Leerer Regionalzugwagen am nächtlichen Bahnsteig, die fenster leuchten geheimnisvoll blau.
Nie wieder leere Regionalzüge. (Foto: Bonoc/​Shutterstock)

Wo er recht hat, da hat er recht. "Eine der besten Ideen, die wir hatten." Das sagte Kanzler Olaf Scholz über das Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, das in ein paar Tagen, Ende August, ausläuft.

Drei Monate lang konnten die Bürgerinnen und Bürger fast umsonst bundesweit Bus und Bahn fahren, und unerwartet viele nutzten das Angebot. Mehr als 38 Millionen Tickets wurden in dem Vierteljahr verkauft.

Pessimisten wurden eines Besseren belehrt. Das supergünstige Flatrate-Ticket führte dazu, dass der ÖPNV den Absturz durch die Corona-Krise endgültig hinter sich ließ. 

Hauptziel der Neun-Euro-Aktion, eine Idee der Grünen in der Berliner Ampel, war es gewesen, "Öffi"-nutzende Bürgerinnen und Bürger finanziell zu entlasten, analog zum Tankrabatt, dem Herzensprojekt der Besserverdienenden-FDP.

Das hat funktioniert. Gerade ärmere Haushalte und Familien, die wegen der galoppierenden Inflation jeden Euro zweimal umdrehen müssen, wurden in die Lage versetzt, Ausflüge zu machen oder Freunde anderswo zu besuchen.

Monatskarten-Besitzer sparten drei Monate lang ordentlich Geld, weil statt der üblichen hohen Kosten eben nur neun Euro anfielen. Und, nicht zu unterschätzen: Drei Monate lang konnten die Nutzer das abschreckend komplizierte Tarifwesen vergessen, mit dem die Verkehrsunternehmen sonst ihre Kunden quälen.

Die Forderungen, das Neun-Euro-Ticket zu verlängern, werden immer lauter. Oder zumindest eine Nachfolgeregelung einzuführen, die deutlich preiswerter als die bisherigen Angebote ist, ein 29-Euro-Monatsticket oder ein 365-Euro-Jahresticket zum Beispiel.

Am Samstag finden in vielen Städten Demos dazu statt, und es wurde eine Petition gestartet, die binnen kurzer Zeit bereits mehrere hunderttausend Unterstützer gefunden hat.

Diese Forderungen sind genau richtig, denn das Neun-Euro-Ticket wirkt direkt und zielgenau. Die Entlastung ist sofort im Portemonnaie zu spüren, und sie kommt gerade bei den an, die es am nötigsten haben. In den Bussen und Bahnen sitzen ja meist nicht die gutbetuchten Zweitwagenbesitzer, die trotz der hohen Spritpreise die eigenen vier Räder bevorzugen.

Positives Image von Bahn und Bus

SPD und Grüne wollen den Neun-Euro-Nachfolger. Und wohl auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing. Er, der der PS-Partei FDP angehört, hat sich zumindest als Fan des Neun-Euro-Tickets geoutet.

Trotzdem kriegt die Ampel die Kurve offenbar nicht. Denn Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner lehnt eine weitere Finanzierung des ÖPNV-Boosters ab. Er wirft den Nutzern eine "Gratismentalität" vor, die der Staat nicht befördern dürfte.

Er kritisiert, das Ticket sei "unfair", weil Menschen auf dem Land ohne vernünftige Bus- und Bahn-Anbindung gegenüber den Städtern benachteiligt seien. Und er hält es für "unökologisch", weil es keine Massenverlagerung vom Auto in Bahn und Bus gegeben hat. 

Das Problem bei diesen Contra-Argumenten: Ein klein bisschen was ist jeweils dran. Nur: Insgesamt verfehlt Lindner das Thema. Denn neben der finanziellen Entlastung gerade der ärmeren Haushalte auch im Verkehrsbereich geht es nun darum, das durch die Neun-Euro-Flatrate ausgelöste positive Image der "Öffis" für die Verkehrswende zu nutzen, die bisher auch unter der Ampel nicht in Gang gekommen ist.

Wie überfällig dieser Umbau ist, haben die Regierung und speziell das Wissing-Ressort gerade attestiert bekommen. Der vom Bund eingesetzte "Expertenrat für Klimafragen" hält die bisherigen Maßnahmen zum CO2-Sparen in dem Sektor für völlig unzureichend.

Schlechter kann eine Bewertung kaum ausfallen: Die Expert:innen fanden das von Wissing vorgelegte "Sofortprogramm" für den Verkehr so unterirdisch, dass sie sich erst gar nicht im Detail damit befassten. Also: Setzen, sechs. Versetzung gefährdet.

Viel Geld für den falschen Verkehr

Man kann es auch so sagen: Im Verkehrssektor braucht es eine radikale Kehrtwende. Der Expertenrat geht davon aus, dass das noch ausstehende übergreifende Klima-Sofortprogramm 2022 der Ampel das nun endlich liefert. Ein zentraler Punkt dabei muss eine Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Verkehrs sein, die weit über die halbherzigen Projekte in den letzten Jahren hinausgeht.

Dazu gehört neben einer günstigen bundesweiten Flatrate natürlich auch ein forcierter Ausbau des Angebots, das heißt: neue Schienenstrecken, neue Buslinien, gerade auch auf dem Land, dazu mehr Verbindungen, mehr Fahrzeuge, gute Anschluss-Sicherheit, also: ein reibungsloser Haus-zu-Haus-Verkehr. Diese Voraussetzungen müssen Zug um Zug erfüllt werden, damit der von allen Parteien geforderte Umstieg für die Bürger:innen auch attraktiv, praktisch und komfortabel wird.

Das kostet, da hat Lindner übrigens ganz recht, Geld. Viel Geld. Aber das lässt sich auftreiben – durch ein sukzessives Umschichten von Subventionen und Steuervorteilen, die bisher den Autofahrern zugutekommen, hin zum öffentlichen Verkehr. Stichworte: Dienstwagenbesteuerung, Dieselsubvention. Das würde die Milliarden freimachen, die nötig sind.

Übrigens: 85 Prozent der Bürger wünschen sich laut einer Umfrage ein dauerhaft günstiges ÖPNV-Angebot. Und mehr als die Hälfte der FDP-Wähler hat das Neun-Euro-Ticket genutzt.

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