Wer sich Anfang 2023 Strom liefern lassen will, muss derzeit besonders tief in die Tasche greifen. Die Megawattstunde – das sind eintausend Kilowattstunden – kostet derzeit teilweise mehr als 1.000 Euro.
Wer sich für die kommenden Tage an der Börse mit Strom eindecken will, muss um die 650 Euro für die Megawattstunde zahlen. Zu Jahresanfang waren es noch weniger als 150 Euro gewesen.
Natürlich: An der Börse werden Erwartungen gehandelt. Niemand weiß wirklich, was der Strom in den kommenden Wochen oder gar Jahren kosten wird. Dazu gibt es zu viele Unbekannte.
Wird das Gas wegen des Krieges noch immer so teuer bleiben? Werden die französischen Atomkraftwerke bald wieder wenigstens genug Wasser zum Kühlen haben? Werden die Winde in deutschen Landen so schwach wehen wie 2021, wo das Aufkommen an Windstrom ein Viertel unter dem langjährigen Schnitt lag?
Und vor allem: Wird der Winter kalt? Auch so etwas kann es ja – Klimawandel hin, Klimawandel her – in Mitteleuropa noch geben. Ein milder Winter ist bekanntlich das beste Anti-Putin-Mittel.
Trotz all der Unbekannten steigt der Strompreis ins Uferlose. Da sind offenbar vor allem Leute am Werk, die den Markt ein wenig leer kaufen und darauf spekulieren, den Strom dann in der kommenden kalten und dunklen Zeit teurer weiterverkaufen zu können.
Zeitlicher Marker für die Spekulation ist die Gaskrise. Die soll nach Maßgabe der Ampel-Regierung ja etwa maximal bis zum Winterende 2024 dauern. Dann soll genug Ersatz für das russische Gas da sein. Und wenig überraschend brechen die Preise an der Strombörse dann auch ein. An der Leipziger EEX kostet die Megawattstunde, geliefert im Frühjahr 2024, derzeit weniger als 300 Euro.
Die ganze Entwicklung riecht förmlich danach, dass jetzt vor allem auch riesige Spekulationsgewinne eingefahren werden sollen. Darin ist dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) recht zu geben.
Der Staat müsse schnell und konsequent einschreiten, forderte Weil am Sonntag. Vor allem hält er eine Anpassung der Regeln der Strombörse für notwendig. Nicht die günstigsten Anbieter bestimmten dort den Preis, sondern die höchsten akzeptierten Angebote. Wenn eine kurzfristige Änderung nicht möglich sei, will Weil "auch ein Aussetzen des Stromhandels" in Betracht ziehen.
Auch das Wirtschaftsministerium scheint alarmiert. Es ließ am Montagabend schon mal ein paar Vorschläge testweise in die Öffentlichkeit streuen, was es gegen die Strompreisexplosion zu tun gedenke. Darunter sind, wie in einem Nachrichtenmagazin zu lesen ist, eher fiskalische Instrumente wie ein subventionierter Grundverbrauch oder die Allzweckwaffe Übergewinnsteuer.
Im Gespräch soll aber auch das sogenannte griechische Modell sein. Dabei soll der Strommarkt aufgeteilt werden, einerseits in nukleare und erneuerbare und andererseits in fossile Erzeugungsarten.
Im Strommarkt wedelt der Schwanz mit dem Hund
Die Strombörse spiegelt dabei noch nicht einmal den ganzen spekulativen Wahnsinn wider. Ein Großteil des Geschäfts wird in zweiseitigen sogenannten Over-the-Counter-Geschäften abgewickelt. Was dort an Strommengen und Preisen über den Tisch geht, erfährt die Öffentlichkeit so gut wie nicht.
Der Strommarkt ist eine Black Box – und das bei einem Produkt, das nicht nur ganz zentral für das Funktionieren der modernen Gesellschaft ist, sondern das dazu noch äußerst leichtverderblich ist und nur mit enormem Aufwand und unter Verlusten gespeichert werden kann.
Das hindert die Händler aber nicht daran, Strommengen in und zwischen sogenannten Bilanzkreisen hin- und herzuschieben, sich ganze Kraftwerksleistungen zu sichern – oder auch nicht, wenn man sich davon Gewinne verspricht.
Selbst große Stromerzeuger kaufen Strom von Dritten ein, wenn er billiger ist als die eigene Erzeugung, um ihre Lieferzusagen einzuhalten.
