Klimareporter°: Herr Lucht, Sie untersuchen als Erdsystemwissenschaftler die großen Zusammenhänge. Warum ist die Erdsystemanalyse so wichtig?

Wolfgang Lucht: Darauf gibt es viele Antworten. Die eindringlichste ist vielleicht: Erdsystemanalyse bringt Erkenntnisse, die das Potenzial haben, unser Selbstbild zu erschüttern. Dazu gehört zum Beispiel die Einsicht, dass die Menschheit mit ihrer Kultur, Wirtschaft und Zivilisation nicht bloßer Passagier auf einem Stein im All ist, sondern ein Teil der Biosphäre und eines hochkomplexen Erdsystems.  

Genau das brauchen wir heute angesichts der globalen Umweltzerstörung: eine Revolution unseres Selbstbildes. Denn nur so lässt sich, davon bin ich überzeugt, eine weitere Eskalation der Erdsystemkrise begrenzen.

Solche Revolutionen gab es schon in der Vergangenheit. Die kopernikanische Revolution und die darwinsche Revolution haben die Grundfesten des menschlichen Selbstbildes erschüttert. Jetzt geht es um die ganze Erde, um unsere Zukunft.

Ob die Erde nun um die Sonne kreist oder der Mensch vom Affen abstammt, ist doch für den menschlichen Alltag im Grunde irrelevant.

Stimmt. Aber beides hat gezeigt, welche subversiven Kräfte Vorstellungen und Ideen entwickeln können. Nach Kopernikus und Darwin kam es zu weitreichenden Veränderungen: Die Moderne begann. Ein verändertes Selbstbild führt auch zu veränderten Machtverhältnissen. Deshalb wurden diese Erkenntnisse so scharf bekämpft.

Und nun braucht es so etwas wieder. Die wissenschaftliche Einsicht – wir sind Teil des Systems Erde – ist revolutionär.

"Erdsystemanalyse" klingt ein bisschen nach der Wissenschaft von allem. Mit welchen Fragen beschäftigen sich Erdsystemwissenschaftler:innen?

Das Hauptthema der Erdsystemanalyse ist im Grunde: Welche Entwicklungsmöglichkeiten hat dieses gekoppelte System Menschheit–Planet? Welche Zustände sind möglich, welche wünschenswert und welche wenigstens akzeptabel? Dazu müssen wir uns auch fragen, welche Entwicklungen im Gegensatz dazu katastrophal wären.

Wie können wir überhaupt steuern, wo sind die Möglichkeiten, auf die wir Einfluss haben? Und wohin soll die ganze Entwicklung gehen? Um das zu beantworten, müssen wir dieses komplizierte System Erde und seine Wechselbeziehungen mit der Menschheit besser verstehen.

Inwiefern ist denn unsere Erde ein System?

Das Leben ist ein konstituierender Bestandteil unserer Erde und nicht nur eine Zutat. Nichts auf unserem Planeten wäre so, wie wir es heute beobachten, wenn es kein Leben gäbe. Die Atmosphäre hätte eine andere Temperatur, Atmosphäre und Ozean hätten andere Eigenschaften und es gäbe keine organischen Böden.

Unser Planet ist quasi ein lebendiger Planet, eine ökologische Erscheinung. Geosphäre und Biosphäre bilden gemeinsam die Ökosphäre. Sie ist unser Lebensraum. Alle Bestandteile dieses Planeten stehen in Wechselwirkungen und bilden das System Erde.

Und nun kommt da noch die Menschheit dazu ...

Nicht umsonst heißt unser Zeitalter das Anthropozän. Hinter diesem Begriff steckt das griechische Wort für Mensch, ánthropos. Zu den natürlichen Prozessen kommt die Menschheit hinzu, zahlreich und technologisch fähig. Aus der geoökologischen Zweierbeziehung ist eine Dreierbeziehung geworden: Geosphäre–Biosphäre–Anthroposphäre.

Und all diese großen Sphären, welche die Erde formen, bestehen ihrerseits aus komplexen Systemen. Mit der Fähigkeit des Menschen, zu planen und über die Zukunft nachzudenken, wird die weitere Entwicklung der Erde noch einmal wesentlich komplizierter. Der Mensch ist ein schwieriger Primat: sozial hochintelligent, aber mit ausgeprägter Neigung zu Gruppenkonkurrenz und einer gewissen Kurzsichtigkeit.

Können Sie das genauer erklären, "ein schwieriger Primat"?

Der moderne Mensch hat überall auf diesem Planeten seine Fingerabdrücke hinterlassen. Man kann nichts messen, nicht mal das Eis in der Antarktis, ohne Spuren der Menschheit zu finden. Die Strahlungsbilanz der Erde ist nicht mehr natürlich – also ohne menschliches Handeln – zu erklären, es gibt ausgedehnte Landnutzung und überall findet man Toxine und Rückstände von Plastikmüll. Durch die Vermischung der Arten gibt es eine Homogenisierung der Biosphäre. Überall hat der Mensch seine Finger im Spiel.

