Klimareporter°: Herr Lucht, Sie gehören zu den Initiator:innen eines offenen Briefs an Bundeskanzler Olaf Scholz. Darin fordern Sie und zahlreiche weitere Personen des öffentlichen Lebens mehr Einsatz für den Klimaschutz. Ist das eine Reaktion auf die jüngsten Beschlüsse des Koalitionsausschusses?

Wolfgang Lucht: Auch, aber nicht nur. Die deutschen Anstrengungen im Klimaschutz waren auch schon vor dem Koalitionsausschuss nicht ausreichend. Nun aber wurde das Klimaschutzgesetz sogar noch abgeschwächt, was sprachlos macht.

Der offene Brief ist ein erneuter Appell, sich bewusst zu machen, dass sofortige Maßnahmen und konsequenter Klimaschutz keinen weiteren Aufschub vertragen. Er wird von einer Koalition von Politiker:innen verschiedener Parteien, Vertreter:innen von Umweltorganisationen, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen getragen.

Leider hat die Bundesregierung dazu lediglich verlautbaren lassen, dass ihre Klimapolitik ausreichend sei. Das ist aber nicht der Befund der Wissenschaft.

Als Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen beraten Sie die Bundesregierung und haben damit Kontakt in die obersten Regierungsspitzen. Wie laufen solche Gespräche ab?

Selbst bei Politiker:innen, die verstehen, um was es geht, sind am Ende Fragen der Macht und der Mehrheitsfähigkeit zentral. Aber Politik hat auch Verantwortung. Viele haben Angst, dass eine Maßnahme, die sie vorschlagen, direkt populistisch gegen sie verwendet wird und dass das auch noch funktioniert. Daher geht es viel um strategische Überlegungen und leider immer weniger um Inhalte.

Kampagnen werden auch gezielt inszeniert und nutzen dabei die Aufregungslogik der Medien. Man hat das schon vor Jahren beim Veggieday gesehen. Der wäre ohne Frage sehr sinnvoll gewesen, aber der Backlash war tödlich. Und man sieht es heute bei den vielen unsachlichen Nebelkerzen und Ablenkungsmanövern, wenn es um Themen wie fossile Heizungen oder das Auto geht.

Inszeniert von wem?

Industrielobbyist:innen arbeiten daran, ihre Märkte abzusichern. Sorge um die Zukunft oder die Wohlfahrt der Gesellschaft spielen dabei meist keine entscheidende Rolle. Das hat man beim Ausbremsen der erneuerbaren Energien gesehen, während gleichzeitig die Abhängigkeit Deutschlands von fossilen Energien aus Russland mit Unterstützung der Politik zementiert wurde.

Aber auch die Medien sind hier von Bedeutung. Empörung gegen den notwendigen Wandel wird von manchen Medien am populistischen, eher rechten Rand des Spektrums als Geschäftsmodell gesehen. Fakten spielen dort oft keine große Rolle.

Und die Bevölkerung möchte verständlicherweise oft einfach in Ruhe gelassen werden, die Menschen haben ein Leben zu führen und ganz andere Sorgen. Das könnte allerdings anders sein, wenn Politik, Wirtschaft und Medien, statt Zweifel zu säen, für einen Wandel werben würden.

Wissenschaftlichen Erkenntnissen fehlt es also nach wie vor an politischem und öffentlichem Gewicht?

Unsere Gesellschaft leistet sich ein Wissenschaftssystem, nutzt es aber nicht ausreichend. Das Institut, an dem ich arbeite, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft von Forschungseinrichtungen. Deren Auftrag ist es, der Gesellschaft Wissen zur Verfügung zu stellen.

In der öffentlichen Diskussion wird dieses Wissen aber häufig so behandelt, als sei es auch nur eine Meinung. Sachzusammenhänge werden als Freiheitsbeschränkung diffamiert und fragwürdige Positionen in die Diskussionen eingeführt. Teile der Öffentlichkeit misstrauen den Expert:innen. Die Politik wiederum reagiert sensibel auf die Stimmungslage der Öffentlichkeit.

Es ist ein Kennzeichnen eines aufgeklärten demokratischen Staates, dass ein konstruktives Verhältnis zwischen Politik, Gesellschaft und Wissenschaft besteht. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass die Wissenschaft sagt, wo es langgeht. Aber es ist wichtig, dass das Wissen, das wir haben, eine Rolle spielt. Dafür fehlt uns teilweise die Kultur.

Bild: Peter Himsel

Wolfgang Lucht

wurde in Kiel zum Physiker promoviert und war in den USA bei der Nasa tätig. Heute leitet er die Abteilung Erd­system­analyse am Potsdam-Institut für Klima­folgen­forschung, ist Professor für Nach­haltigkeits­wissen­schaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied im Sach­verständigen­rat für Umwelt­fragen der Bundes­regierung. Er zählt zu den weltweit meist­zitierten Forscher:innen. Sein Team untersucht mit einem Computer­modell des Erd­systems die planetaren Belastungs­grenzen der Erde. 

Wie meinen Sie das?

