Eisbär schaut nach oben zum Betrachter.
Der Eisbär kann nicht nach Norden ausweichen. Er beginnt sich mit dem Grizzlybären zu vermischen. (Foto: Christopher Michel/​Flickr)

Der Berliner Naturforscher Alexander von Humboldt entdeckte als erster die Klimazonen – Bänder mit ähnlicher Temperatur, die sich um die Erde ziehen. Er erkannte auch, dass in den verschiedenen Klimazonen jeweils eigene Tier- und Pflanzenarten zu finden sind.

Humboldt sah sich daher als der Erfinder der "Geografie der Pflanzen", ein Fach, das heute als Biogeografie firmiert. Vielleicht machte er diese Entdeckungen bei der Besteigung des Chimborazo im Jahr 1802, eines 6.300 Meter hohen Vulkans in Ecuador.

Andrea Wulf schreibt dazu in ihrer Humboldt-Biografie: "Die Reise von Quito bis auf den Chimborazo glich einer botanischen Reise vom Äquator bis zu den Polen, nur senkrecht: die ganze Pflanzenwelt, Schicht für Schicht aufgestapelt." Dabei sah Humboldt, dass jeder Höhe eine "eigene und unveränderliche Temperatur zugeordnet" ist.

Doch was, wenn sich diese Temperatur doch verändert? Dieser Frage geht Benjamin von Brackel in seinem neuen Buch "Die Natur auf der Flucht" nach und zeigt an vielen Beispielen, dass die Tier- und Pflanzenarten mit den Klimazonen in Richtung der Pole wandern.

Diese Beobachtung sollte seit den Entdeckungen Humboldts eigentlich weder überraschend noch kontrovers sein. Trotzdem dauerte es viele Jahre, bis sich die Idee unter Naturschützern durchsetzen konnte, dass wir Zeugen einer "massiven Umverteilung des Lebens auf der Erde" sind, wie von Brackel schreibt.

Bei diesem "größten Freilandexperiment aller Zeiten" wandern Landbewohner pro Tag fünf Meter Richtung Nord- beziehungsweise Südpol und Meeresbewohner sogar 20 Meter. In zehn Jahren kommen so 17 respektive 72 Kilometer zusammen.

Erreger mutieren, Fischereistreit eskaliert

Diese Umverteilung bleibt nicht ohne Konsequenzen. So wandern auch unerwünschte Arten nach Norden wie die Tigermücke. Diese überträgt tropische Krankheiten wie Dengue- oder Zikafieber.

Lange haben die Alpen den Vorstoß der Tigermücke nach Deutschland verhindert. Doch nun ist diese Barriere überwunden und die Mücke rückt jedes Jahr 150 Kilometer weiter nach Norden vor.

Auch dadurch, dass sich nun Arten begegnen, die dies zuvor noch nie getan haben, steigt die Gefahr von Krankheiten. Wenn Erreger ganz neue Arten befallen, können sie mutieren und im schlimmsten Fall auch auf den Menschen übertragen werden.

Die Artenwanderung kann aber auch politische Krisen auslösen. So erreichten Makrelen im Jahr 2007 zum ersten Mal isländische Gewässer, zur Freude der dortigen Fischer. Großbritannien und Norwegen betrachteten Makrelen aber als "ihre" Fische.

Der Streit eskalierte und isländischen Fischern war es ab 2010 verboten, norwegische und manche schottischen Häfen anzulaufen. Im Jahr 2014 hatte sich dann die EU auf ein Abkommen mit Island geeinigt, aber Norwegen ließ den Deal platzen.

Sieben Jahre später ist der Streit immer noch nicht beigelegt und könnte dieses Jahr wieder eskalieren. Wenn sich befreundete Länder wegen Fisch derart streiten können, lässt dies für Regionen wie Südostasien mit seinen umstrittenen Seegrenzen nicht Gutes erwarten.

Bei der großen Artenwanderung werden allerdings auch viele Arten auf der Strecke bleiben. Manche Arten sind zu langsam und geraten dadurch in eine Klimazone, in der sie nicht überleben können. Andere stoßen an geografische Grenzen.

Artenschutz bricht mit Tabus

Das gilt etwa für Arten, die einen Berg erklimmen, um den steigenden Temperaturen zu entgehen, wie am Chimborazo. Dort finden sich die meisten Arten heute 500 Meter höher als zu Humboldts Zeiten. Dabei schrumpft ihr Lebensraum und oben angekommen, verschwinden Arten dann ganz. Forscher sprechen vom "Aufzug ins Aussterben".

Um das "sechste Massenaussterben" auf der Erde zu stoppen, soll dieses Jahr ein internationales Artenschutzabkommen verabschiedet werden. Es wird erwartet, dass sich die Länder dabei einigen, mindestens 30 Prozent der Erde unter Schutz zu stellen.

Entscheidend für den Erfolg, wird dabei sein, welche 30 Prozent unter Schutz gestellt werden. Isolierte Schutzgebiete könnten sonst zum Gefängnis für ihre Arten werden, wenn diese nicht die Möglichkeit haben polwärts zu ziehen. Schutzgebiete müssen daher mit ökologischen Korridoren miteinander verbunden werden.

Buch

Benjamin von Brackel: Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbären trifft. Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt. Wilhem Heyne Verlag, München 2021, 288 Seiten, 13 Euro

Zumindest die EU hat offenbar darüber nachgedacht. In ihrer Biodiversitätsstrategie steht: Diese Korridore sollten "genetische Isolierung verhindern und die Migration von Arten ermöglichen".

Mittlerweile werden Arten auch gezielt umgesiedelt, was bis vor kurzem ein Tabu war. Die australische Biologin Christine Hosking sagt: "Als wir zuerst darüber schrieben, sagte jeder: Nein! Das könnt ihr doch nicht machen. Aber seitdem sich die Situation für Wildtiere auf der ganzen Welt so verdüstert hat, wird es gemacht."

Das Problem dabei sei, dass keiner weiß, mit wie viel Treibhausgas die Menschheit das Klima noch befeuern wird, sagt die französische Biologin Camille Parmesan: "Wüssten wir, an welchem Punkt sich das Klima stabilisiert, könnten wir uns darauf vorbereiten."

Trotz Artenwanderung und Umsiedlungen wird letztlich dieser Punkt über die Artenvielfalt auf der Erde entscheiden, denn jedes Zehntelgrad verlangt seinen Tribut.

Redaktioneller Hinweis: Benjamin von Brackel ist Mitbegründer von Klimareporter°.

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