Wasser steht auf einer Wiesenlandschaft im Nationalpark Unteres Odertal.
Feuchtwiese im Nationalpark Unteres Odertal: Flussauen zu erhalten ist Biodiversitäts- und Klimaschutz. (Foto: Frank Baldus/​Wikimedia Commons)

Vor hundert Jahren fegte eine Grippe-Pandemie über den Globus. Sie infizierte in vier aufeinanderfolgenden Wellen schätzungsweise 500 Millionen Menschen – etwa ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung.

Während das Ende dieser Pandemie langwierig und uneinheitlich war, begann eine Periode dramatischer sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen.

Die Goldenen Zwanziger, Roaring Twenties oder "années folles" ("verrückte Jahre") waren eine Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs, der kulturellen Blüte und des sozialen Wandels in Nordamerika und Europa. Das Jahrzehnt war Zeuge einer rasanten Beschleunigung bei der Entwicklung und Nutzung von Autos, Flugzeugen und Telefonen.

Ähnlich sieht unsere Welt im – hoffentlich – letzten Drittel der Corona-Pandemie aus: Angestoßen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts und durch einen neuen Aufbruch in der internationalen Klimapolitik, kommt endlich Bewegung in die Debatten um das Stoppen der Klimakrise.

Diese Bewegung ist auch unbedingt erforderlich, denn wir sind an einem Punkt angekommen, an dem weder der Schutz der biologischen Vielfalt noch der Klimaschutz weiterhin mit einem "ja, aber" bewältigt werden können.

Anton Hofreiter

ist promovierter Biologe und seit 2005 Bundes­tags­abgeordneter der Grünen. Seit acht Jahren ist er einer der beiden Fraktionschefs.

Was lange eine Modellrechnung war, ist nun Realität: Die Klimakrise beginnt sich selbst zu verstärken, das Artensterben nimmt dramatisch zu, und die Coronakrise zeigt, dass wir mindestens einmal zu tief in unberührte Lebensräume eingedrungen sind.

Gesellschaftliche und ökologische Kipppunkte sind erreicht. Das Klima haben wir schon um 1,2 Grad angeheizt. Auf den 1,5-Grad-Pfad zu gelangen, ist sozial, ökologisch und – mit Blick auf die Kosten des Aussitzens – auch ökonomisch und politisch geboten.

Die Bewältigung der Biodiversitäts- und der Klimakrise wird die politische Agenda in diesem Jahrzehnt entscheidend prägen. Es geht nicht mehr darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Natur- und Klimaschutz einen Platz in der Gesellschaft finden. Die Forderung nach einer radikalen Begrenzung der Klimakrise ist in der Mitte der Gesellschaft längst verankert, rund 90 Prozent der Bevölkerung sehen die Erhaltung der biologischen Vielfalt als wichtig an, wie mittlerweile alle gängigen Studien zeigen.

Kai Niebert
Foto: DNR

Kai Niebert

ist seit 2015 Präsident des Umwelt-Dachverbandes Deutscher Naturschutz­ring (DNR), zudem seit vielen Jahren ehrenamtlich bei den Natur­freunden tätig. Er hat an der Universität Zürich eine Professur für Didaktik der Natur­wissen­schaften und Nachhaltigkeit inne. 

Mit dieser Aufmerksamkeit ist auch die Erwartung von konkreten Handlungen verbunden. Doch die vor uns stehenden Aufgaben sind gewaltig.

Und, machen wir uns nichts vor, sie werden das Landschaftsbild verändern. Bis 2030 müssen wir allein für Ökostrom jährlich mindestens 10.000 Megawatt Photovoltaik und 5.000 bis 7.000 Megawatt Windkraft an Land zusätzlich installieren. Nahezu alle Wirtschaftszweige, vor allem die Industrie sowie die Energie- und Verkehrsinfrastruktur, müssen grundlegend umgebaut werden.

Ähnliches ließe sich für den Ausbau der Bahninfrastruktur, für Stromleitungen und Speichertechnologien sagen. Kurzum: Die 20er Jahre dieses Jahrhunderts müssen zum Jahrzehnt der ökologischen Modernisierung werden.

Vor diesem Hintergrund sehen wir in den nächsten Jahren fünf große Herausforderungen, die im Zentrum einer ökologischen Industriepolitik stehen:

Nicht ausgleichen, sondern verbessern

Aus dem Naturschutz wird berechtigterweise die Sorge laut, dass diese industrielle Revolution zusätzlichen Druck auf die biologische Vielfalt ausübt – auch wenn es eine grüne Revolution ist.

Und auch wenn die Belastungen für die Natur nicht in der erneuerbaren Infrastruktur liegen, sondern in unseren ausgeräumten Agrarlandschaften, in der Zersiedelung und Zerschneidung von Naturräumen oder in dem mangelhaften Schutz von Schutzgebieten: Auch grüne Infrastruktur ist Infrastruktur.

