Ein Storch steht in seinem Nest und schaut kopfunter durch die Beine den Betrachter an.
Aus einer anderen Perspektive kann man plötzlich wieder etwas erkennen. (Foto: Ada Knieć/​Pixabay)

Es fällt nicht ganz leicht, sich Naturschützerinnen und Naturschützer als revolutionäre Kraft vorzustellen, die die sozial-ökologische Transformation von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft radikal vorantreibt. Zu sehr denkt man beim Naturschutz hierzulande an Schutzgebiete, in denen der ökonomische "Normalbetrieb" ausgesetzt ist, an die Pflege harmonischer Naturzustände, die es zu bewahren gilt, und an jenes "Zurück zu Natur und Natürlichkeit", das sich als Gegenbild zur gehetzten und oberflächlichen Gegenwart versteht.

Sicher, es gibt in der Naturschutzbewegung auch Grundsatzdebatten über Lebensqualität, Eigenrechte der Natur und nachhaltige Entwicklung, über Agrar-, Energie- und Verkehrspolitik. Aber fundamental politische Fragen wie etwa diejenige nach dem ressourcenzehrenden Wachstums-, Wettbewerbs- und Freihandelsmodell im Gegenwartskapitalismus werden eher nicht gestellt oder auf Wochenendseminaren abgehandelt. Jedenfalls prägen sie den Naturschutzalltag nicht, der sich aus nachvollziehbaren Gründen eher durch Abwehrkämpfe aller Art auszeichnet und nach dem Motto verfährt: Retten, was zu retten ist.

Geht es nach Bram Büscher und Robert Fletcher, soll es mit dieser selbst auferlegten Genügsamkeit des Naturschutzes bald vorbei sein. Die beiden Entwicklungssoziologen von der Universität Wageningen mit dem Schwerpunkt Politische Ökologie haben gerade ein Buch veröffentlicht: "Die Naturschutzrevolution. Radikale Ideen zur Überwindung des Anthropozäns".

Sie begründen darin zunächst eindringlich, warum ein Abschied vom bisherigen "Mainstream-Naturschutz" aus ihrer Sicht geboten ist. Das Argument: Trotz partieller Erfolge hier und da und trotz einer weltweit steigenden Zahl von Schutzgebieten gehen intakte Ökosysteme und Artenvielfalt in atemberaubender Geschwindigkeit zurück.

Wir stehen vor dem sechsten Massenaussterben von Arten in der Erdgeschichte, diesmal menschengemacht, und zwar vor allem durch Lebensraumzerstörung, intensivierte Landnutzung, Ausbeutung, Erderwärmung und Umweltverschmutzung. Es droht schon in naher Zukunft das Aussterben von einer Million Tier- und Pflanzenarten, so der Weltbiodiversitätsrat IPBES. Wer sich diese niederschmetternde Bilanz vor Augen führt, kann eigentlich kaum für ein "Weiter wie bisher" im Naturschutz plädieren.

Absage an Naturschutz-Kolonialismus

Von der Strategie, wegen des drastischen Schwundes an biologischer Vielfalt die Bemühungen zur Ausweitung von Naturschutzgebieten an Land und auf dem Meer voranzutreiben, halten Büscher und Fletcher allerdings nicht viel. Ihre Kritik richtet sich dabei vor allem gegen die weltweite "Nature Needs Half"-Bewegung, die die Hälfte der Erdoberfläche menschlicher Nutzung entziehen will, vor allem jene Gebiete, die sich durch eine große biologische Vielfalt auszeichnen und um den Äquator herum ballen.

 

Man kann die recht pauschale Absage an Reservate als leichtfertig kritisieren, denn hinreichend große und gut vernetzte Schutzgebiete können sehr wohl einen relevanten Beitrag zum Artenschutz leisten, vor allem dann, wenn sie mit Entwicklungsperspektiven für die lokalen Bevölkerungen verknüpft werden. Aber den beiden Autoren geht es um Grundsätzliches.

Sie wollen die sogenannte Natur-Kultur-Dichotomie überwinden, in der der Mensch per se als Störfaktor gesehen wird, den es zum Wohle der nicht-menschlichen Arten möglichst zurückzudrängen gilt. Stattdessen wollen sie über die vernunftgemäße Gestaltung des Stoffwechsels zwischen Gesellschaft und Natur durch eine basisdemokratische Öffentlichkeit reden, über gesellschaftlich vereinbarte Werte, Ziele und Verfahren.

