Zapfsäule mit vier Sprit-Pistolen für Benzin, Super, Super E 10 und Diesel.
Dem Benzin werden bisher zehn Prozent Bioethanol ("E10") beigemischt, das aus Weizen, Roggen oder Zuckerrüben gewonnen wird. (Foto: Mark Hochleitner/​Shutterstock)

Seit über 15 Jahren landet an jeder Zapfsäule neben fossilem Kraftstoff auch Agrosprit aus Getreide oder Speiseölen im Autotank. Für wenige Prozentanteile Agrokraftstoff in Diesel und Benzin werden gewaltige Mengen an Lebensmitteln verbrannt, riesige Anbauflächen verschwendet und massive Klima- und Umweltschäden in Kauf genommen.

Allein für den deutschen Agrokraftstoffverbrauch ist rund um den Globus eine Fläche mit Soja-, Raps-, und Getreidemonokulturen belegt, die groß genug wäre, um den Kalorienbedarf von bis zu 35 Millionen Menschen zu decken. Während weltweit über 800 Millionen Menschen hungern, wird Essen für Verbrennungsmotoren angebaut.

Nicht weniger skandalös ist, dass Agrokraftstoff immer noch als "grün" vom Staat gefördert wird, obwohl längst bekannt ist, dass seine Klima- und Umweltbilanz desaströs ist. Die riesigen Anbauflächen blockieren Land, auf dem ansonsten Ökosysteme CO2 binden und langfristig speichern könnten. An die Stelle natürlicher Lebensräume tritt noch mehr intensive Landwirtschaft mit Dünger, Pestiziden und schweren Maschinen.

Hierzulande getankter Agrosprit heizt dabei auch Flächenfraß und Umweltzerstörung in entfernten Weltregionen an: Für Agrodiesel importiert Deutschland unter anderem Soja aus Brasilien, wo die unablässige Ausweitung der Plantagen den Amazonas-Regenwald immer näher an seinen Kipppunkt und in den ökologischen Kollaps treibt.

Man würde meinen, dass sich angesichts solcher Bilanzen niemand findet, der auch nur einen Tag länger am Agrosprit festhalten möchte. Aber Verkehrsminister Wissing und die FDP lehnen selbst den von Umweltministerin Lemke vorgeschlagenen langsamen, schrittweisen Ausstieg bis 2030 ab.

Klimaschutz im Verkehr hieße zum Beispiel Tempolimit

Der Grund: Agrokraftstoff zählt offiziell als "erneuerbare Energie" und lässt in der Statistik die miserable Klimabilanz des Verkehrssektors ein klein wenig besser aussehen. Das funktioniert nur, weil die Klimaschäden aufgrund des Flächenverbrauchs von Agrosprit unter den Teppich gekehrt werden. Mit dem Ausstieg würde dieser Rechentrick künftig wegfallen – und Wissings ungeschönte Klimabilanz zutage treten.

 

Mancherorts scheint sich deshalb nun Mitgefühl für den Verkehrsminister breitzumachen: Die Grünen machten es ihm mit dem Agrosprit-Aus beim Klimaschutz "noch schwerer" und "beraubten" ihn einer Option, CO2 zu sparen, heißt es. Wissing selbst erklärt, ohne Agrokraftstoff seien die Klimaziele in Gefahr.

Das ist an Heuchelei kaum zu überbieten. Durch den Agrosprit und seine fehlerhafte Klima-Bilanzierung ist die Treibhausgasstatistik im Verkehr derzeit um etwa neun Millionen Tonnen CO2 jährlich nach unten verfälscht. Die offiziellen Emissionszahlen sind niedriger als die tatsächlichen Emissionen.

Der Ausstieg aus Agrokraftstoff würde insofern nicht zu "Mehremissionen" führen, wie vielfach behauptet, sondern zu einer korrekteren Emissionsstatistik, die den realen CO2-Ausstoß des Verkehrs besser widerspiegelt.

Und auch der Anstieg der Emissionszahlen auf dem Papier ließe sich leicht verhindern: Allein die Einführung eines Tempolimits von 100 auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen und 30 innerorts könnte nach neuesten Berechnungen der Deutschen Umwelthilfe über elf Millionen Tonnen CO2 pro Jahr sparen und damit – anders als Agrosprit – tatsächlich zur Eindämmung der Klimakrise beitragen.

Die Umweltminister:innen der Länder fordern die Kombi-Maßnahme Agrosprit-Ausstieg plus Tempolimit bereits seit Monaten.

