Anziehen mit dem Treibhausgas Kohlendioxid? Das geht. Zwei Forscherteams ist es im vorigen Jahr gelungen, synthetische Textilfasern auf Basis von CO2 herzustellen und damit Erdöl als Rohstoff teilweise zu ersetzen.
Das neuartige Material kann herkömmliche Elastikfasern wie Elastan oder Spandex ersetzen – zum Beispiel in Strümpfen, Garnen oder medizinischen Textilien.
Der Chef des Chemiekonzerns Covestro, Markus Steilemann, sieht darin einen "vielversprechenden Ansatz, um Kohlendioxid als alternativen Rohstoff in der Chemieindustrie immer breiter einzusetzen". Und das ist keine reine Zukunftsmusik mehr – das neue CO2-Produkt ist bereits an der Schwelle zur Marktreife.
Weltweit arbeiten immer mehr Branchen an dem Projekt, aus dem gefährlichen Klimakiller CO2 einen wertvollen Rohstoff für industrielle Produktionsprozesse zu machen. Covestro, die 2015 abgespaltene, ehemalige Kunststoffsparte des Bayer-Konzerns, gilt dabei als eine der führenden Firmen.
Das Leverkusener Unternehmen hat zusammen mit Forschern der RWTH Aachen ein chemisches Vorprodukt namens Cardyon entwickelt, das zu 20 Prozent aus dem Treibhausgas statt aus Erdöl besteht. Das Material ist vielfältig einsetzbar. Kommerziell genutzt wird es auch bereits, nämlich um Schaumstoff für Matratzen und für Polstermöbel herzustellen.
Jüngste Praxis-Anwendung ist ein Kunststoff-Sportboden, wie er in Turn- und Sporthallen genutzt wird. Hier steckt das CO2 in einem Bindemittel, das der Hersteller Polytan aus dem oberbayerischen Burgheim zusammen mit Gummigranulat nutzt, um das elastische Bodenmaterial zu produzieren.
Der erste CO2-basierte Boden wurde im vergangenen Jahr in Krefeld beim renommierten "Crefelder Hockey und Tennis Club" verlegt – auf einem 59 mal 99 Meter großen Feldhockey-Spielfeld, als Unterlage für den Kunstrasen. Hockey-Länderspiele und -Meisterschaften finden seither (auch) auf gebundenem CO2 statt. Die meisten Spieler werden wohl gar nicht wissen, dass sie den Ball auf einer solchen Innovation ins Tor schlenzen.
CO2 in neue Produkte stecken
Die CO2-Nutzung nimmt in solchen Pilotvorhaben Fahrt auf, und das ist dringend nötig. Um den Klimawandel beherrschbar zu halten und die Erderwärmung bei 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten zu stoppen, muss die Menschheit bis 2040 komplett aus den fossilen Energien aussteigen oder zumindest das noch entstehende CO2 neutralisieren – zum Beispiel auffangen und unterirdisch einlagern, in natürlichen Prozessen binden oder eben Klima‑unschädlich nutzen.
Zudem müssen Wege gefunden werden, um überschüssiges CO2 wieder aus der Atmosphäre zu holen. Auch dafür gibt es mehrere Möglichkeiten: unter die Erde pumpen, in Ökosystemen speichern – oder in neue Produkte umwandeln.
Beton aus CO2
Das Klimagas CO2 kann nicht nur als Erdöl-Ersatz dienen, sondern zum Beispiel auch genutzt werden, um Beton ohne Zement herzustellen, der eine extrem schlechte Klimabilanz hat – immerhin sieben bis acht Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes gehen auf sein Konto.
In Kanada hat das Unternehmen Carbicrete ein solches Verfahren entwickelt. Der Zement wird dabei durch gemahlene Stahlschlacke ersetzt und die Mischung anschließend durch CO2 anstelle von Wärme und Dampf ausgehärtet.
Weiterer Clou neben der Nutzung des Treibhausgases: Das neue Produkt ist sowohl hochwertiger als auch kostengünstiger als Beton auf Zementbasis. Auch in den USA werden Zement und Beton bereits auf dieser Basis produziert.
