Helena Marschall steht in der Menge und hält ein großes Megafon.
Die Klimabewegung muss jetzt Antworten auf die soziale Frage geben – auch auf der Straße. (Foto: Fridays for Future)

Klimareporter°: Herr Toewe, Formulierungen wie "heißer Herbst" und "Wutwinter" sind in aller Munde. Wie blicken Sie auf die möglichen Proteste anlässlich steigender Lebensmittel- und Energiepreise?

Simon Toewe: Es ist das erste Mal seit 2004, dass Sozialproteste von größerem Ausmaß in Deutschland stattfinden könnten. Das finde ich spannend und wichtig. Die Proteste gegen die Agenda 2010 haben damals zu meiner Politisierung beigetragen: Ich habe gemerkt, dass Leute wütend sind und auf die Straße gehen, weil sie plötzlich ihre Einkäufe nicht mehr bezahlen können und sich sozial abgehängt fühlen.

Heute sorgt sich eine Mehrheit in der Gesellschaft um einen ernsthaften ökonomischen Abstieg. "Wutwinter" erscheint mir als Prognose also nicht unrealistisch. Ob es dann auch heiß wird, werden wir sehen.

Wo sehen Sie die Rolle der Klimagerechtigkeitsbewegung in diesen Protesten?

Die Klimabewegung hat momentan ein großes Problem. Sie hat es in den letzten Jahren nicht geschafft, glaubhaft eine Geschichte zu erzählen, die für Menschen unterer Einkommensklassen das Versprechen von mehr Klimaschutz mit dem Versprechen von einem besseren Leben oder besserer sozio-ökonomischer Teilhabe verbindet. Stattdessen geht der Diskurs in die Richtung, dass Klimaschutz zu teuer sei.

Ich habe das Gefühl, die Klimabewegung kann eher nicht an der Spitze der kommenden Proteste stehen, sondern hat die Aufgabe, mitzumachen und dabei eine ökologische Flanke zu schließen.

Momentan wird viel über die mögliche Vereinnahmung der Proteste von rechts diskutiert. Wie können progressive Kräfte hier entgegenwirken?

Eine Lehre aus der Corona-Pandemie und dem Verhalten der gesellschaftlichen Linken darin muss sein, nicht wie die Maus vor der Schlange zu stehen, sondern einen eigenständigen politischen Kompass zu haben. Klar werden die Rechten anti-ökologische Forderungen aufstellen, beispielsweise Nord Stream 2 aufzumachen, und es hier und da sicherlich schaffen, die Proteste zu vereinnahmen. Unsere Aufgabe ist, eine eigene Geschichte zu erzählen.

Welche Geschichte würden Sie denn erzählen?

Für mich spielt die gesellschaftliche Stimmung gegen Energieunternehmen eine große Rolle. Im Augenblick haben wir fünf große Energiekonzerne, die den Markt im Wesentlichen unter sich aufgeteilt haben. Darüber wird plötzlich gesprochen – und das können wir politisieren. Nicht nur im Hinblick auf die Abhängigkeit von fossilen Energien, sondern auch von großen Konzernen. Warum ist das so organisiert, warum machen die überhaupt Gewinn? Bei diesen Fragen würde ich ansetzen.

Klima- und Sozialpolitik werden häufig gegeneinander ausgespielt, jetzt zeigt sich das noch drastischer. So wird als Teil des jüngst angekündigten dritten Entlastungspakets der Bundesregierung auch die Erhöhung des CO2-Preises um ein Jahr verschoben. Ihr Fokus auf Energiekonzerne rückt Fragen von Gerechtigkeit, Umverteilung und Demokratisierung in den Vordergrund.

Ja, ich finde es super, wenn die Klimabewegung sich mehr mit Fragen rund um Eigentum an fossiler Energie beschäftigt. Das Problem ist, dass wir da bisher weitgehend unter uns bleiben. Neulich war ich in Köln bei der "RWE Enteignen"-Demo – das war eine gute Demo, aber es kamen die Leute, die wir auch bei anderen Aktionen sehen.

Porträtaufnahme von Simon Toewe.
Foto: privat

Simon Toewe

ist Aktivist in der Klima­bewegung und Mit­begründer des Movement Hub, einer Platt­form zur Unterstützung sozialer Bewegungen, die sich für Klima­gerechtigkeit einsetzen, durch Trainings, Beratung, Zuschüsse, strategischen Austausch. Das Movement Hub betreibt unter anderem die Seite klimax.online mit Beiträgen zur Strategie­debatte in der Klima­bewegung.

