Einige Windräder stehen auf einem bewaldeten Bergrücken.
Windpark im Rothaargebirge: Ressortgrenzen müssen überwunden werden, sagt Kai Niebert. (Foto: Almut Witzel)

Klimareporter°: Herr Niebert, letzte Woche hat die Ampel-Regierung die EU-Notfallverordnung in deutsches Recht umgesetzt. Kommt jetzt ein Rollback beim Naturschutz, in erster Linie zugunsten der Windkraft?

Kai Niebert: Unbenommen ist: Wir müssen beim Ausbau der Erneuerbaren, und das sind vor allem Windenergie und Photovoltaik, deutlich vorankommen. Insofern braucht es jetzt Instrumente, die wirklich auf die Tube drücken.

Richtig eingesetzt, kann die EU-Notfallverordnung zu einem wirklichen Turbobooster werden.

Die Regierung setzt die EU-Verordnung doch richtig um – oder?

Dass der Wind-Ausbau in den letzten Jahren zum Erliegen kam, hat viele verschiedene Gründe. Die haben mit falscher Förderung, mit Ausschreibungen und politischen Widerständen zu tun. Aber auch der Naturschutz ist ein Engpass geworden.

Die EU-Kommission hat mit der Verordnung deshalb ein kluges Instrument geschaffen: Überall dort, wo gleichzeitig genügend Flächen und genügend Mittel für den Naturschutz bereitgestellt werden, kann man auch die Windkraft beschleunigt ausbauen.

Konkret folgt daraus dann: Es muss nicht mehr an jeder einzelnen Windanlage geprüft werden, ob sie naturschutzrechtlich zulässig ist. Geprüft wird nur noch das Gebiet als Ganzes, in dem die Anlage oder der Windpark errichtet wird.

Windkraft kann also schneller in den Gebieten installiert werden, die auf ihre Eignung, auch aus Sicht des Naturschutzes, schon vorab geprüft sind?

Wir sprechen hier über die sogenannten Go-to-Areas, wie die EU-Kommission sie nennt. Bei denen besteht jetzt die Herausforderung darin, dass sie von den jeweils zuständigen Länderbehörden gemeldet werden. In der Regel sind das die ehemaligen Windvorranggebiete.

 

Das Problem ist eben, dass es für die Prüfung dieser Gebiete bisher keinen einheitlichen Maßstab gab. Das ist die Herausforderung, vor der jetzt die Bundesländer stehen. Go-to-Areas sind eine gute Idee: Sie sparen viel Arbeit und Zeit, wenn einmal gründlich geprüft wird – aber es muss eben auch gründlich geprüft werden.

Worin besteht nun die Beschleunigung?

Diese besteht darin, dass dann in den vorgeprüften Go-to-Areas die projektbezogene Umweltverträglichkeitsprüfung und die Artenschutzprüfung entfallen und der Betreiber stattdessen einen finanziellen Ausgleich in das bundesweite Artenhilfsprogramm einzahlt.

Bisher gilt, vereinfacht gesagt: Baue ich etwas und fälle dafür drei Bäume, muss ich anderswo wieder drei Bäume pflanzen. Der Ausgleich kann künftig auch geschehen, indem zum Beispiel der Windkraftprojektierer den Erhaltungszustand der betroffenen Art über das Artenhilfsprogramm an anderer Stelle unterstützt.

Wo nützt denn zusätzliches Geld dem Artenschutz?

Die Förderprogramme sehen sehr unterschiedlich aus. So können auch, was derzeit noch sehr schwierig ist, Flächen zur Wildnisentwicklung oder zur Wiedervernässung aufgekauft werden. Ich lade aber dazu ein, weiterzudenken.

Wohin?

Wir brauchen ja nicht nur mehr Windkraft, sondern auch mehr Photovoltaik, mehr Stromtrassen und auch mehr Schiene. Auch da fragt sich: Denkt man künftig weiter über jedes Projekt einzeln nach und sucht nach Ausgleichsflächen? Von diesen sind aber kaum noch welche zu finden, klagen zum Beispiel die Stromnetzbetreiber.