Dem Verkehrsminister geht es nicht ums Klima

Dass die gesetzlichen Klimaziele ohne Agrosprit nicht eingehalten werden könnten, ist also eine dreiste Behauptung eines Verkehrsministers, der alle tatsächlich emissionssenkenden Maßnahmen im Verkehr ablehnt. Wissing will kein Tempolimit, keinen Vorrang der Schiene, keinen Abbau klimaschädlicher Subventionen und kein Verbrenner-Aus – stattdessen noch mehr Autobahnen.

Wenig überraschend verfehlt der Verkehrsminister mit diesem Programm die gesetzlichen Vorgaben zur CO2-Reduktion bis 2030 um den Faktor 20. Ein entsprechend vernichtendes Zeugnis stellte ihm der Expertenrat der Bundesregierung für Klimafragen aus. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages konstatiert einen Verstoß gegen das Klimaschutzgesetz. Juristische Verfahren der Deutschen Umwelthilfe und des BUND laufen.

Porträtaufnahme von Johanna Büchler.
Foto: Janine Klein/​DUH

Johanna Büchler

arbeitet seit 2019 als Expertin für Klima­schutz im Verkehr bei der Deutschen Umwelt­hilfe (DUH). Zuvor war sie im britischen Umwelt­ministerium tätig. Sie hat Physik studiert und in Biologie promoviert.

Dass Wissing sein Festhalten am klimaschädlichen Agrosprit nun mit den Vorgaben eben dieses Klimaschutzgesetzes zu rechtfertigen versucht, das er seit seinem Amtsantritt systematisch mit Füßen tritt, ist ein Grund für Empörung, nicht für Mitleid.

Mit seinem Verhalten macht er sich auch zum Handlanger der Agrospritindustrie. Die Branche gibt sich in der Öffentlichkeit stets besorgt über die Klimakrise und warnt vor verfehlten Klimazielen und fossilen Abhängigkeiten. Gleichzeitig hat sie erst vor wenigen Monaten gemeinsam mit der Ölindustrie gegen das – ohnehin viel zu späte – EU-Verbrenner-Aus 2035 lobbyiert.

Weil Agrokraftstoff nur eine Zukunft hat, wenn wir vom Verbrennungsmotor abhängig bleiben, arbeitet die Branche aktiv darauf hin, dass weiterhin so viele Verbrennerfahrzeuge wie möglich verkauft werden – obwohl völlig klar ist, dass jeder einzelne Verbrenner fast vollständig auf fossilen Sprit angewiesen ist. Kurz: Der fossile Lock-in ist das Wunschszenario der Agrospritindustrie.

Der Schulterschluss mit den fossilen Ölkonzernen liegt da nahe und war gerade erst wieder beim alljährlichen Kongress der Kraftstoffindustrie auf der Grünen Woche zu besichtigen: veranstaltet von Agrospritverbänden, gesponsert unter anderem vom BP-Konzern und dem Lobbyverband der Ölindustrie. Schirmherr des Kongresses: das Verkehrsministerium.

Die Agrosprit-Industrie hat eigene Interessen

Es versteht sich eigentlich von selbst: Die Agrospritindustrie ist kein neutraler Akteur in der Frage, ob und wie wir aus Agrokraftstoffen aussteigen. Die Eigeninteressen der Branche sind nicht deckungsgleich mit den Interessen der Allgemeinheit nach wirksamem Klimaschutz und der Bewahrung eines bewohnbaren Planeten.

Höchste Zeit also, dass der Agrosprit-Diskurs statt der Wünsche der Industrie die wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Fokus nimmt. Die sind eindeutig: Das Umweltbundesamt stuft die staatliche Förderung für Agrokraftstoff schon seit 2008 als klima- und umweltschädliche Subvention ein.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen betont, dass die Klimaeffekte der Landnutzung beim Anbau von Biomasse zu berücksichtigen sind. Eine Studie des Ifeu-Instituts, die genau dies für die in Deutschland genutzten Agrokraftstoffe tut, kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesamt-Klimawirkung von Agrosprit noch verheerender ist als die fossiler Kraftstoffe.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen fordert eine umfassende "Landwende", bei der Ernährungssicherung und Biodiversitätsschutz Vorrang vor der Produktion von Biomasse für Energie haben.

Es ist höchste Zeit, den Irrweg Agrosprit zu beenden. Und zwar nicht erst 2030, sondern jetzt. Statt geschönten Treibhausgasbilanzen durch Sprit vom Acker brauchen wir realen Klimaschutz durch eine grundlegende Mobilitätswende. Statt Essen zu verbrennen, müssen wir gesunde Ernährung für alle sicherstellen. Es ist Zeit, Nahrungsmittel aus dem Verkehr zu ziehen.

Lesen Sie dazu auch die Replik von Elmar Baumann, Geschäfts­führer des Verbandes der Deutschen Biokraftstoff­industrie:

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