Ich wünsche mir sehr, dass die Klimabewegung einen stärkeren Fokus darauf legt, sich nachbarschaftlich zu vernetzen, sich an Kiez- und Nachbarschaftssammlungen zu beteiligen und Leuten zuzuhören, die am allermeisten unter den Preissteigerungen leiden.

Zwar betreffen die hohen Preise auch Aktivist:innen aus der Klimabewegung, aber eben nicht im gleichen Ausmaß wie die untersten Einkommensgruppen der Gesellschaft, die sich in der Regel nicht durch die Klimabewegung repräsentiert fühlen. In den Mittelpunkt gehören die Geschichten von Menschen, die massiv und am allermeisten von den Preissteigerungen betroffen sind.

Die Klimabewegung braucht also eine andere Erzählung genauso wie eine vielfältigere soziale Basis. Sollten sich auch die Aktionen im Sinne einer "strategischen Eskalation" ändern? Bei Ende Gelände wurde dieses Jahr der Aktionskonsens erstmals um friedliche Sabotage erweitert.

Im Grunde genommen ist das schon länger die Strategie besonders der Anti-Kohle-Bewegung. Ende Gelände war der radikale Flügel, der für Antagonismus gesorgt hat, für spektakuläre Bilder und eine Polarisierung des Diskurses. In diesen geöffneten Diskursraum sind die gemäßigteren Forderungen etwa von Umweltverbänden reingegangen. Diese Taktik hat in Hinblick auf den Kohleausstieg recht gut funktioniert.

Auch die diesjährige Aktion in Hamburg zu LNG-Terminals war ein gutes Lebenszeichen, aber ich glaube immer mehr, dass Ende Gelände inzwischen eine ähnliche Funktion einnimmt, wie es zeitweise der Castor für die Anti-AKW-Bewegung war: ein etwas ritualisiertes Protestevent, bei dem richtig viele Leute aus verschiedenen Bewegungsteilen zusammen kommen und kollektive Energie tanken. Das ist eine total wichtige Funktion, aber die Auswirkungen der Ende-Gelände-Aktion auf den öffentlichen Diskurs um LNG waren nicht so groß.

Spielen jetzt andere Gruppen wie Extinction Rebellion und Letzte Generation eine größere Rolle, wenn es um die Polarisierung des Diskursraums geht?

Bei Extinction Rebellion scheint mir zurzeit eher die Luft raus zu sein. Aber die Letzte Generation scheint tatsächlich gerade die Rolle des radikalen Flügels übernommen zu haben. Ihre Aktionen provozieren extrem und sorgen für Aufmerksamkeit. Nun sagen die einen, dass sie mit ihren Aktionen die Falschen treffen und uns die Polarisierung nicht hilft, und die anderen finden es gut, dass es überhaupt eine Polarisierung im Klimadiskurs gibt.

Ich sehe gerade aber nicht, dass andere da mit gemäßigten Forderungen reingehen, die dadurch letztlich auch legitimer erscheinen. Das fehlt momentan: Eine neue Klimaerzählung, nachdem die alte von Fridays for Future an ihr Ende gekommen scheint.

Fridays for Future ist, ebenso wie andere Akteure der Klimabewegung, nicht zuletzt durch die Pandemie geschwächt. Die Zahl der Ortsgruppen und ihre Mobilisierungsfähigkeit sind zurückgegangen. Doch Sie sprechen auch ein grundsätzliches Problem der Bewegung an.

Der bisherige Ansatz war ja: Wir versuchen so viel wie möglich über Klima zu reden und alle Vierteljahre eine Großdemo zu organisieren, sodass wir zeigen können, wie groß der gesellschaftliche Rückhalt für mehr Klimaschutz ist. Damit hat Fridays for Future ziemlich viel erreicht, nämlich, dass Klimaschutz über einen langen Zeitraum zu einem politischen Thema geworden ist, das einerseits vielen Menschen sehr wichtig war und andererseits häufig debattiert wurde.

Doch jetzt sind die Pandemie und der Krieg die Themen, die viele Menschen als prioritär sehen. Einfach immer weiter auf das Thema Klima zu setzen in der Hoffnung, dass sich was bewegt – damit ist gerade nicht mehr so viel zu gewinnen. Eine ähnliche Situation gab es nach der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009, als die Hoffnung auf ein Kyoto-Nachfolgeprotokoll enttäuscht wurde.

