Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, beim Petersberger Klimadialog Anfang der Woche hat sich Angela Merkel dafür ausgesprochen, das Klimaziel der EU für 2030 zu erhöhen und Konjunkturprogramme für die Corona-gebeutelte Wirtschaft am Klimaschutz zu orientieren. Sind Sie als Klimaforscher zufrieden damit, was das politische Treffen gebracht hat?
Hartmut Graßl: In diesem Jahr wird es keine Vertragsstaatenkonferenz zur UN-Klimakonvention geben, weil die für den Spätherbst in Glasgow geplante Konferenz wegen der Coronakrise ins nächste Jahr verschoben wurde. Deshalb ist der von Deutschland als Videokonferenz organisierte Petersberger Klimadialog von insgesamt 30 Ländern wahrscheinlich die wichtigste Veranstaltung zum Klimaschutz in diesem Jahr gewesen.
Das wichtigste Ergebnis ist für mich, dass Deutschland die verschärfte Zielmarke für die Europäische Union akzeptiert – öffentlich gemacht beim Klimadialog durch unsere Kanzlerin: Bis 2030 sollen die Emissionen in der EU im Vergleich zu 1990 um 50 bis 55 Prozent sinken.
Damit ist in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – ausgelöst durch die Sars-Cov-2-Pandemie – der Kompass für die bald nötigen Konjunkturprogramme eingestellt: Der European Green Deal muss dadurch angeschoben werden.
Gift dafür wären erstens eine Kaufprämie für alte und große "Stinker", also Diesel- und Benzin-Autos mit hohem Hubraum, zweitens die Inbetriebnahme auch noch so effizienter schon gebauter Kohlekraftwerke, drittens die Rettung von Firmen ohne eine vereinbarte Verpflichtung zu ökologisch-sozialen Strukturänderungen und viertens der Weiterbetrieb alter Energiefresser – Stahlwerke, Aluminiumhütten, Chemie- und Rohstoffindustrie – ohne klare Restrukturierungspläne bis 2030 und 2050.
Die Regierung sollte auf die Zwei-Grad-Firmen setzen und die ewigen Bremser in Teilen des BDI mit dem Lockvogel konditioniertes Geld umstimmen.
Das EU-Satellitenprogramm Copernicus hat seinen neuen Klimabericht vorgelegt. Demnach war 2019 in Europa das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Große Teile Europas erlebten Sommertemperaturen von drei bis vier Grad über dem Durchschnitt. Ist das die neue Normalität? Oder werden die Temperaturen sogar noch steigen?
Europa betreibt im Weltvergleich die modernste Satellitenbeobachtung. Aufbauend auf den Erfolgen der Forschungsmissionen der Europäischen Weltraumorganisation ESA gibt es ein von der EU über Jahrzehnte garantiertes und immer besseres Beobachtungsprogramm mit Erdsatelliten für die Atmosphäre und die Oberfläche von Land und Meeren.
Das Copernicus-Programm mausert sich immer mehr zum globalen Klimamonitoringprogramm. Für den Ausschnitt Europa hat es jetzt gezeigt, dass das Jahr 2019 für den ganzen Kontinent das bisher wärmste war, mit zwei Grad über den Werten von vor über 100 Jahren.
Wie die Klimaforschung schon seit vielen Jahren für den Fall weiterer Treibhausgasemissionen vorhersagt, ist dieser Befund kein Ausreißer, sondern nur Ausdruck eines überdurchschnittlich warmen Jahres. Mit jedem Jahrzehnt weiterer Emissionen werden solche Jahre wahrscheinlicher. Schon in wenigen Jahrzehnten ist dies dann das Normaljahr.
Land- und Forstwirte werden sich immer häufiger nach kühlen Jahren sehnen. Es wird aber immer mehr Jahre geben, die die Dürre- und Hitzejahre 2003 und 2018 übertreffen.
Auch wenn das völkerrechtlich verbindliche Paris-Abkommen eingehalten wird, wird die Wahrscheinlichkeit für solche Hitzesommer zunächst noch stark zunehmen. Erst in Jahrzehnten wird dann eine Dämpfung des Temperaturanstiegs und weitere Jahrzehnte später auch des Meeresspiegelanstiegs sichtbar werden. Angesichts dieser langen Zeitskalen fallen politische Entscheidungen, wenn überhaupt, um Jahrzehnte verzögert.
Das stark verzögerte politische Handeln sehen wir aber zum Beispiel auch bei den Atemwegserkrankungen durch Luftverschmutzung, die ähnlich vielen Menschen Lebensjahre rauben wie typische Grippewellen, und das oft in Kombination mit diesen.
Sogar wegen vergleichsweise harmloser politischer Eingriffe versucht die Industrie das Erreichte zu unterlaufen, beispielsweise mit betrügerischer Manipulation von Autos.
