Der größte Feind der Natur ist die Klimakrise. Das rufen Erneuerbaren-Verbände regelmäßig den Naturschützern zu, wenn die sich über Windräder im Wald, Ödland unter Solarparks oder Artensterben in vermaisten Landschaften beschweren und auch dagegen klagen.
Der Vorwurf ist wohlfeil. Der Natur ist die Klimakrise am Ende ziemlich egal. Flora und Fauna werden letztlich geschützt, damit die Zivilisation ihre Lebensgrundlagen behält.
Dennoch nagt an den Naturschützern der auch im politischen Raum gern erhobene Vorwurf, sie würden die Energiewende behindern. Letztes Jahr zeigte der Druck Folgen: Mit dem EEG 2023, dem aktuellen Erneuerbare-Energien-Gesetz, steht der Ausbau von Windkraft und Co jetzt in "überragendem öffentlichen Interesse". Windräder können nun auch in Landschaftsschutzgebieten errichtet werden.
Den Booster mit dem überragenden Interesse will FDP-Verkehrsminister Wissing nun auch für den Straßenbau haben. Darüber streiten SPD, Grüne und FDP heute Abend im Koalitionsausschuss.
Höchste Zeit, dass sich auch der Umweltschutz auf die neuen Zeiten einstellt. "Naturschützer stehen häufig mit dem Rücken zur Wand", beschreibt Kai Niebert, Präsident des Umwelt-Dachverbandes DNR, die Lage. "Der Bau von Infrastruktur führt immer zu Eingriffen, eine schon belastete Natur wird noch stärker belastet und ihr Zustand immer schlechter", klagt er.
Auch Olaf Bandt vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) sieht bei den Vorhaben der Bundesregierung die Gefahr, dass sie zu stark zulasten der Biodiversität gehen. Hier müsse es ebenfalls ein "überragendes öffentliches Interesse" bei der Genehmigung gelten, fordert der BUND-Chef. Der Naturschutz leide genauso unter mangelnder Geschwindigkeit bei der Umsetzung seiner Projekte.
Ausbau der grünen Infrastruktur auf Augenhöhe
Niebert, Bandt und drei weitere Spitzenvertreter großer Umweltverbände – Nabu, Greenpeace und WWF – legten dazu am Mittwoch ein achtseitiges Konzeptpapier vor. Titel: "Ein Booster für erneuerbare und grüne Infrastruktur: Wie zwei planetare Krisen gemeinsam schneller lösbar werden".
Der Vorschlag solle einen Paradigmenwechsel einleiten, betont Niebert. "Nachhaltigkeit soll nicht mehr heißen, Schlechtes zu verhindern, sondern Gutes zu tun." Die grüne Infrastruktur sei in einem so schlechten Zustand, dass ein Stopp der Verschlechterung nicht mehr ausreiche. "Wir müssen verbessern", gibt der DNR-Präsident vor.
Kernidee des Papiers ist es, den Ausbau der grünen Infrastruktur auf Augenhöhe mit dem Ausbau der Infrastruktur für die Energiewende zu bringen. "Wir brauchen einen Doppelwumms für die Erneuerbaren und die grüne Infrastruktur", fasst Mitautor Martin Kaiser von Greenpeace die Absicht in sprachlicher Anlehnung an den Kanzler zusammen.
Unter grüner Infrastruktur versteht das Papier dabei ein "strategisch geplantes Netzwerk natürlicher und naturnaher Flächen mit unterschiedlichen Umweltmerkmalen, das mit Blick auf die Bereitstellung eines breiten Spektrums an Ökosystemdienstleistungen angelegt ist."
Dazu zählt besonders die Sicherung der natürlichen Senkenfunktion von Auen, Mooren und Wäldern. Rechtlich soll das überragende öffentliche Interesse für den Schutz der Biodiversität, den natürlichen Klimaschutz und die natürliche Klimaanpassung in den entsprechenden Fachgesetzen verankert werden, schlägt das Papier vor.
Es komme darauf an, erläutert Niebert, die natürlichen Lebensgrundlagen einhergehend mit der erneuerbaren Infrastruktur zu stärken. Daraus könne dann ein Turbo für die Erneuerbaren entstehen.
Planungsbeschleunigung für Erneuerbare und Naturschutz
Für den Turbo sind die Spitzen der Umweltverbände bereit, ziemlich weit zu gehen. So schlagen sie in dem Papier vor, die Bundesländer sollten bereits innerhalb von zwei Jahren die Gebiete für den vorgesehenen Zwei-Prozent-Flächenanteil der Windkraft ausweisen. Hier verlangt die Windkraftbranche selbst nur ein Vorziehen der Ausweisung auf 2027. Gesetzlich liegt das Enddatum erst im Jahr 2032.
