Weiß gekleidete Ende-Gelände-Aktivisten sitzen auf Baumaschinen, davor liegen Erdgasrohre.
Bei der Besetzung der LNG-Baustelle in Wilhelmshaven am vergangenen Freitag wurden auch Sachen beschädigt. (Foto: Fabian Steffens/​​Flickr)

Am Freitag um fünf Uhr morgens regt sich schon einiges im "System Change Camp" in Hamburg-Altona. Menschen kommen aus ihren Zelten, verlassen das Camp in unterschiedliche Richtungen und treffen sich an verschiedenen Orten in der Stadt, um mit Bussen zur Baustelle des Flüssigerdgas-Terminals bei Wilhelmshaven zu fahren.

Die Strategie funktioniert. Die Polizei ist unvorbereitet, sie hatte sich stattdessen bei einer ähnlichen Baustelle bei Stade positioniert. Vor Ort geht alles sehr schnell: Kaum aus dem Bus ausgestiegen, formieren sich die Aktivist:innen in weißen Anzügen zu einem Zug, die Baustelle wird besetzt – und Maschinen werden beschädigt.

Auf Baggern, Maschinen und Pipelinerohren verteilen sich die Aktivist:innen des "grünen Fingers" vom Klimagerechtigkeitsbündnis "Ende Gelände". Die Arbeiter schalten ihre Maschinen ab, teils verwirrt, teils froh über eine Pause. Einige holen ihre Brotzeit raus, setzen sich in den Schatten, machen Musik an.

Auf der nun besetzten Baustelle werden die sieben Tonnen schweren Rohre gebogen und gelagert, damit ist sie ein wichtiger Drehpunkt der Gasinfrastruktur in Deutschland.

Das neue LNG-Terminal in Wilhelmshaven ist einer von rund einem Dutzend Flüssigerdgas-Umschlagplätzen, mit denen die Bundesregierung die Unabhängigkeit von russischem Erdgas erreichen will. "Ende Gelände" kritisiert, dass hier eine enorm klimaschädliche fossile Infrastruktur ausgebaut wird. Darüber hinaus möchte das Bündnis aber auch einen damit einhergehenden Neokolonialismus skandalisieren.

Schon vor zwei Jahren hatte "Ende Gelände" sein bisher einziges Ziel – den Kohleausstieg – erweitert und im Rheinland neben Braunkohle-Anlagen auch ein Gaskraftwerk und die Baustelle der Erdgas-Fernleitung Zeelink besetzt. Letztes Jahr blockierte das Bündnis in Brunsbüttel erstmals eine LNG-Terminal-Baustelle.

Dieses Jahr ist das Streitthema Flüssigerdgas durch den Angriffskrieg auf die Ukraine noch viel wichtiger geworden. "Ende Gelände" positioniert sich da sehr klar: "Dass Erdgas nicht klimaschädlich sei, ist eine dreiste Lüge", sagt Sprecherin Sina Reisch.

Kritisiert werden nicht nur umweltschädliche Gewinnungsmethoden wie Fracking. Vor allem in Ländern des globalen Südens geht die Förderung von Erdgas oft mit Menschenrechtsverletzungen einher. Die Klimabelastung ist durch den Methanausstoß erheblich, Umweltorganisationen verweisen auf die unvollständige Erfassung der Emissionen.

"Block the system"

In Hamburg geht es am Samstag weiter. Gleich 2.000 Menschen ziehen morgens in einer Demonstration zum Bahnhof Altona. Dort teilen sie sich in einen pinken, lila und goldenen "Finger" auf, wie die unterschiedlichen Züge genannt werden, die sich unter massiver Polizeibegleitung durch die Stadt bewegen.

Auf verschiedenen Wegen besetzen die Finger mehrere Schienenabschnitte und Zufahrtsstraßen zum Hamburger Hafen, der für die Aktivist:innen für den Zusammenhang zwischen fossiler Industrie in Deutschland und kolonialer Ausbeutung im globalen Süden steht.

Vor Ort sind auch viele internationale Aktivist:innen, die in Reden und im Camp bei Veranstaltungen auf die neokoloniale und rassistische Ausbeutung aufmerksam machen, die mit der Klimakrise einhergeht. "Fight neocolonialism – block the system", steht auf dem Fronttransparent des pinken Fingers.

Die Polizei reagiert mit Repression. Viele Aktivist:innen, Sanitäter:innen, aber auch Journalist:innen und parlamentarische Beobachter:innen berichten später über Polizeigewalt. Beim lila Finger, der die Kattwyck-Hubbrücke blockiert, setzt die Polizei Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray ein.

Die Polizei Hamburg erklärt, sie sei aus der Demonstration heraus mit Pfefferspray angegriffen worden, kann das aber nicht belegen. Medienberichte legen nahe, dass Polizist:innen das Reizgas gegen den Wind gesprüht haben und vom eigenen Pfefferspray getroffen werden.