Nicht zuletzt speist sich die Skepsis gegenüber der Idee, Naturschutz durch Parks erreichen zu können, bei Büscher und Fletcher aus einer kolonialismuskritischen Grundhaltung. Vor allem mit Blick auf Afrika verweisen sie darauf, dass die Ausweisung von Schutzgebieten in der Vergangenheit oft mit der Vertreibung indigener Bevölkerung einherging, die – trotz ökologisch angepasster Lebensweisen – zum vermeintlichen Wohle der "Wildnis" verdrängt wurde.

Statt indigenes Wissen und indigene Lebenspraxis als zentrale Elemente in die Naturschutzstrategien zu integrieren, werde von weiten Teilen des Mainstream-Naturschutzes nach wie vor eine Denkfigur gepflegt, in der das Mensch-Natur-Verhältnis nur als Täter-Opfer-Beziehung gedacht werden könne. Der Sieg des einen ist dann die Niederlage der anderen.

Inwertsetzung verhindert den nötigen Wandel

Noch tiefer als die Aversion gegen exkludierende Schutzgebietsstrategien sitzt bei Büscher und Fletcher die Abneigung gegen Ökonomisierungsstrategien im Naturschutz, welche die Natur als Naturkapital in Wert setzen und zum handelbaren Gut machen wollen. Daran, dass die definitorische Einführung von Naturkapital als dritte Säule des Kapitalismus, neben Investivkapital und "Humankapital", irgendetwas an den zerstörerischen Gegenwartstendenzen ändern könnte, haben sie erhebliche und gut begründete Zweifel.

Porträtaufnahme von Reinhard Loske.
Foto: privat

Reinhard Loske

ist seit Mitte des Jahres Mitglied im Vorstand der Stockholmer Right Liveli­hood Foundation. Zuvor war er Präsident der Cusanus Hoch­schule für Gesellschafts­gestaltung in Rheinland-Pfalz, Professor für Nach­haltigkeit und Trans­formations­dynamik an der Universität Witten/​Herdecke, Umwelt­senator in Bremen und Abgeordneter des Bundes­tages.

Der heute etablierten Sprache der Klimaneutralität und der sogenannten Nature-Based Solutions, in der Wälder vor allem auf ihre Funktion als handelbare CO2-Senken zusammenschnurren, die zur Kompensation unterlassener Emissionsvermeidung dienen, können sich die Autoren jedenfalls nicht anschließen.

Auch hier könnte man wieder "pragmatisch" argumentieren und den Autoren entgegenhalten, dass die Natur in Abwägungsprozessen doch nur verlieren könne, wenn ihr kein Preis zugeschrieben wird. Schließlich müssen die Preise die "ökologische Wahrheit" sagen, um Lenkungseffekte zu bewirken.

Aber wie bei der Ablehnung der Natur-Kultur-Dichotomie geht es Büscher und Fletcher auch hier um Grundsätzlicheres. Ihre These: Der Kapitalismus, der Mensch und Natur durch seine Wachstumsfixierung deformiert und zurichtet, kann niemals zu jener sozial-ökologischen Transformation führen, derer es so dringend bedarf. Wo Akkumulationszwang und Eigentumsfetisch herrschen, sind Freiheit und Nachhaltigkeit schlicht unmöglich.

Ökologisch geläuterter Anthropozentrismus

Wollte man die Autoren im vertrauten politischen Koordinatensystem verorten, so wären sie sicher eher links einzusortieren. Ihren Marx haben sie gelesen, und auch die neuen Leitsterne am linken Firmament sind ihnen bestens vertraut, von David Graeber über Slavoj Žižek bis Naomi Klein.

Unterschiede zur traditionellen Linken mit ihrem öden Geschichtsdeterminismus bestehen aber vor allem in zweierlei Hinsicht: Büscher und Fletcher argumentieren nicht in der Denkwelt von Haupt- und Nebenwidersprüchen, sondern sehen sich als Teil eines breiter werdenden und äußerst diversen Denkstroms aus Klimagerechtigkeit, Wachstumskritik, Antikolonialismus, Allmende-Wirtschaft ("Commons") und Gemeinwohlorientierung.