Die Erdsystemanalyse baut unter anderem auf der Gaia-Theorie von James Lovelock und Lynn Margulis auf. Also der Idee einer Erde als komplexes, selbstregulierendes System. Stützt das die heutige Forschung?

Die grundlegenden Ideen sind schon älter. Das fängt bei Alexander von Humboldt an, der die Erde erstmals als ein System sah. Der sowjetische Pionier der Biogeochemie Wladimir Wernadski hat bereits 1925 vom Leben als konstituierendem Bestandteil des Mechanismus der Erde geschrieben. Als einen Begründer der Erdsystemanalyse sehe ich aber neben Lovelock und Margulis auch Hans Joachim Schellnhuber, der Menschheit und Erde systematischer als andere zusammen gedacht hat.

Nach der Gaia-Theorie beeinflusst das Leben die Bedingungen auf der Erde so, dass diese für den Bestand des Lebens günstig sind. Lovelock beschrieb diverse Rückkopplungseffekte, mit denen das Leben die Eigenschaften des Erdsystems beeinflusst. Einige davon haben Merkmale, die man als eine Art Regulierung betrachten kann.

Wie kann man sich diese Rückkopplungen vorstellen?

Porträtaufnahme von Wolfgang Lucht.
Bild: Peter Himsel

Wolfgang Lucht

wurde in Kiel zum Physiker promoviert und war in den USA bei der Nasa tätig. Heute leitet er die Abteilung Erd­system­analyse am Potsdam-Institut für Klima­folgen­forschung, ist Professor für Nach­haltigkeits­wissen­schaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied im Sach­verständigen­rat für Umwelt­fragen der Bundes­regierung. Er zählt zu den weltweit meist­zitierten Forscher:innen. Sein Team untersucht mit einem Computer­modell des Erd­systems die planetaren Belastungs­grenzen der Erde. 

Das Leben steht ja auf vielfältige Weise in ständigem Austausch mit der Umwelt. Die Vegetation der Erde bedeckt die Landoberflächen, absorbiert Strahlung, durchzieht den Boden mit Wurzeln, bildet organische Böden aus dem abgestorbenen Material und so weiter. Pflanzen und Tiere tauschen ständig Gase mit der Atmosphäre aus, nehmen Stoffe aus der Umwelt auf, scheiden sie wieder aus.

All diese Vorgänge verändern die chemischen Eigenschaften der Atmosphäre, der Böden und der Ozeane. Wenn Mikroorganismen im Meer ihre Kalkschalen bilden und nach ihrem Tod zum Boden des Meeres sinken, entziehen sie der Atmosphäre CO2. Manche produzieren auch Aerosole, die zur Wolkenbildung beitragen.

So kommt es, dass auch das Klima der Erde über geologische Zeiträume hinweg von geologischen und biologischen Prozessen gemeinsam gestaltet wurde.

Und diese regulierenden Effekte lassen sich entlang der Erdgeschichte nachvollziehen?

Seit der Entstehung des Sonnensystems hat die Leuchtkraft der Sonne stets weiter zugenommen. Das ist normal für einen Stern wie die Sonne. Sie ist mittlerweile zwischen 25 und 30 Prozent heller als noch bei Entstehung der Erde. Und trotzdem ist seit Beginn des Lebens, vor 3,5 Milliarden Jahren, die Erdtemperatur stets innerhalb eines für das Leben tolerablen Korridors geblieben. Wie kann das sein?

Hätte die Erde schon anfangs ihre heutige Atmosphäre gehabt, hätten die urzeitlichen Ozeane gefroren sein müssen, was sie aber nicht waren. Das Leben hätte sich nicht entwickeln können. Umgekehrt wäre es heute sehr viel wärmer, wenn der natürliche Treibhauseffekt sich über die Geschichte der Erde hinweg nicht entsprechend abgeschwächt hätte.

Das Leben schafft sich also sein eigenes Klima?

Die Temperatur der Erde hängt davon ab, welche Eigenschaften die Atmosphäre hat, und diese wiederum hängen mit dem Leben zusammen. Neben geologischen Prozessen war also an der Entwicklung der Erde auch das Leben beteiligt, zum eigenen Vorteil.

Deshalb ist es ja so gefährlich, wenn wir heute in diese Prozesse eingreifen, indem wir die Vegetation der Erde so stark verändern und selbst in großem Umfang Treibhausgase emittieren. Ohne solche Mechanismen wäre jedenfalls nicht zu erklären, warum die Bedingungen auf der Erde seit der Entstehung von Leben immer für das Leben günstig geblieben sind. Viele dieser Rückkopplungen sind mittlerweile wissenschaftlich untersucht worden, aber es gibt auch noch sehr viele Fragen.

Die Gaia-Theorie wurde zumindest anfangs nicht wirklich ernst genommen. Warum?

Gaia-Theorie war vielleicht auch eine etwas zu fantasievolle Bezeichnung für echte Erdsystemwissenschaft. Die Theorie war von Lovelock und Margulis immer streng wissenschaftlich gemeint. Aber es gab natürlich auch spirituelle Strömungen, die den Begriff aufgegriffen und im Sinne von Mutter Erde, von einem Superorganismus verwendet haben.