Und am Ende ist der ganze Stromhandel eigentlich nur ein virtueller. Beim Strom kann man gern ein supergrünes oder, wenn man es für sinnvoll hält, ein atomar-fossiles Produkt kaufen – man wird immer den Strom bekommen, der in der nächstgelegenen Erzeugungsanlage produziert wird. Das ist Physik.
Und weil der Strom der Physik folgt, müssen allem Handel zum Trotz am Ende Bedarf und Angebot so ziemlich genau auf die Kilowattstunde ausgeglichen sein und auch die wichtige Frequenz von 50 Hertz muss eingehalten werden.
Dazu gibt es wieder Händler, die auf die Minute genau Strommengen zum Ausgleich anbieten. Und manchmal ist es den Jongleuren am Strommarkt zu teuer, diese flexible Leistung einzukaufen – oder sie haben sich einfach verspekuliert.
Beim Strommarkt wedelt der virtuelle Schwanz mit dem realen Hund. Die Macht der Händler ist so groß, dass sogar, wie verschiedene Fälle schon gezeigt haben, Blackouts nicht ausgeschlossen sind.
Die Macht des letzten Kraftwerks
Aus dem Börsenmechanismus erklärt sich letztlich auch die Macht der sogenannten Merit Order, die Macht des letzten Kraftwerks, das noch gebraucht wird, um zu jeder Zeit die Stromnachfrage möglichst genau abzudecken.
Die Kosten dieses Kraftwerks – zurzeit sind es eben meist teure Gasanlagen – können sich dabei auch alle anderen Kraftwerke gutschreiben lassen. Denn jedes einzelne wird gebraucht, um den Strombedarf frequenzstabil zu decken. Da darf keines fehlen, und weil alle gleichermaßen gebraucht werden, hat ihr Strom denselben "Wert" und sie können dann auch den Preis des teuersten Kraftwerks verlangen – so ist die Marktlogik.
Diese Macht des letzten Kraftwerks ist letztlich eine Folge der Liberalisierung des Strommarkts kurz vor der Jahrtausendwende. Denn an der Börse zählt am Ende nur der Preis des Produkts. Die Strommengen werden dort so lange in der Rangfolge des Preises abgerufen, bis Bedarf und Angebot deckungsgleich sind – ob der Strom beispielsweise grau, grün oder rot ist, ist der Börse ziemlich egal.
Den Stromhandel auszusetzen, kann deswegen nur ein erster Schritt sein, um das Stromsystem völlig neu zu designen. Der nächste wäre, die Strombörse in ihrer bisherigen Logik abzuschaffen.
Das entsprechende politische Vorhaben gibt es eigentlich auch schon. Die Ampel-Regierung will, so nennt sie es, ein "klimaneutrales Stromsystem" schaffen.
Dazu würde beispielsweise gehören, endlich eine regionale Grünstromvermarktung zu ermöglichen. Ökostrom könnte auf dem kürzesten Weg vom Erzeuger zum Verbraucher geliefert werden. Dieses Prinzip würde in den Netzen den Vorrang bekommen und nicht die preisgetriebene Merit-Order.
So einen Liefervorrang für Ökostrom gab es schon mal in Deutschland und das Stromsystem war keinen Deut instabiler. Weil das aber der Stromwirtschaft und den Netzbetreibern die Vermarktung ihres atomar-fossilen Stroms erschwerte, führte die Bundesregierung ab 2010 den Zwang ein, den übers Erneuerbare-Energien-Gesetz geförderten Ökostrom nur noch über die Strombörse zu vermarkten. Das gilt bis heute.
So eine verbrauchsnahe und direkte Vermarktung von echtem Ökostrom würde es übrigens auch erleichtern, die Kostenvorteile der erneuerbaren Energien an die Verbraucher weiterzugeben.
Denn derzeit verschwinden die Extragewinne, die unter anderem alte Wind- und Solaranlagen einfahren, auch in den Taschen all der Händler, die den Strom von den Produzenten "einsammeln" und an die Börse "bringen" und von da auch wieder "verteilen".
Börse und preiswerter Ökostrom – das passt eben nicht zusammen. Der Strommarkt muss wenigstens, wie es zum Beispiel das griechische Modell vorsieht, geteilt werden. Alles andere ist wirkungsloses Flickwerk.