Aber damals ist es der Klimabewegung auch gelungen, sich, wenn nicht aus der Hoffnungslosigkeit, dann zumindest aus der strategischen Orientierungslosigkeit zu befreien, oder?

Ja. Was geholfen hat, war, konkrete Themen zu setzen. Die deutsche Klimabewegung hat sich für Kohle entschieden.

So ähnlich würde ich die Lage gerade auch beurteilen. Mit der großen Klima-Erzählung kommt man nicht weiter, deshalb ist es sinnvoll, zu fokussieren – beispielsweise auf konkrete Energiefirmen und die Frage, warum Energieversorgung privat organisiert ist.

Auch im Bereich Mobilität ist viel möglich. Beim Neun-Euro-Ticket haben wir eine große gesellschaftliche Dynamik gesehen. Zuvor hat die Mobilitätswendebewegung im Dannenröder Wald, aber auch mit den Protesten etwa gegen die IAA in Frankfurt am Main und München an Dynamik gewonnen.

Es überrascht mich, dass Sie das Thema Mobilität gerade als aussichtsreich wahrnehmen. Mit einem FDP-geführten Verkehrsministerium scheinen selbst gesellschaftlich mehrheitsfähige Forderungen wie die Einführung eines Tempolimits oder die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs nicht durchsetzbar.

Das ist ja das Gute: Es gibt einen Antagonismus. Die Herstellung eines Antagonismus ist einer der zentralen Faktoren, damit Bewegungen erfolgreich mobilisieren können.

Aber für die Klimabewegung ist es gerade in vielen Bereichen kompliziert, einen Antagonismus herzustellen, weil politisch herrschende Akteur:innen seit einiger Zeit versuchen, die Klimabewegung zu umarmen. Da wird Fridays for Future gedankt, ja sogar gesagt, dass man sie brauche. Besonders die Ampelkoalition hat von Anfang an versucht, den Eindruck zu erwecken, dass der gesellschaftliche Konflikt, der mit Fridays for Future ums Klima aufgebrochen ist, jetzt erstmal befriedet ist.

Mit Volker Wissing im Verkehrsministerium hat man immerhin jemanden, mit dem man einen Konflikt erzählen kann.

Wenn man einen längeren Zeithorizont wählt, mag das sein. Aber für einen kurzen Zeitraum, etwa für diese Legislaturperiode, sind die Aussichten nicht so rosig. Wirkliche Veränderungen im Verkehrssektor, von ein paar neuen Radwegen abgesehen, scheinen trotz der Dringlichkeit nicht möglich.

Das stimmt, für Zwischenziele auf der realpolitischen Ebene sieht es gerade düster aus. Und vermutlich wäre die Politik eine etwas andere, wenn nicht die FDP das Verkehrsministerium innehätte.

Doch auch mit einer grünen Verkehrsministerin würde sich die grundsätzliche Vormachtstellung des Autos in der deutschen Gesellschaft nicht ändern. Die würde wahrscheinlich auch auf den Antriebswechsel setzen, statt das Mobilitätssystem wirklich zu verändern.

Aber wir müssen weg vom Auto als Zentrum nicht nur dieses Mobilitätssystems, sondern auch des exportorientierten Kapitalismus. Es ist die Aufgabe der Klimabewegung, diesen Konflikt zu entfachen.

Wo Sie die Grünen erwähnt haben – wie blicken Sie auf die Rolle anderer sogenannter realpolitischer Akteure, darunter große Umweltverbände?

Da kommen wir auf den Anfang des Gesprächs zurück: Was braucht es im Kontext der Krisenprotete? Es wäre wünschenswert, dass sich breite linke ökologische Bündnisse bilden, in denen Umwelt- und Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Klimagruppen nebeneinander marschieren.

Es gilt zu vermitteln, dass wir uns klimasoziale Gerechtigkeit nicht nur leisten können, sondern sie unser Leben verbessert. Wir haben dann besseren Zugang zu Mobilität, zu sozialer Infrastruktur, haben effektive Maßnahmen gegen Preissteigerungen auf dem Markt ...

Ich sehe die Rolle von Umweltverbänden darin, dass Umwelt- und Sozialpolitik nicht gegeneinander ausgespielt, sondern breite Bündnisse geschmiedet werden.

 

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