Deutschland hat ein neues Maß: das LNG-Terminal-Tempo. Zehn Monate hat es letztes Jahr gedauert, um vor Wilhelmshaven einen schwimmenden Flüssigerdgas-Hafen hinzusetzen, ein vermutlich Milliarden Euro teures Terminal.
Die zehn Monate Bauzeit fanden das Lob des Bundeskanzlers. Dies sei jetzt das neue Deutschland-Tempo für Infrastruktur, sagte Olaf Scholz bei der Inbetriebnahme.
Die Sprachregelung verbreitete sich rasend. So schnell müsse jetzt auch der Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommen, bekräftigte SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch im Dezember im Bundestag, als die Koalition im Superschnellverfahren die Strom- und Gaspreisbremse beschloss.
Mierschs Koalitionskollege Daniel Föst von der FDP erkannte im LNG-Terminal sogar ein leuchtendes Beispiel, wie die "Fortschrittskoalition" Geschwindigkeit aufnehme.
Auch für Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena), zeigt Wilhelmshaven, was möglich ist, wenn die Politik in Bund und Ländern, Verwaltung und Wirtschaft an einem Strang zieht. Dies solle zum Vorbild für andere Zukunftsprojekte werden, sagte er.
Für ein weniger bekanntes Zukunftsprojekt könnte das neue Tempo sehr hilfreich sein. Ende März hatte Bundesumweltministerin Steffi Lemke die Eckpunkte eines Aktionsprogramms für natürlichen Klimaschutz vorgestellt. Da geht es um Moorschutz, renaturierte Wälder und Auen oder um grüne "Schwammstädte". Fünf Monate später, Ende August, legte Lemke den Entwurf des Programms vor.
Fehlende Regierungs-Kapazitäten für Klimaschutz
Naturschutz ist hierzulande vor allem Ländersache. Also verhandeln seitdem Bund und Länder über die Förderrichtlinien. Die werden hoffentlich im Frühjahr, vielleicht aber erst im Sommer fertig.
Dann können die Projektträger ihre Anträge stellen. Wann die Klimaprojekte schließlich ihr schützendes Werk aufnehmen, ist fraglich – und bis so ein wiedervernässtes Moor CO2 speichert, vergehen weitere drei bis vier Jahre.
LNG-Tempo auch beim Klimaschutz – das sollen Naturschutzverbände vor einigen Wochen im Kanzleramt bei einem Treffen mit Staatsminister Jörg Kukies angemahnt haben. Kukies, den ein führendes Magazin das "zweite Gehirn" des Bundeskanzlers nannte, habe das unbefriedigende Tempo eingeräumt, war hinterher zu hören.
Es gelinge derzeit nicht, den Klimaschutz in der Regierung ausreichend zu koordinieren, hieß es. Dafür fehle es an Kapazitäten, auch im Kanzleramt.
Dabei könne die "Fortschrittskoalition" durchaus effizient arbeiten, bescheinigt ihr Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe – aber leider nur dann, wenn es um fossile Energien gehe. Umso stärker richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf das neue Jahr. Resch erwartet für 2023 eine Richtungsentscheidung und spricht von einem klimapolitischen "Entscheidungsjahr".
Zumindest die Grünen geloben Besserung. "2023 muss das Jahr des Klimaschutzes werden", forderte Parteichefin Ricarda Lang in der Süddeutschen Zeitung.
Versäumtes beim Klima schwer aufholbar
Das Problem ist nur: Klimapolitisch Versäumtes lässt sich nicht einfach mit mehr Tempo aufholen. Denn mit jeder verpassten CO2-Einsparung schrumpft das noch verfügbare Budget, beschleunigt sich der ohnehin besorgniserregende Erwärmungstrend.
Und die Trends sprechen zurzeit gegen Deutschland. So stieg letztes Jahr zwar der Ökostrom-Anteil auf rekordverdächtige 47 Prozent – dennoch verpasst die Energiewirtschaft ihr CO2-Ziel für 2022. Statt 257 Millionen stieß sie 260 Millionen Tonnen aus.
Das sind doch nur drei Millionen Tonnen, sagen da Leute mit dem Rechenschieber, kaum mehr als ein Prozent. So what?
Die Energiebranche mag es bis 2030 schaffen, ihren CO2-Ausstoß wie im Klimaschutzgesetz vorgesehen auf 108 Millionen Tonnen zu senken – von heute betrachtet auf gut 40 Prozent. Sie fällt aber künftig als Lückenbüßer für andere große Sektoren aus, die ihre CO2-Einsparmengen in den nächsten Jahren eigentlich vervielfachen müssen, wie Industrie und Gebäude, vom Verkehr ganz zu schweigen.
Das absehbare Scheitern beim Verkehr liegt nicht nur am fehlenden Tempolimit. Hier läuft der Klimaschutz grundsätzlich schief, schaut man sich etwa die von der Dena vorgelegte Elektroauto-Bilanz 2022 an.
Neue E-Autos meist Hybride oder SUV
Im letzten Jahr hatten an den neu zugelassenen Autos sogenannte alternative Antriebe schon einen Anteil von mehr als 45 Prozent. Davon wiederum sind aber 40 Prozent E‑Hybride, die einen Verbrennungsmotor mit einer mehr oder weniger wirksamen Batterie kombinieren. Bei den vollelektrischen Autos hingegen fallen 42 Prozent in die SUV‑Klasse.
Das angeblich klimagerechte E‑Auto ist derzeit also meist ein Hybrid oder ein SUV und viel zu oft sogar beides. Der Kauf dieser Fahrzeuge wurde 2022 in Deutschland noch mit über drei Milliarden Euro bezuschusst. Dieses Jahr werden es, wenn die Hybrid-Förderung wegfällt, immer noch zwei Milliarden sein.
Zum Vergleich: Lemkes natürlicher Klimaschutz ist mit vier Milliarden Euro ausgestattet, allerdings für den Zeitraum bis 2026 – also pro Jahr mit nur einer Milliarde, was laut Moorschutzexperten weit hinter dem Notwendigen zurückbleibt. Der Ausbau der deutschen LNG-Infrastruktur soll mehr als sechs Milliarden Euro kosten, dem ersten Terminal sollen zehn weitere bis 2026 folgen.
Fiskalisch ist Klimaschutz nach wie vor ein Randthema. Deutschland gibt nicht nur zu viel Geld für fragwürdige Klimamaßnahmen aus – nach wie leisten wir uns jedes Jahr mehr als 65 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen. Es sei höchste Zeit, sich intensiv ihrem Abbau zu widmen, ließ sich der Präsident des Umweltbundesamtes, Dirk Messner, zum Jahresabschluss 2022 zitieren.
Ob es in diesem Jahr dazu kommt? LNG-Tempo bräuchte es dafür gar nicht so sehr, sondern vor allem einen grundlegenden Kurswechsel in der Klimapolitik.