Deshalb sollte gelten: Die wilden 2020er müssen tatsächlich zu mehr Wildnis führen. Wir können neue Belastungen in der Natur nicht vermeiden. Doch weil die Natur so belastet ist, reicht es nicht mehr, diese Eingriffe einfach auszugleichen, sondern wir müssen den Zustand der Natur an anderer Stelle qualitativ wirklich verbessern.

Die Zeit des Kompensierens muss vorbei sein. Wir brauchen wieder mehr Natur, mehr Vielfalt, mehr Wildnis. Dafür muss aus dem Verschlechterungsverbot ein Verbesserungsgebot bei der Planung neuer Infrastrukturvorhaben werden.

Die ökologischen Dilemmata auflösen

Der Umbau von Wirtschaft und Infrastruktur in eine klimaneutrale Gesellschaft muss schnell und konsequent erfolgen. Das heißt aber auch, dass wir die Probleme dort lösen müssen, wo sie entstehen: Wenn das Problem von Schreiadler, Rotmilan oder Abendsegler die industrielle Landwirtschaft ist, müssen wir zunächst die Agrarpolitik ändern und dürfen nicht die Energiewende ausbremsen.

Das erfordert ein grundlegendes Umdenken, um großflächig bessere Lebensbedingungen für die Arten in unseren Kulturlandschaften herzustellen und Schutzgebiete wieder zu ungestörten Rückzugsflächen zu machen. Der erhöhte Druck auf betroffene Arten und deren Lebensräume ist außerdem durch zusätzliche Artenschutzprogramme auszugleichen.

Um genügend Flächen für den Ausbau der erneuerbaren Infrastruktur zu haben, muss fossile Infrastruktur gestoppt werden. Wenn zudem die Betreiber von Windrädern am Naturschutz beteiligt werden und jedes Windrad den Artenschutz mitfinanziert, können Energie- und Naturwende gemeinsam gelingen.

Natur- und Klimaschutzpolitik beschleunigen

Die Zeit drängt. Der effektivste Klimaschutz ist in Deutschland nach wie vor der Kohleausstieg. Wenn wir bis 2030 aus der Kohle aussteigen wollen, darf die Planung eines Windrads keine acht Jahre dauern. Vielmehr müssen wir in acht Jahren die Kapazitäten der erneuerbaren Energieträger verdoppelt haben.

Auch die Modernisierung des Bahnnetzes muss auf die Überholspur gebracht werden.

Um das zu erreichen, müssen nicht nur die Planungsverfahren digitalisiert werden, statt meterlange Ordnerreihen in die Behörden zu schleppen. Auch müssen die Genehmigungsbehörden besser ausgestattet werden, um schnell und kompetent entscheiden zu können.

Wenn dann noch die Bürgerinnen bereits in einer frühen Planungsphase einbezogen werden, kann dies die Vorbehalte deutlich reduzieren.

Bundesweit verbindliche Regeln für Wind und Sonne 

Derzeit ist es weniger der Artenschutz als der Unwille einiger Ministerpräsidenten, Flächen zur Verfügung zu stellen, der die Energiewende ausbremst.

Während Länder wie Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Brandenburg das Land mit Windstrom versorgen, boykottieren Nordrhein-Westfalen oder Bayern mit willkürlichen Abstandsregelungen die Energiewende.

Deshalb muss künftig jedes Bundesland verbindlich zwei Prozent seiner Fläche für die Windenergie zur Verfügung stellen.

Und auch für den Artenschutz müssen einheitliche Regeln gelten, damit der Rotmilan nicht Gesetzestexte lernen muss, bevor er auf seinem Flug durch die Eifel das Bundesland wechselt.

Die Dinge nicht nur besser, sondern anders machen

Klimaneutralität 2045, wie sie im neuen Klimaschutzgesetz für Deutschland festgeschrieben werden soll, wird zu einem Paradigmenwechsel führen. Um das Ziel zu erreichen, reicht es nicht mehr, einfach effizientere Motoren, Häuser oder Flugzeuge zu bauen. Nein, Klimaneutralität heißt, neu zu denken.

Zum Beispiel auf dem Acker: Wenn aus einem Hektar Acker bis zu 200-mal so viel Energie mit einer Photovoltaikanlage wie durch den biodiversitätsschädigenden Anbau von Mais und Raps für den Tank herausgeholt werden kann, müssen hier die Prioritäten neu gesetzt werden.

Ob Agrarwende, Verkehrswende oder Energiewende: Das Ziel ist klar, jetzt geht es um den besten Weg dahin.

Wir wollen unsere natürlichen Lebensgrundlagen bestmöglich erhalten. Dafür müssen wir den Dialog suchen und die Gesellschaft einbinden. Und wir brauchen einen politischen Wettbewerb um die besten Vorschläge und Maßnahmen.

Das Ziel muss sein, dass wir die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts zu einem goldenen Jahrzehnt des Natur- und Klimaschutzes machen.

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