Zudem zeigt sich: Dieser punktuelle Naturschutz – ich holze drei Bäume ab und pflanze zwei Kilometer weiter drei neue ein – kann das Artensterben in Deutschland nicht stoppen.

Dazu veröffentlichten Sie zusammen mit Spitzenfunktionären aus Umweltverbänden kürzlich ein Konzeptpapier zum Aufbau einer "grünen" Infrastruktur – eines strategischen Netzwerks natürlicher und naturnaher Flächen. Gewissermaßen ein "Wumms" für die Natur.

Wir haben das Papier an Bundeskanzler Olaf Scholz gegeben, der uns dann interessanterweise umgehend eingeladen hat, um zu erörtern, wie wir unsere Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen und dem Montrealer Artenschutzabkommen gemeinsam erreichen können.

Dabei ist deutlich geworden: Deutschland sollte Klimaschutz und Naturschutz größer denken als bisher.

Unsere grüne Infrastruktur – naturnahe Wälder, Auen und Fließgewässer, artenreiches Grünland – ist genauso wichtig wie die erneuerbare Infrastruktur. Die eine sichert unsere natürlichen Lebensgrundlagen, die anderen unseren Wohlstand.

Wenn man beides sichert, kann man beides beschleunigen. Auch der Kanzler hat die Parität beider Ziele anerkannt und sieht die Chancen, die sich damit verbinden.

Was bedeutet das konkret?

Auch Deutschland hat sich mit dem Montrealer Abkommen verpflichtet, 30 Prozent der Landesfläche als Schutzgebiete auszuweisen. Das bedeutet nicht, dass man dort keinen Fuß mehr hineinsetzen darf, sondern in den Gebieten wird der biologischen Vielfalt Vorrang gegeben.

Kai Niebert
Foto: DNR

Kai Niebert

ist Präsident des Deutschen Natur­schutz­rings (DNR), des Dach­verbandes der deutschen Umwelt­organisationen. Haupt­beruflich forscht und lehrt er als Nachhaltigkeits­wissenschaftler an der Universität Zürich. Er ist auch Kuratoriums­vorsitzender der Deutschen Bundes­stiftung Umwelt, Europas größter Umwelt­stiftung.

Um die 30 Prozent zu erreichen, sollen diejenigen, die Windanlagen, Stromtrassen, Rad- oder Schienenwege bauen, in einen Fonds einzahlen, aus dem dann bundesweit die grüne Infrastruktur zusammen mit den Bundesländern geplant und realisiert wird.

Unser Vorschlag ist zunächst, die Kompensationsmaßnahmen so zu gestalten, dass bestehende Schutzgebiete vernetzt werden. Denn an den Klimawandel kann sich die Natur nur anpassen, wenn die Arten in neue Lebensräume wandern können.

Zu einer so gedachten Vernetzung fehlen uns derzeit noch – je nach Berechnung – etwas mehr als sechs Prozent der Landesfläche. Dem Naturschutz wäre viel geholfen, weil er endlich vernetzt wird und in der Fläche denken kann. Den Investoren ist geholfen, weil sie nicht mehr selbst im Klein-Klein nach Ausgleichsflächen suchen.

Erneuerbare Energien brauchen Fläche und nochmals Fläche. Die wollen Sie auch. Da sind doch Konflikte programmiert.

Nur wenn wir die erneuerbare und die grüne Infrastruktur auf Augenhöhe bringen, werden wir langfristig unsere Lebensgrundlage und unseren Wohlstand sichern.

Und dabei müssen wir auch über die richtigen Wege und über Effizienz reden. Derzeit sind zehn Prozent unserer Ackerfläche reserviert für Energiepflanzen, um Biogas oder Biodiesel daraus zu machen. Das schadet nicht nur der biologischen Vielfalt, sondern ist mit einem Gesamtwirkungsgrad von einem Prozent auch extrem ineffizient.

