonist:in und Antagonist:in. In einem Theaterstück lässt sich ein Dissens austragen, und nur gemeinsam in unserer Unterschiedlichkeit erreichen wir etwas.
Wenn wir glauben, dass unser Weg durchdachter und wichtiger ist als ein anderer, zeigt das bestenfalls, dass unser Verständnis vom Wandel schwach ist, und schlimmstenfalls, dass wir arrogant sind.
Das Ayni Institute in den USA, das Organizing-Schulungen durchführt, hat fünf Strategien identifiziert, um einen Wandel zu erreichen: Alternativen schaffen, persönliche Transformation, strukturiertes Organizing, Massenproteste und Lobbying. Obwohl ziviler Ungehorsam wichtig ist, brauchen wir auch die anderen Strategien und Rollen.
Als Klimabewegung sind wir Teil eines größeren Gewebes und verbunden mit verschiedenen Gruppen, Organisationen und Institutionen, die wie wir für einen sozialen Wandel kämpfen. Wie können wir erreichen, dass unsere Aktivitäten mit denen unserer Mitstreiter:innen synergistisch zusammenwirken, sodass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist?
Wir können nur gemeinsam erfolgreich sein, wenn wir eine Palette unterschiedlicher Taktiken und Strategien haben und diese auch ausspielen.
In der Klimakrise gibt es kein statisches revolutionäres Subjekt. In der Phase, in der die Klimabewegung gerade ist, ist es wichtig, anderen Widerstandskulturen zuzuhören und daraus neue Schlüsse für die hiesige Gesellschaft zu ziehen.
Die Klimakrise verlangt von uns ein agiles Handeln, eine schnelle Reaktionsfähigkeit – die wir in den Schubladen der bisherigen Taktiken in Deutschland nicht finden werden.
Ein Beispiel. Während des Pinochet-Regimes in Chile hatten Bergarbeiter:innen einen Streik geplant. Die Regierung ging gewaltsam dagegen vor und schickte Polizei und Militär zur Grube. Es war klar, dass bei einer direkten Konfrontation viele Menschen sterben oder verhaftet werden würden.
Stattdessen schmiedeten die Organisator:innen auf die Schnelle einen neuen Plan – sie verlagerten ihren Protest auf die Autobahn. Unterstützer:innen des Streiks verursachten Staus, indem sie betont langsam fuhren und Autobahnen verstopften. Die Polizei konnte nichts dagegen tun.
Der langsame Marsch von Just Stop Oil in Großbritannien oder auch die Aktionen der Letzten Generation folgen einem ähnlichen Prinzip.
Die indische Sozial- und Umweltaktivistin Medha Patkar hat viele Kämpfe gewonnen, weil sie weiß, wie man ein Dilemma für die Regierung und die Unternehmen schafft. Die Situation muss unhaltbar werden, damit Entscheider:innen gezwungen sind, eine klare Entscheidung zu treffen.
Wenn wir von der Vorstellung ausgehen, dass wir als Bewegung ein Widerstands-Myzel sind, gilt es zu analysieren, wo unser Machthebel ist und welcher nächste Schritt Sinn ergibt. Wir müssen flexibel und vorausschauend agieren, die Hebel suchen, die uns zur Verfügung stehen, und alles daransetzen, den Status quo zu verändern.
Ganz praktisch: Wie werden wir kreativer und agiler? Es gibt eine Menge Bewegungen in der ganzen Welt, von denen wir lernen können. Ebenso lässt sich von neuen, kreativen Methoden, die aus Theater und Kunst stammen, etwas abgucken. Wenn das Ziel der letzten Aktion Medienaufmerksamkeit war – wie würde sie aussehen, wenn das Ziel wäre, Leute vom Stadtrand zu mobilisieren?
Agiles Handeln kann gelernt werden. Wenn wir regelmäßig zurückschauen, können wir auswerten, was gut und was weniger gut lief und ob die Rahmenbedingungen sich geändert haben, und unsere Strategie der neuen Situation anpassen.
"In einem fahrenden Zug kann man nicht neutral bleiben", schrieb der US-Historiker Howard Zinn. Wir müssen den Zug in Bewegung setzen. Es liegt an uns, welchen Weg wir gehen möchten, aber es sollte immer ein ergebnisoffener Weg mit dem Mut für Neues sein.
Mit einer solchen Einstellung können wir die Krise, in der die Bewegung gerade steckt, als Chance begreifen, denn wir haben nicht weniger zu gewinnen als eine neue Welt.