Dagegen werden bei einer neuen Infektionskrankheit mit weniger als zwei Wochen Inkubationszeit und noch fehlender Impfung schnelle Entscheidungen auf wissenschaftlich weitaus wackligerer Basis getroffen, weil wir direkt betroffen sind und weil viele Angst haben.
Österreich und Schweden haben ihre letzten Kohlekraftwerke abgeschaltet. Deutschland will sich dafür bis 2038 Zeit lassen und mit Datteln 4 noch ein neues Steinkohlekraftwerk in Betrieb nehmen. Was ist davon zu halten?
Wenn man die Bevölkerungszahl und die natürlichen Gegebenheiten der beiden Länder mit Deutschland vergleicht, dann muss man sich eigentlich wundern, dass dort überhaupt Kohlekraftwerke notwendig waren. In beiden Fällen waren es auch nur noch Heizkraftwerke, die durch Kraft-Wärme-Kopplung eine höhere Effizienz aufwiesen.
Österreich und Schweden haben nur elf beziehungsweise 13 Prozent der Einwohner Deutschlands und sind auch wesentlich dünner besiedelt. Beide Länder sind zu großen Teilen gebirgig und bekommen ganzjährig genügend Niederschläge, sodass Wasserkraft einschließlich Pumpspeicherwerken das Rückgrat der Stromversorgung bildet.
Obwohl in Deutschland die Höhenunterschiede so gut wie möglich für die Wasserkraft genutzt werden, trägt diese bei uns nur etwa 3,5 Prozent zur Stromversorgung bei. Allein der Windkraftanteil machte im Jahr 2019 rund das Siebenfache der deutschen Wasserkraft aus.
Mitgeholfen beim Abschalten in Schweden und Österreich hat – neben einer Zusatzsteuer in Schweden – der EU-weite Emissionshandel, weil mit über 20 Euro pro Tonne CO2 endlich ein spürbarer Teil der externen Kosten internalisiert wurde. Hinzu kommt, dass die Alternativen Windenergie und Photovoltaik zum Teil schon billiger sind.
Dieselben Mechanismen wirkten aber auch in Deutschland, wo zuletzt innerhalb eines Jahres die Kohlendioxid-Emissionen des Kraftwerkssektors um fast 20 Prozent reduziert werden konnten.
In allen Fällen hat zudem der lange Arm des Paris-Abkommens geholfen, denn als Reaktion darauf arbeitet die EU am Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen bis 2050.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Ich weiß nicht, ob ich den alten Hut, der in einer Fachzeitschrift der American Geophysical Union noch einmal aufgesetzt wurde, als Überraschung präsentieren sollte. Es geht um die schrumpfende Auffassungsgabe und Denkfähigkeit des Menschen bei steigender Kohlendioxidkonzentration in der Atemluft. Kristopher Karnauskas und sein Team haben diesen bekannten Zusammenhang aufgewärmt und weiter vorangetrieben.
In den Schulen gibt es seit Jahrzehnten Vorschriften für das Lüften von Klassenzimmern, damit die Auffassungsgabe der Schüler hoch bleibt. Weil die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bereits 410 ppm erreicht hat – so viel wie noch nie seit Erscheinen des Homo sapiens –, und die Konzentration weiter steigen wird, auch bei Einhaltung des Paris-Abkommens, wird das Lüften von Räumen immer wichtiger.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das folgende Lüftungsexperiment: Die Landesgesundheitsämter von Berlin und Bayern ließen vor etwa sechs Jahren die Luftqualität in 22 energetisch sanierten Klassenräumen während der Heizperiode untersuchen. Etwa die Hälfte der Räume wurde über eine automatische Lüftungsanlage belüftet, die andere Hälfte auch nach der Sanierung nur über die Fenster.
Das Ergebnis aus fast 450 Unterrichtseinheiten: In den automatisch belüfteten Räumen war die Luft deutlich besser. Dort wurde eine mittlere CO2-Konzentration von 1.000 ppm gemessen. Das wird als Limit für eine hygienisch unbedenkliche, gesunde Raumluft angesehen.
In den per Fenster gelüfteten Klassenzimmern fand der Unterricht hingegen zu 82 Prozent bei mehr als 1.000 ppm statt. Zu sieben Prozent lag die CO2-Konzentration sogar über 2.000 ppm und war damit "hygienisch inakzeptabel". Dabei waren die Fenster in den Pausen stets vorschriftsmäßig geöffnet worden.
Es ist nicht der Sauerstoffmangel, der uns träge macht, sondern die hohe Kohlendioxidkonzentration. Das Einhalten des Paris-Abkommens unterstützt also auch unsere Konzentrations- und Denkfähigkeit.
Fragen: Sandra Kirchner