Tatsächlich kann das Treibhausgas ein nützlicher Rohstoff sein. Wichtigste Komponente der Verbindung ist das Element Kohlenstoff (C) – und von daher kann man aus CO2 grundsätzlich dasselbe machen wie aus Erdöl: Kraftstoffe für Autos und Lkws, Kerosin, Chemikalien, Kunststoffe und Düngemittel. Kohlendioxid könnte dereinst Erdöl als neuen Super-Rohstoff ersetzen.
Allerdings müssen dafür neue biotechnologische sowie chemisch-katalytische Prozesse entwickelt werden, und vor allem braucht es große Mengen Ökostrom, um den Kohlenstoff aus dem CO2 zu gewinnen. Die industrielle Nutzung von CO2 macht nur Sinn, wenn dazu keine fossilen Energien genutzt werden. Ansonsten würden ja große Mengen CO2 frei werden, die man gerade vermeiden will. Wind-, Sonnen- und Wasserkraft sind hier die erste Wahl.
Eine ganze Reihe von Unternehmen arbeitet an der Entwicklung von Prozessen, die wie eine künstliche Fotosynthese anmuten, darunter die Konzerne Evonik, Siemens und Thyssen-Krupp. Evonik und Siemens haben 2018 gemeinsam das vom Bund mit 3,5 Millionen Euro geförderte Forschungsprojekt Rheticus gestartet. Dessen Ziel ist es, aus Kohlendioxid und Wasser mithilfe von Bakterien und Öko-Energie Basis-Chemikalien wie Butanol oder Hexanol herzustellen, die dann vielfältige Anwendungen ermöglichen – etwa die Herstellung von Spezialkunststoffen oder Nahrungsergänzungsmitteln.
Eine ähnliche Zielrichtung verfolgt das Projekt Carbon2Chem beim Stahlkonzern Thyssen-Krupp, dort wird CO2-haltiges Hüttengas genutzt. Das Treibhausgas ist hier der Ausgangsstoff für die Kohlenwasserstoffe Methanol und Ethanol, die in der chemischen Industrie vielfältig genutzt werden, oder für synthetische Kraftstoffe als Kerosin- oder Diesel-Ersatz. Die Entlastung für das Klima ist nicht unerheblich. Um zum Beispiel eine Tonne Butanol herzustellen, werden drei Tonnen CO2 benötigt.
Lohnt sich, wenn der CO2-Preis steigt
Die Projekte sollen helfen, die Chemie praktisch neu zu erfinden. Günter Schmid von der zentralen Siemens-Forschungsabteilung erläuterte beim Start von Rheticus: "Wir entwickeln eine Plattform, mit der chemische Produkte wesentlich günstiger und umweltfreundlicher als heute produziert werden können."
Kraftstoffe aus CO2
Ein Pionier der Herstellung von synthetischen Kraftstoffen ist die Firma Carbon Recycling International (CRI) aus Island. CRI stellt seit 2015 jährlich 4.000 Tonnen Methanol her, das als Beimischung zum Benzin genutzt wird, und zwar auf Basis von Kohlendioxid und Wasserstoff.
Das CO2 stammt aus einem Geothermie-Kraftwerk, in dem CO2-reicher Dampf aus der Erdkruste aufsteigt. Der Wasserstoff wird per Elektrolyse aus Wasser hergestellt – mit Ökostrom aus Erdwärme und Wasserkraft.
Der Prozess läuft auch mit CO2 aus dem Abgas von Chemie-, Stahl- und Zementwerken. Die erste Großanlage, die bis zu 100.000 Tonnen Methanol produzieren kann, baut CRI in China. Pilotanlagen mit ähnlicher Technik gibt es auch in Deutschland.
Im Evonik-Chemiepark im westfälischen Marl bauen die beiden Konzerne derzeit eine Versuchsanlage, die 2021 fertig sein soll. Nach dem erfolgreichen Abschluss der ersten Phase des Projekts ist soeben die zweite Phase gestartet worden. Auf Basis der Rheticus-Plattform können künftige Betreiber aus der Chemieindustrie Schmid zufolge "ihre Anlagen je nach Bedarf skalieren", also an die benötigte Größe und die örtlichen Gegebenheit anpassen.
