Beim Gas stellt sich offenbar eine absurde Logik ein: Je mehr Gutachten zeigen, dass die Ampel-Pläne für neue Flüssiggasterminals stark überzogen sind, desto größer werden die Projekte.
Jüngst überraschten der Energiekonzern RWE und das Land Mecklenburg-Vorpommern die Öffentlichkeit mit dem Vorhaben, vor der Insel Rügen, wenige Kilometer von den besten Urlaubsstränden entfernt, eine riesige Bohrinsel-ähnliche feste Anlandestation zu bauen. Das dort per Tanker ankommende Flüssigerdgas (LNG) soll dann über eine knapp 38 Kilometer lange Pipeline in den Hafen von Lubmin verbracht werden.
Dort landen schon jetzt kleinere Zubringerschiffe LNG von einer schwimmenden Plattform an. Weil in Lubmin die jetzt stillgelegten Nord-Stream-Leitungen enden, kann das Gas leicht über vorhandene Gaspipelines verteilt werden.
Das Rügener RWE-Projekt stellt alle bisherigen LNG-Terminals in Deutschland in den Schatten. Vorgesehen ist eine Einspeisekapazität von bis zu 38 Milliarden Kubikmetern Erdgas pro Jahr.
Das geht, wie inzwischen bekannt ist, aus den Antragsunterlagen und dem ersten Bescheid des Bergamts Stralsund zweifelsfrei hervor. Derzeit läuft das Genehmigungsverfahren für den Bau der Pipeline.
"Weder energiewirtschaftlich noch klimapolitisch sinnvoll"
Das RWE-Terminal würde die deutschen LNG-Importkapazitäten vermutlich weit über 80 Milliarden Kubikmeter hinauskatapultieren, die aus bereits laufenden oder geplanten schwimmenden oder festen LNG-Terminals zusammenkommen.
Die Planungen zu den LNG-Terminals seien schon seit einigen Jahren fertig, bislang hätten sich die Investitionen aber nicht gelohnt, betont das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin in einem jetzt veröffentlichten Gutachten.
Angesichts der rückläufigen Bedeutung fossilen Erdgases auf dem Weg zur Klimaneutralität und des damit verbundenen Rückgangs der Erdgasnachfrage ist der Bau weiterer, vor allem fester LNG-Terminals aus Sicht der DIW-Gutachter "weder energiewirtschaftlich noch klimapolitisch sinnvoll".
Zwar sei es im Frühjahr 2022, als die Unsicherheit über die künftige Erdgasversorgung groß war, eine rationale energiepolitische Entscheidung gewesen, sich für den Bau von schwimmenden Flüssiggasterminals einzusetzen, räumt die DIW-Analyse ein.
Die Erdgaswirtschaft habe diese Chance aber zum Bau von Projekten weit jenseits der absehbar sinnvollen Mengen genutzt. "Daher ist es höchste Zeit, die Umwandlung von schwimmenden in feste Terminals zu stoppen und die Verstetigung der LNG-Importe zu verhindern", resümiert das Gutachten.
Energieexperten fordern Denkpause
Im Gegensatz zu den flexibel anmietbaren schwimmenden Terminals haben örtlich gebundene Importterminals an Land eine Lebenszeit von mehreren Jahrzehnten, erläutert das DIW. Diese Zeit gehe deutlich über die Restverweildauer von fossilem Erdgas im deutschen und europäischen Energiesystem hinaus. Die festen LNG-Terminals seien deshalb als künftige Investitionsruinen ("Stranded Assets") anzusehen.
Obwohl aus Russland in diesem Jahr kein Erdgas mehr kommt, rechnen die DIW-Experten für den nächsten Winter nicht mit Gas-Engpässen. Allerdings seien weitere Einsparbemühungen von Industrie und Haushalten wichtig. Allein Haushalte und Gewerbe hätten mit ihrem veränderten Verhalten so viel Gas eingespart, wie 31 LNG-Schiffe zwischen März 2022 und Januar 2023 beigetragen hätten, zieht das DIW-Papier einen Vergleich.
"Das Gutachten des DIW zeigt, dass wir dringend eine Denkpause brauchen", kommentiert Constantin Zerger von der Deutschen Umwelthilfe die DIW-Ergebnisse gegenüber Klimareporter°. "Es darf kein 'Weiter so' bei der Planung immer neuer Kapazitäten geben."
Für Zerger wird immer deutlicher: Nicht nur das Terminal vor Rügen ist überflüssig, auch die festen LNG-Terminals in Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven werden nicht gebraucht. "Und mehr als das: Diese sind eine Gefahr für die Klimaziele", betont der Energieexperte.
Zerger erinnert daran, dass das DIW bereits im April 2022 mit seiner Prognose richtig gelegen habe. Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hatten die Berliner Wissenschaftler eine Bewertung der Gasversorgung veröffentlicht und damals gezeigt, dass sich Deutschland und Europa mit Energiesparen und verfügbarer alternativer Importinfrastruktur von russischen Exporten abkoppeln können.
Bürger und Bürgermeister wehren sich
Gegen das neue Großterminal von RWE formiert sich auch vor Ort Widerstand. Für den Fall des Baus warnen Bürgermeister und Kurchefs der Badeorte Mönchgut, Sellin, Baabe, Göhren und Binz jetzt in einem offenen Brief vor "irreparablen Schäden", die über die Zerstörung des Ökosystems hinausgingen.
Bau und Betrieb von LNG-Terminals seien "extrem klima- und umweltschädlich", betonen sie. Die Insel Rügen genieße in ganz Deutschland eine außergewöhnlich hohe Popularität. Dem Schutz ihrer Ökosysteme müsse höchste Priorität eingeräumt werden.
Angesichts der in Europa bereits verfügbaren LNG-Terminal-Infrastruktur sehen auch die Kommunalpolitiker keine Notwendigkeit, weitere Kapazitäten zu schaffen. Das ebenfalls vorgebrachte Argument, ein weiteres Terminal würde sich positiv auf die Gaspreisbildung in Deutschland auswirken, halten die Bürgermeister und Kurchefs für vorgeschoben. Die Fachwelt weise darauf hin, dass der LNG-Preis sich am Weltmarkt bilde und nicht durch die Anzahl deutscher Terminals.
Laut Presseberichten wären sogar mehrere Flüssiggasterminals vor Rügen möglich. Für den kommenden Sonntag ruft die Bürgerinitiative "Lebenswertes Rügen" die Menschen in Rügen und Vorpommern auf, gegen die LNG-Pläne in der Ostsee zu protestieren. Um 13 Uhr soll es dazu im Ostseebad Baabe eine Demonstration geben.
"Wir erwarten von der Bundes– und Landespolitik, dass die Interessen Rügens und der Bevölkerung ernst genommen werden", umriss Stefanie Dobelstein von der Bürgerinitiative das Ziel des Protests. "Also: Kein LNG vor Rügen – weder im Greifswalder Bodden noch vor den Ostseebädern oder in Sassnitz–Mukran."
Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert vom DIW, Mitautorin des Gutachtens, gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.