Autofreier Stadtverkehr am Rotterdamer Hauptbahnhof
Am Rotterdamer Hauptbahnhof: Autofreien Stadtverkehr gibt es schon hier und da, aber noch nicht genug. (Foto: Jurriaan Snikkers/​Unsplash)

Soziale Kämpfe brauchen Slogans, Slogans brauchen Polemik und Polemik ist ein probates Mittel, um reale Missstände sichtbar zu machen. Das hatte einst auch schon Adorno erkannt.

Das Schlagwort von der "autofreien Innenstadt" suggeriert einen Absolutismus, der nie gemeint war und auch nicht umsetzbar ist. Eine Innenstadt kann nie ganz autofrei sein, eine Stadt als Ganzes schon gar nicht.

Worum es eigentlich geht, sind autoarme Städte. Das bedeutet, unnötige und sinnlose Individualmobilität, die Schäden für andere, für Umwelt und Klima nach sich zieht, zu minimieren oder abzuschaffen.

Eine gesunde Person, deren Arbeitsstätte mit dem ÖPNV oder Fahrrad erreichbar ist, die keine körperlichen Eigenschaften hat, die Mobilität ohne Hilfsmittel erschweren, und keinen Beruf, der ein Auto unbedingt verlangt, braucht kein eigenes.

Würde allein diese Erkenntnis in die Praxis umgesetzt, würden umgehend mehrere Millionen Privat-Pkw von den Straßen verschwinden.

Gäbe es darüber hinaus noch eine ÖPNV-Revolution in Deutschland, dann blieben von den über 40 Millionen Privatautos wohl nur noch wenige Millionen übrig.

Todbringende, krankmachende Straßen

Weniger Privatautos würden mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer:innen mit sich bringen. Pkws erreichen mittlerweile absurde Größen und Geschwindigkeiten und werden so zu potenziell tödlichen Geschossen.

2021 gab es allein in Deutschland 327.550 Verletzte durch Verkehrsunfälle, trotz pandemiebedingter eingeschränkter Automobilität. Unter den Opfern waren 22.272 Kinder. Es starben 2.562 Menschen. Das sind sieben Menschenleben täglich.

Die Zahlen sinken seit Jahren. Das liegt aber nicht an mehr Sicherheit für jene außerhalb des Autos, sondern an besserer medizinischer Versorgung und der Einführung von Sicherheitsassistenzsystemen im Auto.

In Deutschland sterben außerdem jährlich 13.000 Menschen vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung aus dem Autoverkehr.

Ein weiteres Problem ist die Lärmverschmutzung. Elf Millionen Menschen werden dadurch stark belastet. Eine Studie des Robert-Koch-Instituts stellt klar: "Neben Lärmbelästigung, Schlafstörungen und Beeinträchtigungen in der kognitiven Entwicklung kann eine andauernde langjährige Geräuschbelastung unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Folge haben und Depressionen begünstigen."

Die Antriebswende ändert wenig

Natürlich ist es ein Unterschied, ob auf den Straßen Verbrennungsmotoren oder Elektroantriebe unterwegs sind. Das Verschwinden der giftigen Abgase wird das Wohlbefinden in den Städten erhöhen und die Gesundheitsgefährdung enorm verringern.

Allerdings sind auch Elektroautos nicht ganz frei von Schadstoffemissionen und bleiben eine Feinstaubquelle. Das gilt besonders für die Autoreifen als größte Mikroplastik-Quelle. Und vor allem bleibt es bei der Freisetzung von schädlichen Stoffen bei der Produktion der Fahrzeuge, wie das Bundesumweltministerium feststellt.

Auch andere Probleme bleiben: die Gefährlichkeit für andere Verkehrsteilnehmer:innen, die Zerstörung und Vergiftung von Ökosystemen, die Ausbeutung und gesundheitliche Schädigung von Menschen bei der Ressourcengewinnung, ganz besonders von Kindern.

Und den Betonwüsten in den Städten wird weiterhin ein Existenzrecht zugeschrieben.

Die Antriebswende ist ein notwendiger Teil der Verkehrswende. Das Mark dieser strukturellen Transformation bleibt dennoch die Mobilitätswende. Schließlich wäre es wissenschaftlich höchst fragwürdig, 48,5 Millionen Autos auf deutschen Straßen einfach mit anderem Antrieb weiterfahren zu lassen, während die menschengemachte Klimaerhitzung weiter Fahrt aufnimmt.

