Die Coronakrise beherrscht das öffentliche und private Leben und hat den politischen Diskurs im Griff. Die Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen, greifen tief in grundgesetzliche Freiheiten ein. Noch sind die sozialen Auswirkungen der Krise schwer zu quantifizieren, aber sie werden enorm sein.
Plötzlich ist die Gesundheit der Menschen das oberste Gebot aller politischen Handlungen – und das ist gut so. Denn in der Vergangenheit war dies faktisch nie der Fall. Gesundheitsvorsorge und die Verhinderung von Krankheiten wurden meist wirtschaftlichen Interessen geopfert.
Das Paradebeispiel dafür ist die Luftverschmutzung: Laut einer aktuellen Studie des Center for Research on Energy and Clean Air (CREA) in Helsinki und von Greenpeace Südostasien sind in Deutschland für das Jahr 2018 um die 80.000 vorzeitige Todesfälle auf die Ursache Luftverschmutzung, vor allem aus Dieselruß und der Kohleverbrennung, zurückzuführen. In der EU beläuft sich die Zahl der vorzeitigen Todesfälle auf 400.000 und weltweit auf 4,5 Millionen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO, die neben der Verunreinigung der Außenluft auch die häusliche Luftbelastung einbezieht, geht sogar von jährlich sieben Millionen durch Luftverschmutzung verursachten vorzeitigen Todesfällen aus.
Ob der neue Coronavirus bei den tödlich Betroffenen die entscheidende Todesursache war oder ob vielmehr die zum Teil schweren Vorerkrankungen dominant waren, ist wissenschaftlich bisher kaum zu ermitteln. Klar ist nur: Viele der an Covid-19 Gestorbenen hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen.
Zu diesen gehören auch solche (Lungen-)Krankheiten, die durch Luftverschmutzung verursacht wurden. Auffällig ist, dass die ersten Hotspots der Corona-Epidemie – Wuhan, Norditalien und Madrid – jeweils auch Regionen sind, die seit vielen Jahren zu den Zentren der weltweiten Luftverschmutzung zählen.
Eine jüngst veröffentlichte Studie der Harvard-Universität zeigte, dass in Regionen mit hoher Luftverschmutzung das Sterberisiko mit Covid-19 deutlich erhöht ist. Ein italienisches Wissenschaftlerteam vermutet sogar, dass Feinstaubpartikel als Überträger der Viren zu den Ansteckungen beitragen können.
Wissenschaftlich belegt ist zumindest, dass Viren auf solchen Partikeln länger überleben können. Wenn sich der Übertragungsweg von Viren über Luftschadstoffpartikel wissenschaftlich manifestiert, dann müssten wohl die Regierungen der Welt die Quellen dafür – Kohlekraftwerke, Verbrennungsmotoren und andere – ausschalten, um die Menschen zu schützen.
Nun haben die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie auch die Luftverschmutzung drastisch reduziert. Wohlgemerkt: Das Ziel der Gesundheitsbehörden zur Eindämmung der Corona-Epidemie war nicht eine Reduktion der Luftverschmutzung, sondern dies war nur ein positives Ergebnis quasi nebenbei.
Gilt für Kohle und Öl nicht, was für Corona gilt?
Dies wirft ein Schlaglicht auf die Gesundheitspolitik des deutschen Ministers Jens Spahn wie seiner Kollegen weltweit. Krankheitsverursachende Wirtschaftsaktivitäten zu verhindern stand nie im Zentrum ihrer Gesundheitspolitik und tut auch es auch heute nicht.
Dabei ist die Luftverschmutzung nicht die einzige krankmachende Ursache, die dem heute vorherrschenden fossil-atomaren Wirtschaftssystem in Verbindung mit einer konzerndominierten Lebensmittel- und Chemieindustrie entspringt. Trinkwasserverschmutzung, Bodenvergiftung, Lärm, Schadstoffe und Rückstände in Lebensmitteln wie Pestizide und Antibiotika, radioaktive Belastungen, Mikroplastikverseuchung – die krankheitserzeugende Wirkung dieser Wirtschaftsweise ist gigantisch.
Hans-Josef Fell
ist Präsident der Energy Watch Group. Als langjähriger Bundestagsabgeordneter der Grünen war er Mitautor des Erneuerbare-Energien-Gesetzes von 2000 und einer der wichtigsten Vorantreiber der Energiewende in Deutschland und Europa.
Etwas gegen die Millionen Toten der fossil-atomaren Weltwirtschaft zu unternehmen – dafür haben sich die Gesundheitsminister:innen bisher nie wirksam eingesetzt. Immer stand im Vordergrund, diese Art des Wirtschaftens nicht zu gefährden, egal wie krank die Gesellschaft davon wird.
