Radfahrerinnen auf einem breiten Radstreifen, etwas weiter daneben eine Straßenbahn.
Keine Kriege, kein Erdöl, keine Klimakrise – utopisch? (Foto: Allapa/​Shutterstock)

Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl und ich haben am 11. März eine Bundestagspetition eingereicht. Mit gut 65.000 Mitzeichnungen erreichte sie am 26. April das nötige Quorum und wird nun am 16. Mai im öffentlichen Petitionsausschuss des Bundestages angehört. Der Titel: "Sofortprogramm für energetische Unabhängigkeit von Russland und Stärkung der Mobilitätswende".

Die Petition fordert unter anderem ein Tempolimit, autofreie Sonntage, ein Verbot von Inlandsflügen, den Ausbau der Fahrradinfrastruktur, die intensivere Nutzung der Schiene, ein Recht auf Homeoffice, ein Ende der Hybridauto-Förderung, Spritpreisunterstützung für öffentliche Mobilität und prekär Verdienende, eine Mobilitätsprämie für alle statt Kaufprämien für Besserverdienende und einen kostenlosen ÖPNV für drei Monate.

Das Besondere dieser Einreichung ist, dass mehrere Anliegen zusammengeführt werden. Die Idee: Ein bisschen runter vom Gas – und damit ist nicht nur das Tempolimit gemeint – hilft zum einen der Ukraine, indem es durch Öleinsparungen Putins Kriegskasse schmälert.

Zum anderen trägt es dazu bei, die Klimakatastrophe abzumildern und sozioökonomische Ungleichheit zu bekämpfen. Drittens, und das sollte nicht vernachlässigt werden, sorgen die Maßnahmen für mehr Sicherheit, Gesundheit und Lebensqualität im öffentlichen Raum.

Keine Panik, die Mobilitätswende – genau wie andere Energiesparmaßnahmen – katapultiert uns nicht in die Steinzeit. Niemand muss kilometerweit zur Arbeit laufen, die Heizung im Winter auslassen, am offenen Feuer kochen oder hungern (außer man lebt in Kriegsgebieten wie in der Ukraine, im Jemen oder in Syrien).

Ganz im Gegenteil, eine Entschleunigung und Entgiftung etablierter Mobilitätspraktiken schafft mehr Lebens- und Gesundheitswohlstand. Nachhaltige Entwicklung war schon immer ein Konzept, das nach vorn gerichtet ist. Wer Steinzeitmetaphern als Gegenargument einbringt, erscheint uninformiert.

In Deutschland zu leben, kann vieles bedeuten

Gehört man jedoch zu Deutschlands "Unterklassen", beispielsweise durch Arbeitslosigkeit oder Geringverdienst, dann ist man bereits jetzt aus vielen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen und andauernden Drangsalierungen ausgesetzt.

Auch Menschen mit internationaler Geschichte fallen häufig darunter. Im Jahr 2020 lag bei ihnen die Armutsgefährdungsquote bei 28 Prozent (ohne deutschen Pass bei 36 Prozent), gegenüber zwölf Prozent bei Personen ohne Einwanderungsgeschichte.

Diesen "Teilen" der Gesellschaft darf eine Mobilitätswende nicht noch mehr abverlangen als ohnehin schon. Vor allem Mobilitätsprämien – wie geförderte ÖPNV- und Bahn-Abos, aber auch E-Lastenräder und E-Bikes – oder gleich ein dauerhaft kostenloser Nahverkehr können sinnvolle Instrumente sein und die ungleichheitsfördernde Verkehrspolitik ablösen, wie sie sich im Dienstwagenprivileg oder in Auto-Kaufprämien für Besserverdienende ausdrückt.

Auch für Menschen mit Behinderung ist das heutige Mobilitätssystem mangelhaft, obwohl die Zahl der entsprechend modernisierten Bahnsteige sowie Bus- und Tram-Zustiege zunimmt. Eine Mobilitätswende braucht angepasste Lösungen. Menschen, die auf Mobilitätsunterstützung angewiesen sind, brauchen Sicherheit durch Ausnahmeregelungen.