Wohltuendes Stadtleben

Dabei könnten Verkehrsmittel in der Stadt ganz anders aussehen – kleiner, leichter, sauberer, ungefährlicher. 

Ein Vater steht mit seinem Lastenfahrrad an einer ampelfreien Kreuzung, vor ihm in der Schale sitzen seine zwei Kinder. Sie spielen Schnick, Schnack, Schnuck und sind auf dem Weg in die Schule. Sie warten, bis sie Vorfahrt haben.

An ihnen vorbei über die Kreuzung fährt eine vierköpfige Familie in einem Velocar. Den Elektroantrieb ausgeschaltet, treten sie alle gemeinsam. Hinter ihnen ein Elektro-Linienbus im Kleinformat, denn der städtische ÖPNV ist nun flexibler gestaltet und braucht keine Kolosse mehr.

Über Zebrastreifen, die es alle 200 Meter in jeder Straße gibt, schiebt jemand einen Handwagen vor sich her, gefüllt mit dem Einkauf für die kommende Woche. Auch eine Kiste für die Nachbarin, die nicht mehr so gut zu Fuß ist, ist dabei.

Die Straßenverläufe bestehen aus einer Fahrspur – stets als Einbahnstraße – für Lieferverkehr, Einsatzfahrzeuge und sonstige kritische Infrastrukturen. 80 Prozent der Straße gehören den Fußgänger:innen, Fahrrädern und Leichtfahrzeugen. 

Es ist auch genug Platz für Sitzgelegenheiten, Hochbeete, Bäume oder spielende Kinder. Das Stadtklima hat sich nicht nur optisch, sondern auch klimatisch verbessert.

Abkehr von Statussymbolen, Neid und Egalismus

Damit Derartiges möglich wird, braucht es eine Abkehr von drei Dingen: Statussymbole, Neid und Egalismus.

Das Auto als Statussymbol muss dringend abgelöst werden. Nicht aus Missgunst Einzelnen gegenüber, sondern weil der Besitz eines Privatautos nachweislich zu oft völlig unverhältnismäßig ist.

Ganz besonders in einer Welt, die sich mindestens in den kommenden vier Jahrzehnten weiter erhitzen wird und in der die planetaren Ökosysteme am Rand ihrer Belastungsgrenzen sind.

Neben dem Statussymbol spielt auch Neid oder Missgunst anderen gegenüber eine große Rolle.

Klar, es wird Menschen geben, die noch in 30 Jahren Auto fahren. Schließlich muss die kritische Infrastruktur am Laufen gehalten werden, ob Energie, Ernährung, Gesundheit, Medien und Kultur, Staat und Verwaltung, Transport und Verkehr oder Wasser.

Es ist okay, dass Freunde und Familie auf dem Land Autos besitzen, um zur Arbeit zu kommen, dass die befreundete Dachdeckerin einen Transporter fährt, um ihr Material zu transportieren, oder der Bauer am Stadtrand mit dem Traktor über den Acker fährt.

Tino Pfaff
Foto: privat

Tino Pfaff

ist Umwelt­aktivist. Nach einem Studium der Sozialen Arbeit studiert er zurzeit Gesellschafts­theorie an der Universität Jena. Außerdem ist er als Herausgeber tätig.

Doch ich benötige kein Auto und bin deswegen nicht neidisch. Im Gegenteil, ich bin dankbar, dass das Dach, unter dem ich wohne, dicht ist, dass ich Essen auf dem Teller habe – oder vom Bahnhof abgeholt werde, um Freunde und Familie auf dem Land zu besuchen, wo sonntags keine Busse fahren.

Von Statussymbolen und Neid wegzukommen ist vor allem dann möglich, wenn wir eines tun: Wir müssen unseren je eigenen Egalismus in die Flucht schlagen.

Wir müssen aufhören, in der Lethargie eines "Ist mir egal" zu verharren, sei er nun genährt durch Uninformiertheit, Verlustangst oder Ignoranz.

Unsere tagtäglich gelebte Selbstzerstörung fußt auf einem Fundament, das weit über den jeweils eigenen Egoismus hinausgeht. Der Egoismus beruht auf der fixen Idee, zu wenig abzubekommen. Doch der Egalismus, der uns nicht erkennen lässt, wie absurd die Debatten sind, die wir führen, während Menschen in Kriegen getötet werden und vor menschengemachten Naturkatastrophen in die Knie gehen, ist etwas ganz anderes.