Porträtaufnahme von Hartmut Graßl.
Hartmut Graßl. (Foto: MPI-M)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, der Kohleausstieg ist gesetzlich beschlossen – aber der Vertrag mit den Braunkohlekonzernen über die geplanten Entschädigungen ist noch nicht unter Dach und Fach. Der Kohleausstieg droht noch teurer zu werden. Besser teuer erkauft als noch späterer Kohleausstieg? 

Hartmut Graßl: Im Frühjahr 2003 hat der WBGU, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen in seinem Hauptgutachten "Energiewende zur Nachhaltigkeit" den weltweiten Ausstieg aus der Kohlenutzung als Brennstoff bis zum Jahr 2050 gefordert. Wir WBGU-Mitglieder wurden damals von vielen als Illusionisten bezeichnet.

Jetzt ist das völkerrechtlich verbindlich – wegen des Ziels im Paris-Abkommen, die globale mittlere Erwärmung deutlich unter zwei Grad zu halten. In diesem Zusammenhang ist es nicht wirklich entscheidend, ob Deutschland schon 2030 oder erst 2038 vollständig aus der Kohleverbrennung aussteigt. Wollen wir aber eine gewisse Vorreiterrolle bewahren, dann sollten wir uns anstrengen.

Da alle laufenden Kohlekraftwerke einmal von den Behörden genehmigt worden sind, ist der politisch erzwungene vorzeitige Ausstieg, wie zum Beispiel beim Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie für die Stromerzeugung, ein Eingriff in privates Vermögen, das zu Entschädigungsklagen führt, die im Falle der Kernenergie von den Gerichten immer noch nicht entschieden sind.

Deshalb werden die Kohlekraftwerksbesitzer mit dieser Klagedrohung im Raum Druck auf die Regierenden ausüben und möglichst viel Entschädigung herausholen wollen. Ich wünsche den Ministerien geschicktes Verhandeln, das heißt hochkarätige Juristen.

2019 sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland um rund sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken, wie der neue Klimaschutzbericht der Bundesregierung zeigt. Die Corona-Pandemie und der milde Winter bringen nun das Klimaziel für 2020 wieder in Reichweite. Können wir uns Klimaschutz aufgrund von Zufällen noch leisten? 

Die Emissionsminderung um sechs Prozent ist kein Zufall, sondern überwiegend durch den europäischen Emissionshandel, also durch politische Entscheidungen erzwungen. Denn bei einem Preisanstieg auf über 20 Euro pro Tonne Kohlendioxid sind die alten, relativ ineffizienten und längst abgeschriebenen Kisten im Jahr 2019 unrentabel geworden. Sie wurden zwar nicht abgerissen, aber eingemottet.

Und der übervolle europäische Strommarkt hat aus dem viel Strom exportierenden Deutschland einen weit schwächeren Exporteur gemacht.

2020 allerdings hilft eine Covid-19-bedingte Wirtschaftskrise mit, das selbst gesteckte Ziel von minus 40 Prozent im Vergleich zu 1990 vielleicht noch einzuhalten.

Da ja in Deutschland die CO2-Bepreisung für die vom europäischen Emissionshandel nicht erreichten Emittenten beschlossen ist und ab 2021 greift – mit jährlich steigenden und fixierten Preisen –, hängen wir dann nicht mehr von Zufällen ab. Dann werden auch die Sektoren Heizung und Verkehr über einen höheren Preis zu Emissionsminderungen angeregt.

Die Bundesregierung hat einen Klimarat berufen. Die Wissenschaftler:innen sollen unter anderem prüfen, ob der jährliche Treibhausgasausstoß mit den Klimazielen vereinbar ist. Braucht es ein solches Gremium für diese Aufgaben?

Wenn die Ratsmitglieder ähnlich wie Notare jedes Jahr die Fakten zusammentragen, auf deren Basis die Ministerien erkennen, ob sie ihre jährlichen Ziele erreicht haben oder wie nachgesteuert werden muss, dann ist das weit mehr als die Empfehlung typischer Beiräte.

Würde man diese Prüfung allein den einzelnen Ministerien überlassen, fehlte der öffentlichen Debatte wahrscheinlich die volle und vor allem koordinierte Faktenbasis, und die Wahrscheinlichkeit, die gesetzlich festgelegten Ziel zu erreichen, wäre geringer. Ein solcher Klimarat stärkt aus meiner Sicht unsere Demokratie.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Mit immer genaueren Satellitendaten werden die Veränderungen unseres Planeten immer besser beobachtet. Wenn es um die Gesamtmasse des Eises in Grönland geht, dann ist sicherlich Grace zu nennen, das Gravity Recovery And Climate Experiment, eine Nasa-Mission mit wesentlichem Beitrag aus Deutschland.

Seit 2003 werden dabei mit einem Gerät zur genauen Bestimmung des Erdschwerefeldes in einer niedrigen Umlaufbahn die Massenumverteilungen auf der gesamten Erde, zum Beispiel durch Schneefall und Abschmelzen von Eis, gemessen.

Zusammen mit der neuen Nachfolgemission hat Grace eine Aussage erlaubt, die am 20. August durch ein internationales Team veröffentlicht wurde: Von 2003 bis 2016 trug der Grönländische Eisschild mit durchschnittlich 225 Milliarden Tonnen Eisverlust pro Jahr ganz wesentlich zum Meeresspiegelanstieg bei.

Für 2017 und 2018 schrumpfte der jährliche Verlust wegen zweier besonders kühler Sommer auf nur noch rund 100 Milliarden Tonnen. Das Jahr 2019 dagegen brachte den eindeutig höchsten Verlust mit 532 plus/minus 58 Milliarden Tonnen.

Insgesamt hat die Schrumpfung des Grönländischen Eisschildes seit 2003 etwas mehr als elf Millimeter zum mittleren globalen Meeresspiegelanstieg beigetragen.

Fragen: Sandra Kirchner