Die Produktionsanlagen der CO2-Wirtschaft werden vor allem dort entstehen, wo das CO2 bereits konzentriert vorhanden ist – etwa in der Nähe von Kraftwerken, wo man es aus dem Abgas holen kann. Fermentationsprozesse in der Lebensmittelindustrie und bei Biogasanlagen stellen ebenso einfach anzuzapfende Quellen dar.
An anderen Standorten muss das Treibhausgas aus der Atmosphäre gewonnen werden, wo es zwar in großen Mengen zu finden ist – jährlich deponiert die Welt dort rund 40 Milliarden Tonnen –, aber nur in geringer Konzentration. Das erhöht die Kosten spürbar.
Auch sind die meisten der neuen Prozesse zur CO2-Nutzung heute noch deutlich teurer als die Standard-Methoden, die für die Erdöl-Chemie vor vielen Jahren entwickelt wurden. Doch das kann sich schnell ändern, vor allem, wenn die Preise für CO2-Zertifikate im EU-Emissionshandel weiter steigen, wie sie es seit 2018 getan haben. Für die Unternehmen wird es dann billiger, das CO2 zu Produkten zu verarbeiten, als es einfach in die Atmosphäre zu pusten und dafür pro Tonne 25 Euro und mehr zu zahlen.
"Bis 2050 muss die Rohstoffwende gelingen"
Doch es gibt noch einen weiteren Knackpunkt: Die Umstellung auf eine klimafreundliche und nachhaltige CO2-Chemie macht im großen Stil nur Sinn, wenn genügend Ökostrom verfügbar ist. Bisher ist der grüne Saft knapp.
Der aktuelle Strombedarf wird hierzulande erst zu 43 Prozent erneuerbar gedeckt, und bisher hat die Bundesregierung kein tragfähiges Konzept vorgelegt, wie der für 2030 geplante Anteil von 65 Prozent erreicht werden soll – ganz zu schweigen von den zusätzlichen Elektrizitätsmengen, die für neue Anwendungen wie E-Mobilität und Heizen mit elektrischen Wärmepumpen gebraucht werden. Doch eine Alternative zu diesem Umbau gibt es nicht.
Sprit aus Licht
Die bisherigen Technologien, um aus CO2 einen Rohstoff zu machen, sind nicht das Ende der Fahnenstange. Ein internationales Forscherteam hat im vorigen Jahr im Fachblatt Joule sechs verschiedene Technologien vorgestellt, die in den kommenden Jahrzehnten anwendungsreif werden könnten.
Bereits in fünf bis zehn Jahren könnte es danach möglich werden, Wasserstoff und dann synthetische Kraftstoffe direkt unter Zuhilfenahme von Licht zu produzieren – also ohne den Umweg über Ökostrom. Die Technik wird Fotokatalyse genannt.
Gegen Ende des Jahrhunderts, so die Experten, könne es auch "molekulare Maschinen" geben, die CO2 auf Atomebene auseinandernehmen und die Atome dann zu neuen Molekülen zusammensetzen.
Der Experte Michael Carus sieht nur einen Weg: "Eine nachhaltige Chemie- und Kunststoffindustrie muss komplett auf fossilen Kohlenstoff verzichten und auf erneuerbaren Kohlenstoff umsteigen. Denn jeder zusätzliche fossile Kohlenstoff landet früher oder später in der Atmosphäre", sagt der Gründer und Leiter des Nova-Instituts in Hürth bei Köln, das Unternehmen bei diesem Umstieg berät.
Als Quellen für erneuerbaren Kohlenstoff kommen infrage: Recycling von gebrauchten Produkten, Biomasse und eben die direkte Nutzung von Kohlendioxid, wie sie jetzt erprobt wird. Experten haben kalkuliert, dass sich der Umstieg auf CO2 ab einem Ölpreis von 200 US-Dollar pro Barrel rechnet. Heute liegt er bei 66 Dollar.
Carus: "Die Lücke kann unter anderem durch eine Kohlenstoff- oder CO2-Steuer geschlossen werden. Bis 2050 jedenfalls muss die Rohstoffwende gelingen."