Eines der häufigsten Argumente etwa gegen autofreie Sonntage oder mehr ÖPNV-Nutzung ist die schlechte Verbindung von ländlichen in urbane Regionen. Das ist fast immer richtig. In vielen Dörfern gibt es keine Bahnanbindung und die Busse fahren höchstens ein halbes Dutzend Mal am Tag, sonntags kann man dann vergebens auf öffentliche Verkehrsmittel warten.

So richtig diese Feststellung ist, so falsch ist die Folgerung, deshalb auf die Mobilitätswende zu verzichten. Regeln haben immer Ausnahmen. So ist die zuständige Verwaltung angehalten, entsprechende Strukturen bereitzustellen, zum Beispiel durch Reaktivierung stillgelegter Bahnlinien oder Verdichtung bei Land- und Rufbussen. Andere Möglichkeiten sind Sammeltaxis oder Überland-Radwege.

Der Wille des (informierten) Souveräns

Die Ampel-Regierung ist nun ein gutes halbes Jahr im Amt. Die im Koalitionsvertrag angekündigten ausgelosten Bürgerräte sollen jetzt zum anerkannten Politikinstrument in der Bundespolitik werden. Der Bundestags-Ältestenrat hat entsprechende Ausschreibungen beschlossen.

Das ist gut so. Bürger:innenräte haben viel demokratisches Potenzial und können die Regierenden bei schwierigen und oft unliebsamen Entscheidungen entlasten. Der im vergangenen Jahr von zivilgesellschaftlichen Organisationen durchgeführte "Bürgerrat Klima" hat gezeigt, dass umfänglich informierte Bürger:innen, denen Zeit und Raum für Aushandlungsprozesse gegeben und aufmerksam zugehört wird, weitreichende Entscheidungen treffen können.

Die dort beschlossenen Empfehlungen zur Mobilität beinhalten zahlreiche Punkte, die sich auch in der Bundestagspetition wiederfinden: Tempolimit, Ausbau des Schienennetzes und höhere Auslastung durch Personen- und Güterverkehr, deutliche Vergünstigung des ÖPNV, Recht auf Homeoffice, Förderung von E-Bikes, massiver Ausbau der Fahrradinfrastruktur.

Vieles davon ist nicht neu und die positive Resonanz in der Zivilgesellschaft ist bereits belegt. In einer repräsentativen Umfrage wurde im Nachgang an den Klimarat die Zustimmung in der Bevölkerung erhoben: Nicht weniger als 80 Prozent der Befragten stimmten den Empfehlungen zu.

Es ist wichtig, dass die Bürger:innenräte eingeführt werden und die Gesellschaft am politischen Willensbildungsprozess direkt beteiligt wird. Allerdings gibt es für die genannten Maßnahmen schon heute eine breite gesellschaftliche Zustimmung. Eine Politik, die den Zeichen der Zeit und sich selbst nicht im Weg stehen will, müsste also die in der Petition geforderten Maßnahmen umgehend beschließen.

Bringt das wirklich etwas?

Bereits die Hälfte der Maßnahmen aus der Bundestagspetition (eine ähnliche Liste mit ausführlichen Erläuterungen ist bei Greenpeace einzusehen) dürfte bis zu zwölf Prozent der deutschen Ölimporte ausmachen. Das ist die Menge, die Deutschland aktuell noch vom Diktator Putin bezieht.

Derzeit zeichnet sich ab, dass die EU, und damit auch Deutschland, in naher Zukunft ein Ölembargo gegenüber Russland verhängen wird. Dies könnte dazu einladen, die Forderungen als obsolet anzusehen. Doch das ist zu kurz gedacht.

Das Ölembargo gegen Russland – bei gleichzeitig ausbleibenden Sparmaßnahmen in Industrie und Gesellschaft – führt zu neuen Abhängigkeiten und auf Jahrzehnte bindenden Verträgen.

Gleichzeitig rasen wir mit ungehemmter Geschwindigkeit in eine unumkehrbare Klimakatastrophe, deren globale Ausmaße schreckliches Leid mit sich bringen werden. Mit der Umsetzung der Petition ließen sich weit mehr als 30 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen. Das sind etwa vier Prozent des gesamten Emissionen Deutschlands.

Die Möglichkeit einer lebenswerten Zukunft ist zwingend an die Freiheit von fossilen Energien gebunden. Das sollte mittlerweile allen einleuchten.