So gab und gibt es in Deutschland keine ausreichenden politischen Maßnahmen – wie ein sofortiges Abschalten von Kohlekraftwerken und die Einführung von Fahrverboten für Autos mit Verbrennungsmotoren –, um die jährlich 80.000 vorzeitigen Todesfälle infolge von Luftverschmutzung zu verringern.
Im Gegenteil, trotz aller brisanten Erkenntnisse zu ihrer krankmachenden Wirkung soll eine Laufzeit der letzten Kohlekraftwerke bis 2038 ermöglicht werden – auch dank neuer milliardenschwerer Subventionen, um die Konkurrenz der emissionsfreien und billigeren erneuerbaren Energien abzuwehren.
Da wirkt es schon sehr befremdlich, wenn nun in der Coronakrise Finanzminister Olaf Scholz sagt: "Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft."
Doch genau dies haben er und seine Kabinettskollegen immer getan. Gesundheitsvorsorge spielte in der Abwägung ihrer Entscheidungen nie eine maßgebliche Rolle. Immer musste die Wirtschaft wie bisher laufen.
Doch nun ist alles anders? Scheinbar steht die Gesundheit der Menschen als oberstes Kriterium vor jedem politischen Handeln, die Wirtschaft geht in die Knie. Die Gesundheitspolitik der Regierungen weltweit und auch in Deutschland ist aber keine ganzheitliche. Sie lässt vermissen, dass Krankheitsursachen beseitigt werden müssen, vor allem solche, die verstärkend über Vorerkrankungen die Todesraten in Epidemien nach oben treiben.
Umweltschutz ist Gesundheitsschutz
Zurzeit konzentriert sich die Gesundheitspolitik auf zwei Maßnahmen: Eindämmung der Neuinfektionen und Bereitstellung möglichst vieler Beatmungsgeräte und Intensivbetten. Natürlich ist es entscheidend, schwere Verläufe von Covid-19, Todesfälle und exponentiell wachsende Infektionen zu verhindern. Eine wirksame Gesundheitspolitik muss aber vor allem die Luft, das Wasser, die Böden sauber halten. Sie muss für unbelastete Lebensmittel sorgen.
Damit rücken Maßnahmen in den Mittelpunkt, die auch aus Sicht eines wirksamen Klimaschutzes erforderlich sind:
- emissionsfreie Energieversorgung mit erneuerbaren Energien statt Luftschadstoffe aus Kohle oder Erdgas
- Elektromobilität mit Ökostrom statt Verbrennungsmotoren mit fossilen Kraftstoffen
- ökostrombetriebene Wärmepumpen statt Erdöl- und Erdgasheizungen
- echte, abfall- und emissionsfreie Kreislaufwirtschaft statt immenser Plastikmüllberge
- biologische Landwirtschaft und artgerechte Tierhaltung statt Pestiziden und Antibiotika
In seinen Studien zeigt Marc Jacobson, Professor an der Stanford-Universität in Kalifornien, dass mit einer weltweiten Umstellung auf erneuerbare Energien Millionen vorzeitiger Todesfälle durch Luftverschmutzung verhindert würden. Weder vor der Coronakrise noch jetzt ist von Minister Jens Spahn und anderen Gesundheitsministern zu hören gewesen, dass eine emissionsfreie Wirtschaftsweise Millionen Tote verhindern und bei Ausbrüchen von Pandemien eine gute Voraussetzung für mildere Verläufe schaffen würde.
So ist leider zu befürchten, dass nach der Überwindung der Coronakrise die alte krank machende und klimazerstörende Wirtschaftswelt wieder voll anspringt. Mit Erdöl betriebene Flugzeuge, Autos, Lastwagen und Busse werden wieder ihre Abgase auspusten, Luftverschmutzung und Motorenlärm werden wieder viele krank machen und für Vorerkrankungen sorgen. Auch der nächste Virus wird ein leichtes Spiel haben.
Aber vielleicht findet in der jetzigen Coronakrise ein Erwachen in vielen Köpfen statt – mit dem Grundgedanken, dass existenzielle Krisen wie Pandemien und Klimakatastrophen doch sehr schnell und weitreichend Wirklichkeit werden können und man alles zur Vorsorge und zu ihrer Abwendung tun muss.
Dann haben wir vielleicht doch eine Chance, auch die Heißzeit der Erde abzuwenden. Der willkommene Nebeneffekt wäre, dass auch viele Krankheitsursachen beseitigt würden und kommende Pandemien nicht so viele Menschen mit Krankheitsvorbelastungen besonders gefährdeten.