Es ist die Kultur, Wissenschaft als etwas Wichtiges zu betrachten. Einerseits sind bei uns Wissenssendungen und Sachbücher enorm beliebt. Andererseits spielt das, was darin zu lesen ist, öffentlich eine zu geringe Rolle. Dafür ist der Naturschutz ein gutes Beispiel.

Aber die kulturelle Dimension geht noch viel tiefer. Denn was unsere Kultur so eng mit der Natur verzahnt, ist unsere materielle Kultursprache. Wir sind ja physisch präsent in dieser Welt, und das meiste davon ist nicht nur zur Versorgung, sondern auch Ausdruck unseres Lebensstils.

Dazu gehören alle unsere Bauwerke, Infrastrukturen und unser großer Verbrauch an Gütern, aber ebenso die enorme Zahl der Tiere, die wir in der Landwirtschaft halten. Ein schickes amerikanisches Auto ist eben nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern das Produkt einer bestimmten Lebenseinstellung.

Aber wenn es etwas Kulturelles ist, das uns in die Krise gebracht hat, so kann eine veränderte Kultur auch ein sehr starkes Element dabei sein, es künftig besser zu machen. Wir müssen sozusagen aus unserer ökologischen Blindheit kulturell aufwachen. Das klingt jetzt vielleicht etwas diffus, ist aber sehr ernst gemeint.

Ein kultureller Wandel als Weg aus dieser Krise ...

Auf die ökologische Krise, welche unsere Zivilisation gefährdet, wird momentan vor allem mit der Hoffnung reagiert, dass bessere Technik es schon irgendwie richten wird. Das geht von den Versprechungen grüner Technologie bis zur Vorstellung, dass sich endlos weiteres materielles Wachstum irgendwie mit einem intakten Planeten vereinbaren lässt.

Das ist eine Illusion. Natürlich braucht es alles an neuer, grüner Technik, was möglich ist. Aber noch wichtiger sind Veränderungen in unserem Verhalten, in unseren Einstellungen, in unserem Zusammenleben, in unserem Selbstbild. Sonst wird es nichts mit einer nachhaltigen Zukunft.

Der Wandel hat auf jeden Fall sehr viel mit unseren Normen und Werten zu tun. Und im Kern geht es um die Frage, wer wir eigentlich sind und was wir mit unserer Freiheit anfangen. Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung.

Wir müssen uns als Teil des Planeten verstehen und bei allem, was wir tun, mitdenken, dass wir Teil eines komplexen ökologischen Systems Erde sind, das auf das reagiert, was wir tun.

Leider befindet sich der wohlhabende Teil der Menschheit diesbezüglich noch in so etwas wie einer Trotzphase. Die müssen wir jetzt aber möglichst schnell hinter uns lassen. Wir sollten den Übergang vom Homo sapiens zum Homo geosapiens angehen.

Was unterscheidet den Homo geosapiens vom Homo sapiens?

Der Homo geosapiens ist klug genug, um die Auswirkungen seines Handelns auf das Erdsystem zu kennen, zu reflektieren und mitzuberücksichtigen. Der Homo geosapiens strebt nach einem Leben in Würde für alle Menschen und danach, die planetaren Belastungsgrenzen dabei nicht zu überschreiten und das Erdsystem nicht zu destabilisieren.

Wir wissen, dass geringe Veränderungen der Sonneneinstrahlung in der Vergangenheit Eiszeiten auslösen konnten. Heute dreht die Menschheit an den großen Rädern im planetaren Getriebe. Da muss man sich dann nicht wundern, wenn weitreichende Dinge passieren. Das zu verhindern bedeutet, eine gute Erdsystemanalyse zu haben, also gute Wissenschaft von der Erde, und dass diese auch beachtet wird. Es wäre ein großer Schritt für die Menschheit.

Das ist ja absurderweise häufig ein Argument von Klimawandelleugner:innen. Also: "Das Klima hat sich ja immer verändert. Was soll die Aufregung?"

Ein ziemlich unsinniges Argument. Gerade die Tatsache, dass sich das Klima auch in früheren geologischen Zeiten verändert hat, sollte uns Sorgen machen. Denn es zeigt, dass das Klima dynamisch ist. Es ist absurd zu glauben, die Erde würde die globale Entwaldung oder die vielen Treibhausgase, die wir in die Atmosphäre schicken, einfach irgendwie wegstecken.

Nein, sie wird reagieren, und zwar viel schneller, als dies auf natürliche Weise je geschehen ist, und uns in ein Klima führen, das seit Entstehen der Menschheit noch niemals geherrscht hat. Wir wissen, dass wir aktuell das große Glück haben, in einer aus astronomischen Gründen ungewöhnlich konstanten Periode der Erdgeschichte zu leben. Die würde auch noch einige zehntausend Jahre weiterbestehen. Aber nun bringen wir selbst das System aus dem Gleichgewicht.

Dass die Erde sich also schon früher verändert hat, sollte einen eher beunruhigen.