Wenn wir diese zehn Prozent auch künftig zur Energiegewinnung nutzen wollen, dann aber bitte richtig: Lasst sie uns zur Hälfte mit Photovoltaik ausstatten, zwischen den Modulen Gemüse oder Beeren anbauen, und die andere Hälfte stellen wir für die biologische Vielfalt zur Verfügung.

Dann haben wir am Ende das bis zu 50-Fache an Energieausbeute, mehr Wertschöpfung im ländlichen Raum und mehr biologische Vielfalt. Eine Win-win-win-Situation. Um das zu schaffen, muss ressortübergreifend gedacht werden.

Auch Gesetze wären zu ändern, mindestens das über die THG-Quote, die Treibhausgasminderungsquote.

Genau. Da muss ich auch den Mut haben, bestimmten Lobbys entgegenzutreten wie der für Agrotreibstoffe. Wenn man die Dinge mal zu Ende denkt, erkennt man die Sackgassen: Wollte Europa beispielsweise seine fossilen Ölimporte aus Russland durch Agrokraftstoffe ersetzen, müssten dafür mindestens 70 Prozent der gesamten Ackerfläche der EU umgeackert werden. Das ist kein Zukunftsmodell.

Die deutsche Landwirtschaft steht vor großen Umbrüchen. Da ist doch die Frage: Welche Signale setze ich jetzt? Geht es weiter in die Sackgasse oder geht es in Richtung mehr Ernährungssicherheit, mehr biologische Vielfalt und mehr Energie?

So schön die Vision ist, schaut man allein auf die Vielzahl kommender Flüssigerdgas-Terminals, fragt man sich: Stellt die Energiekrise jetzt nicht eine Art Freifahrtschein kontra Natur aus?

Dass man in den ersten Tagen des Krieges und der Gasausfälle alles mobilisiert hat, was irgendwie möglich war, kann ich verstehen. Aber nach einem Jahr muss man da mal mit Verstand drauf blicken und anfangen, die Überkapazitäten zu erkennen.

Gleichzeitig ist klar: Das neue Deutschland-Tempo brauchen wir genauso bei den 30 Prozent für die grüne Infrastruktur. Das fängt bei der Renaturierung der Auen an und geht bis zu wiedervernässten Mooren. Das sind Aufgaben, die sich die Bundesregierung bereits vorgenommen hat.

Wir brauchen nicht nur Go-to-Gebiete für Windenergie, sondern auch für den Naturschutz. Nur dann lassen sich Lebensgrundlagen und Wohlstand sichern. Das ist unser Vorschlag.

Wir müssen genauso schnell die grüne Infrastruktur wieder vernetzen, Lücken schließen und aktivieren.

Wie ist bisher die Resonanz in der Ampel auf Ihre Ideen zur grünen Infrastruktur?

Ich bin überrascht, wie stark in dieser Fortschritts-Koalition Ressortgrenzen wirken.

Dabei ist doch klar: Robert Habeck braucht die Flächen für die Energie, Steffi Lemke braucht die Flächen für den Naturschutz und Cem Özdemir hat die Flächen, braucht aber Geld, um den Landwirten beim Umbau zu helfen.

Grüne Infrastruktur zu schaffen bedeutet ein komplett ressortübergreifendes Denken, um Gemeinschaftsaufgaben zu lösen. Dazu wollen wir mit unserem Vorschlag einladen.

Neben der Umsetzung der EU-Verordnung nahm die Koalition im Bundestag auch eine Entschließung an. Demnach will sie "den Gedanken der Beschleunigung bei Go-to-Areas für erneuerbare Energien auf Natur- und Artenschutzgebiete unter Berücksichtigung von weiteren Nutzungsinteressen übertragen". Zumindest im Parlament fanden Sie offenbar Gehör.

Ja, das stimmt zuversichtlich. Jetzt ist es an der Zeit, Ressort- und Parteigrenzen zu überwinden und neben den erneuerbaren Energien auch der biologischen Vielfalt einen entsprechenden Vorrang bei der Ausweisung von Schutzgebieten und Planungsverfahren einzuräumen.

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