Das Kalkül der Umweltschützer ist offensichtlich: Je eher diese Flächen feststehen, desto eher ist auch klar, wo und wie die grüne Infrastruktur verbessert werden kann. "Der Kern der grünen Infrastruktur ist, 30 Prozent der Landesfläche für den Naturschutz zu sichern", zitiert Martin Kaiser aus dem Thesenpapier.
Das Papier knüpft hier ausdrücklich an das kürzlich vereinbarte Kunming-Montreal-Abkommen für Biodiversität an. Damit sollen bis 2030 weltweit 30 Prozent der Land- und Meeresflächen für die biologische Vielfalt gesichert werden. Für die Umwelt-Spitzenleute sind dabei die quantitativen Flächenziele für Wind- und Solarenergie sowie für die grüne Infrastruktur gleichermaßen vorrangig bei der Raumordnung.
In Deutschland komme es besonders darauf an, die Qualität dieser Flächen zu verbessern. Viele Schutzgebiete stünden nur auf dem Papier, betont Kaiser.
Er und die anderen Spitzenfunktionäre wollen dabei auch die Erneuerbaren-Projekte nicht alle über einen Kamm scheren. "Wir stellen fest, dass die Erneuerbaren-Anlagen gar nicht die Hauptursache für Verluste von Arten und Naturraum sind, sondern land- und forstwirtschaftlich intensiv genutzte Landschaften", weist Martin Kaiser auf Unterschiede hin.
Weitere Verursacher seien die extensive Nutzung von Bioenergie sowie der Flächenverbrauch für Siedlungen, Gewerbe und Verkehrswege, allen voran der Straßenbau. "Wir brauchen auch eine Ökologisierung der Land- und Forstwirtschaft, sonst werden wir Natur- und Artenschutz in diesem Land nicht sicherstellen können", pflichtet Nabu-Chef Jörg-Andreas Krüger bei.
Die Forderungen von Verkehrsminister Wissing lehnen die Umweltspitzen klar ab. Er verstehe nicht, wie eine Ampel-Koalition jetzt von einem übergeordneten nationalen Interesse für Autobahn- oder Straßenneubau sprechen könne, betont Krüger. "Das kann es im 21. Jahrhundert nicht mehr sein."
Zum ökologischen auch ein soziales Verbesserungsgebot
Der EU-Notfallverordnung, die den Ausbau der Windkraft auch zulasten des Artenschutzes beschleunigen will, kann BUND-Chef Bandt dagegen sogar Positives abgewinnen. Die Verordnung schreibe zwar vor, zum Ausbau der Erneuerbaren für 18 Monate die Naturschutzrichtlinien teilweise auszusetzen, sie stelle das aber unter die Bedingung, dass die EU-Staaten genügend Flächen und Mittel als Ausgleich zur Verfügung zu stellen, erklärt er.
Die Umweltverbände wollen deswegen die Notfallverordnung so weiterentwickeln, dass auch die Biodiversität etwas davon hat und das EU-Gesetz nicht gegen den Naturschutz angewendet werden kann.
Trotz aller Beschleunigungsabsichten sollen nach dem Willen der Verbandsspitzen demokratische Mitspracherechte nicht eingeschränkt werden. Dem DNR-Chef ist dabei klar, dass es beim Bürgerprotest gegen Erneuerbaren-Projekte häufig gar nicht so sehr um den Naturschutz geht. Tatsächlich ist dieser, weil er sich in einer guten rechtlichen Position befindet, oft nur ein Vehikel.
"Bei vielen Klagen gegen die Windenergie ging es vordergründig um den Naturschutz, aber eigentlich um Fragen der sozialen Akzeptanz", erklärt Niebert entsprechend. Deswegen wolle man neben dem ökologischen auch ein soziales Verbesserungsgebot. "Überall dort, wo Gemeinden Flächen für Erneuerbare schneller ausweisen, sollen sie eine höhere Vergütung bekommen."
Das Papier spricht sich konkret dafür aus, bei Freiflächen-Photovoltaik und Windenergie die bestehende Gemeindeöffnungsklausel um ein soziales Verbesserungsgebot bei der finanziellen Beteiligung an EEG-geförderten Anlagen zu ergänzen. Wenn Kommunen eine beschleunigte Planung zulassen, sollte dies beispielsweise durch eine höhere Vergütung honoriert werden, sodass ein "Fast-Track-Bonus" entsteht.
Ob die Erneuerbaren-Verbände es für nötig halten, so einen Vorschlag aufzugreifen, ist abzuwarten. Mit dem überragenden öffentlichen Interesse hat gerade die Windkraft ein starkes Instrument zum Beschleunigen in der Hand. Daher besteht aus ihrer Sicht im Moment wenig Notwendigkeit zu Zugeständnissen.
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