Beunruhigend sind auch die Klima-Kipppunkte. Sie beschäftigen sich seit zwei Jahrzehnten mit ihnen. Halten Sie die Kipppunkte für die größte Gefahr für die Zukunft der Zivilisation und des Ökosystems Erde?

In komplexen Systemen kommt es vor, dass sie verschiedene Zustände einnehmen können. Wird genügend Druck auf solch ein System ausgeübt, so kann es in einen anderen Zustand überspringen. Und so ist es auch mit wichtigen Systemen der Erde, von den ökologischen bis zu den Strömungsmustern in Atmosphäre und Ozean.

Solche Kipppunkte sind real und ein Anlass zu ernster Sorge. Wir wissen oft nur ungenau, wann sie ausgelöst werden, aber wir wissen, dass schon bei mittlerer Erhitzung der Erde bei etlichen von ihnen die reale Gefahr besteht.

Allerdings sind Kipppunkte nicht die einzige Gefahr, die der Erde droht, auch andere Veränderungen machen große Sorgen. Manche Aktivist:innen, wie zum Beispiel der "Letzten Generation", beziehen sich überwiegend auf die Kipppunkte. Sie sind aber nur ein Teil der Botschaft. Der Weltklimarat der Vereinten Nationen IPCC unterscheidet fünf große Dimensionen gefährlicher Veränderung der Erde, die Kipppunkte sind eine davon.

Es gibt auch viele einzigartige Systeme auf unserem Planeten, die durch den Klimawandel sehr gefährdet sind. Genauso sollte man vor Extremwetterereignisse besorgt sein und vor der Kumulation vieler kleiner Veränderungen. Es wird nicht nur wärmer, auch die Ozeane versauern, der Meeresspiegel steigt an, Lebensräume verschwinden und so weiter.

Vielen dieser Veränderungen ist gemeinsam, dass sie oft unumkehrbar sind. Was einmal in Gang gesetzt ist, lässt sich nicht einfach zurückdrehen, wenn man klüger geworden ist. Das macht die Klimaerhitzung der Erde so besonders gefährlich.

Viele Menschen sorgen sich vor einer Kaskade der Kipppunkte. Wenn es also irgendwo anfängt zu kippen, kippt gleich alles mit. Wird das auch überdramatisiert?

Natürlich hängt auf der Erde vieles miteinander zusammen, sodass das Auslösen des einen Kipppunktes dann andere nach sich ziehen kann. Das ist durchaus wahrscheinlich.

Die Eisschmelze an den beiden Polen und die Atlantikströmung, die bei uns das Wetter stark mitbestimmt, hängen zum Beispiel miteinander zusammen, alle haben wahrscheinlich Kipppunkte. Einige davon könnten schon in den nächsten zwei Jahrzehnten ausgelöst werden, das sollten wir unbedingt vermeiden.

Was jedoch nach derzeitigem Wissen eher unwahrscheinlich ist, dass dann die ganze Erde kippt. Sie wird in jedem Fall komplett verändert sein, auch wenn wir das Schlimmste verhindern. Aber sie wird vermutlich nicht plötzlich unaufhaltbar in einen sich erheblich selbst verstärkenden neuen Zustand wechseln.

Das sollte aber niemanden beruhigen, denn auch kontinuierliche Veränderungen führen die Erde aus der Zone heraus, die Menschheit und Zivilisation und alle anderen Lebewesen aus der relevanten jüngeren Erdgeschichte gewohnt sind. Optimismus, dass das gut geht, ist nicht angebracht.

 

Haben Sie noch Hoffnung, dass die große nachhaltige Transformation kommt?

Ich glaube, die Menschen werden aufwachen. Ich bin mir sicher, sie werden aufwachen. Aber dann wird es schon ganz schön spät sein.

Mit dem, was wir derzeit anrichten, werden nicht nur wir, sondern unzählige künftige Generationen über Jahrtausende leben müssen. Was würden sie uns Heutigen sagen? Die Menschheit ist durch Technik und Zusammenarbeit mächtig geworden. Nun müssen wir diese Fähigkeiten mit Klugheit und Bewusstsein dafür einsetzen, dass die Erde nicht einfach ausgeplündert und als Müllhalde benutzt wird.

Wir müssen uns entscheidend weiterentwickeln, darin liegt eine große Chance, eine neue Phase der Zivilisation. Und dies betrifft natürlich vor allem den viel konsumierenden, angeblich hoch entwickelten Teil der Welt, also uns. Die Ärmeren tragen ziemlich wenig zum globalen Problem bei.

Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich halte es nicht für besonders wahrscheinlich, dass uns die große Transformation zu Nachhaltigkeit rechtzeitig gelingt. Aber es ist wichtig, dafür zu kämpfen, denn so lange besteht eine Chance.

Viele Errungenschaften sind dadurch entstanden, dass die sogenannten Realisten am Ende nicht Recht behielten. Und es geht um viel mehr als nur um Ideale, es geht ums Leben und Überleben auf unserem Planeten.

Lesen Sie hier Teil 1 des Interviews: "Unser Planet ist ein lebendiger Planet"