Und sie bleiben nicht bei der Kritik und Dekonstruktion der herrschenden Verhältnisse stehen, die doch oft nur Ohnmachtsgefühle kultiviert, sondern präsentieren eine konkrete Alternative zu Mainstream-Naturschutz, Natur-Kultur-Dichotomie und Monetarisierung der Natur. Diese Alternative nennen sie – in Anlehnung an den von Ivan Illich in den 1970er Jahren eingeführten Begriff der Konvivialität – "konvivialen Naturschutz".

Den Wesenskern des konvivialen Naturschutzes bilden die vorbehaltlose Anerkennung der planetaren Grenzen, das solidarische Miteinander von Menschen zur Erhaltung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen in Raum und Zeit und das permanente Anstreben eines kooperativen und lebensdienlichen Verhältnisses von uns Menschen zur nicht-menschlichen Mitwelt, zur belebten und unbelebten Natur, zu den Tieren, Pflanzen und anderen Lebewesen.

Dem Anthropozentrismus der Gegenwart wird also kein reiner "Ökozentrismus" gegenübergestellt, sondern ein ökologisch geläuterter Anthropozentrismus, der den Menschen zurücknimmt, aber nicht ausschließt, seine Existenzbedürfnisse anerkennt, aber Hybris, Dominanz, Ökonomismus und blinden Technikglauben ablehnt.

Ein Quantensprung in der Naturschutzdebatte 

Man kann kritisieren, dass Büscher und Fletcher ihre zentralen Begriffe im Buch nicht wirklich umfassend durchdringen, etwa den Konvivialismus (das lebensdienliche Miteinander), das Anthropozän (die Menschenzeit) oder das Kapitalozän (das Zeitalter des Kapitalismus). Auch die Zusammenhänge von Erderwärmung und Biodiversitätsschwund hätten eine umfassendere Behandlung verdient gehabt. So manche wertvolle Literaturquelle geht den Autoren durch.

Aber das Inspirierende am Konzept der beiden "Radikalen" aus Wageningen ist, dass sie in der Zusammenschau aus Bekanntem und Neuem eine Perspektive auf den Naturschutz bieten, die weit über die enge Fachöffentlichkeit hinausgeht und so mehr Menschen für das überlebenswichtige Thema Biodiversität interessieren könnte.

Die konkreten Vorschläge des Buches sind allesamt diskussionswürdig, etwa die Weiterentwicklung

  • von ausschließenden Naturschutzgebieten zu Naturfördergebieten,
  • vom Experten- zum Mitmach-Naturschutz für alle,
  • vom spektakulären zum alltäglichen Naturschutz,
  • vom voyeuristischen Tourismus zur engagierten Besuchskultur,
  • von der "Entwicklungshilfe" für Naturschutz zur Wiedergutmachung für angerichtete Schäden an der Natur des globalen Südens,
  • vom Naturkapital zu eingebetteten Werten,
  • von der vorherrschenden "Greenwashing"-Tendenz der Industrie zur ehrlichen Beteiligung von Unternehmen am Erreichen von Naturschutzzielen oder
  • von Kompensationszahlungen für entgangene wirtschaftliche Nutzungsmöglichkeiten durch Naturschutz zum "Naturschutz-Grundeinkommen" für all jene, die in und an Naturschutzgebieten leben, vor allem im globalen Süden.

Das Buch

Bram Büscher, Robert Fletcher: Die Naturschutz­revolution. Radikale Ideen zur Überwindung des Anthropozäns. Passagen Verlag, Wien 2022, 280 Seiten, 38 Euro

 

Ganz unabhängig von der Frage, ob das diskursiv-basisdemokratische Moment bei Büscher und Fletcher nicht ein wenig zu stark idealisiert wird und die Möglichkeiten der formalen Politik, des Rechts und der ökologischen Fachexpertise nicht eher unterschätzt werden, ist ihr Buch dennoch ein Quantensprung in der Naturschutzdebatte.

Gerade die deutschen Naturschutzverbände, die sich in ihrer Arbeit sehr stark auf den Staat beziehen und sich in Kommissionen aller Art in halbherzige Kompromisse einbinden lassen, sollten in Zukunft stärker auf die Gesamtgesellschaft zielen, um neue Allianzen zu schmieden. In diesem Buch finden sie eine Fülle von Anregungen dafür, wie man Naturschutz zur Sache aller machen kann – und zwar an die Wurzeln gehend.

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