Dabei geht es nicht nur um das Klima. Allein die Verminderung von Abgasen und Feinstaub wird zu einem Rückgang von Lungenerkrankungen und damit verbundenen Todesfällen führen. Immerhin sterben in Deutschland jährlich mehr als 120.000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung, mehr als im europäischen Durchschnitt.

Langsamer fahrende und deutlich weniger Kraftfahrzeuge auf den Straßen würden auch die Zahl der Verkehrstoten und Verletzten signifikant senken.

Die Verminderung von Autolärm würde zahlreichen Krankheiten vorbeugen. Allein unter nächtlichem Verkehrslärm leiden in Deutschland fast elf Millionen Menschen. "Neben Lärmbelästigung, Schlafstörungen und Beeinträchtigungen in der kognitiven Entwicklung kann eine andauernde langjährige Geräuschbelastung unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Folge haben und Depressionen begünstigen", heißt es in einer Studie des Robert-Koch-Instituts.

Eine paradiesische Utopie? Eigentlich ganz einfach!

Zu guter Letzt braucht es ein bisschen Fantasie, um sich auszumalen, wie eine Stadt mit viel weniger Autos und Flugzeugen aussehen kann.

Tino Pfaff
Foto: XR

Tino Pfaff

Der Sozial­arbeiter, Sozial­pädagoge und Umwelt­aktivist war zwei Jahre Sprecher von Extinction Rebellion Deutsch­land. Zurzeit studiert er Gesellschafts­theorie an der FSU Jena. Außerdem ist er als Herausgeber tätig.

Riesige, mehrspurige Straßen würden der Vergangenheit angehören, es würde viel mehr Grün geben, Betonwüsten würden verschwinden, das mancherorts verstummte Vogelzwitschern würde zurückkehren. Schatten spendende Bäume würden für ein milderes Klima sorgen.

In großen Städten kann der Temperaturunterschied gegenüber dem Umland bis zu zehn Grad betragen. Die Zahl der Hitzetoten im Hitzesommer 2018 lag bei über 20.000, nur China und Indien mit ihrer um ein Vielfaches größeren Bevölkerung verzeichneten mehr Fälle.

Beispiele wie Barcelona und Ljubljana zeigen, dass die Lebensqualität deutlich steigt, wenn der motorisierte Verkehr in den Städten abnimmt. Das Leben kehrt auf die Straßen zurück, öffentliche Plätze werden neu belebt und sogar der Einzelhandel profitiert.

Sich auf Veränderungen freuen, statt im Alten zu verharren

Vom Schreckgespenst des Wohlstandverlusts bleibt in der Realität nichts übrig. Im Gegenteil: Wie ein Kind auf seinen Geburtstag freue ich mich, wenn ich mir vorstelle, wie viel angenehmer und ungefährlicher das öffentliche Leben sein könnte.

Dass ich im Winter durch die Stadt gehen kann, ohne dass mir von den Abgasen übel wird. Dass ich morgens nicht vom Verkehrslärm geweckt werde. Dass die Straßen voller Grün sind und voller gelassen wirkender Menschen – statt voller Motorenlärm und gehetzt Dahineilender.

Eine Mobilitätswende kann wirklich die Welt verändern. Sie nimmt Konflikten und Kriegen um Macht und Ressourcen, geführt mit Macht und Ressourcen, zumindest in Teilen die Grundlage. Sie spart Ressourcen und wirkt dadurch Menschenrechtsverletzungen und dem ökologischen Kollaps entgegen. 

Sie macht uns viel unabhängiger als eine Sprit, Steuern und Reparaturkosten schluckende Blechkiste, die 23 Stunden des Tages im Stillstand verbringt. Sie kann uns von chronischen Krankheiten, dem Dauerzwang zur Beschleunigung und der Naturentfremdung befreien.

Lasst uns unsere Städte und Dörfer beleben, statt Betonwüsten aus ihnen zu machen.

Wenn das Ende krankmachender fossiler Mobilität, ein erträgliches Klima und die Vermeidung von Kriegen nicht überzeugend genug sind, dann ist es vielleicht die Aussicht auf ein gesünderes und risikoärmeres Leben. Vielleicht überzeugt dies ja die Neoliberalen. Ganz im Sinne des selbstbezogenen Freiheitsparadigmas.

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