In einem Statement weist die Hamburger Polizei "jegliche Fakenews zurück", räumt aber ein, dass "die Aerosolwolke in dynamischen Situationen auch Auswirkungen auf Einsatzkräfte" entfalte.

Nicht mehr nur Blockade

Bei der Aktion des grünen Fingers am Freitag in Wilhelmshaven hängen die Aktivist:innen nach der Erstürmung der Baustelle Banner an Maschinen. Dann machen sie es sich auf, in und unter den Erdgasröhren gemütlich.

Plötzlich ist ein Klirren zu hören, als mit Steinen gezielt die Scheinwerfer von Geräten zerstört werden. Auch die Reifen eines Lkws und Abdeckungen von Erdgasröhren werden beschädigt.

Sachbeschädigung ist damit zum ersten Mal Teil einer Aktion des "Ende Gelände"-Bündnisses, das in seinem diesjährigen Aktionskonsens den entscheidenden Satz festgehalten hat, dass "wir klimaschädliche Infrastruktur auch über unsere Präsenz hinaus außer Betrieb nehmen können".

Das Bündnis hat damit – egal wie viel letzten Endes langfristig beschädigt wurde und den Betrieb tatsächlich aufhält – eine Diskursverschiebung in der Diskussion um legitime Aktionsformen erreicht.

Die Auseinandersetzung mit Sachbeschädigung und Sabotage ist seit dem Hoch der Klimabewegung 2019 intensiver geworden, als die Wirkung der stetig kleiner werdenden Demonstrationen und Aktionen mehr und mehr infrage gestellt wurde.

Es war ein langer Prozess, der jetzt zur faktischen Aufnahme von Sabotage in den Aktionskonsens führte, mit vielen Debatten und internen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren. Was bedeutet es, eine "gewaltfreie" Bewegung zu sein? Legitimiert nicht die Gewalt, die fossile Konzerne mit dem Anheizen der Klimakrise und der Ausbeutung des globalen Südens ausüben, auch Gewalt gegen Gegenstände?

Völlig einer Meinung ist "Ende Gelände" in der Frage noch nicht, das ist bei einer Graswurzelbewegung auch kaum möglich. Der Aktionskonsens gilt zwar für alle, das bedeutet aber nicht, dass alle alles machen müssen, die Aktionen müssen sich lediglich im Rahmen des Konsenses bewegen.

Auch in diesem Jahr wollten viele nicht weiter gehen, als mit ihren Körpern zu blockieren. Andere waren bereit, Sabotage im Hintergrund zu unterstützen, aber nicht, selbst etwas zu beschädigen.

So oder so ist die Debatte um Aktionsformen jetzt einen entscheidenden Schritt weitergegangen. Dass ein großer Akteur der Klimabewegung Sabotage grundsätzlich als legitim einstuft, hat etwas verändert. Darauf will ein Teil der Klimabewegung in den nächsten Jahren aufbauen.

40 politische Gruppen, ein Camp

Ein wichtiges Element der diesjährigen Aktionstage ist das "System Change Camp", in dem die Aktivist:innen während der Woche gezeltet haben.

Es ist seit der Coronapandemie das erste große Klimacamp, von dem Aktionen des zivilen Ungehorsams ausgehen. Für viele ist es ein Ort zum Zusammenkommen, für Austausch und Empowerment. Beteiligt sind rund 40 politische Gruppen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion, aber auch das kommunistische "Ums Ganze"-Bündnis oder Abya Yala Anticolonial.

Eine Aktivistin erläutert: "Diese Woche wird nicht nur fossile, koloniale Infrastruktur blockiert, die Bewegung hat die Chance zusammenzurücken, einen Schritt weiterzugehen und den Versuch zu wagen, eine Utopie in Form eines Klimacamps zu leben."

Am Montag ist das Camp schon deutlich leerer. In einem Abbauplenum werden Aufgaben verteilt, langsam wird aus dem Camp wieder der Altonaer Volkspark. Am Infopoint hängen an einer großen Tafel Zeitungsartikel über die Aktionen der letzten Tage. Viele machen sich hier ein Bild über die Öffentlichkeitswirkung der Aktionen, zeigen einander ihre Lieblingsartikel.

Die Aktivist:innen sind zufrieden. "Wir haben in dieser Woche gezeigt: Die Klimabewegung hat volle Power", sagt Ende-Gelände-Sprecherin Luka Scott. "Wer im Jahr 2022 noch in fossile Infrastruktur investiert, muss mit unserem Widerstand rechnen."

Die nächsten Aktionen des zivilen Ungehorsams plus Sachbeschädigung werden bestimmt kommen. "Ende Gelände" hat in dieser Woche vorgelegt.

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