Das ist natürlich nicht Wissenschaft. Aber dass wir Teil eines lebendigen Planeten sind und ihn nicht als einen Ort ansehen können, an dem wir beliebig Raubbau betreiben können, das ist in jedem Fall wichtig. Lovelock selbst hat manchmal bedauert, seine Überlegungen nach der griechischen Göttin Gaia benannt zu haben. Aber vielleicht war es ja gut, dass die Theorie einen Namen bekam, der nicht so technisch ist.

Es braucht jedenfalls in diesem System der Ökosphäre kein Bewusstsein, um eine gewisse Selbstregulierung zu erklären. Diese entsteht einfach durch evolutionär entstandene, automatisch ablaufende Rückkopplungsmechanismen.

Lovelock hat das in seinem berühmten Gänseblümchen-Modell gezeigt.

Ein ganz einfaches, aber aussagekräftiges Modell namens Daisyworld. In dieser Welt gibt es nur weiße und schwarze Gänseblümchen. Die schwarzen absorbieren Licht und erwärmen damit den Planeten. Die weißen Gänseblümchen reflektieren Sonnenstrahlung und kühlen dadurch ihre Umgebung ab.

Schwarze Gänseblümchen können niedrigere Temperaturen und weiße Gänseblümchen höhere Temperaturen tolerieren. Wird es zu kalt, nehmen die schwarzen Blümchen zu und erwärmen den Planeten, und andersherum. Das Experiment zeigt, dass in diesem einfachen System die Gänseblümchen trotz sich verändernder Umweltbedingungen, wie einer Zunahme der Einstrahlung, ein relativ stabiles Klima herstellen können – ohne Willen oder Intelligenz.

Wie ist das heute? Welche Rolle spielt die Gaia-Theorie in der Wissenschaft?

Mittlerweile gibt es viele wissenschaftliche Belege. Die Theorie wird deshalb weniger kontrovers diskutiert als früher. Die entscheidende Frage ist: Wie stark ist die Regulierung? Schafft sich das Leben teilweise oder sogar weitgehend die eigenen, günstigen Bedingungen? Wie verarbeitet das System Störungen? Und was passiert jetzt, wo wir Menschen eingreifen?

 

Lovelock war jedenfalls überzeugt, dass Gaia zuerst stirbt, lange bevor das Leben selbst ausstirbt. Dass also die Fähigkeit des Lebens, regulierend auf den Planeten einzuwirken, als Erstes verloren geht, wenn die Biosphäre zu sehr gestört wird.

Aber es gibt noch immer zu wenig integrierte Forschung zum Planeten Erde als Ganzem, einschließlich der Menschheit mit ihren Zivilisationen. Die Klimaforscher untersuchen das Klima, die Ozeanforscher den Ozean und die Biodiversitätsforscher die Artenvielfalt. Wir müssen von der Klimasystemanalyse zur Erdsystemanalyse kommen, von der Stabilisierung des Klimas zur Stabilisierung der Erde.

Vor wenigen Wochen hat der Weltklimarat die Zusammenfassung seines neuesten Sachstandsberichts vorgestellt. Sie selbst haben als Ko- und Leitautor an einigen früheren Berichten mitgewirkt. Welche Rolle spielt die Erdsystemanalyse in diesen Berichten?

Nach wie vor eine sehr kleine. Da geht es auftragsgemäß vor allem ums Klima und seine Auswirkungen. Bei den planetaren Belastungsgrenzen ist Klima allerdings nur eine der Dimensionen, wenn auch eine zentrale.

Vielleicht bräuchte es eine Arbeitsgruppe, die untersucht, woran es liegt, dass wir so wenige Fortschritte machen. Das würde dann darauf führen, dass wir auch die Gesellschaften der Erde, ihre Ideengeschichten, ihre Abhängigkeiten, ihre Kulturen und Wirtschaftsweisen als komplexe Systeme miteinbeziehen müssen. Die Zukunft der Erde hängt nicht von Klimaphysik ab, sondern von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.

Aber die Forschungsförderung fließt in große Klimamodelle. Eigentlich hätten von Anfang an die großen Fragen der planetaren, gesellschaftlichen Ökologie mitgedacht werden müssen.

Fängt der Fehler dann nicht schon damit an, dass wir immer nur über der Klimawandel sprechen, obwohl sich ja ganz vieles in unserem Erdsystem verändert?

Es stört mich tatsächlich, dass so oft, wenn vom Klimawandel die Rede ist, vor allem von schmelzendem Eis, vom Anstieg des Meeresspiegels und von Stürmen die Rede ist. Also von den ganzen toten Sachen. Was mich viel mehr besorgt, ist das Chaos, das wir in der Ökologie anrichten.

Lebewesen sind grundlegend vom Klima abhängig. Ökosysteme sind unheimlich komplizierte Netzwerke, in denen alles miteinander zusammenhängt. Wenn sich das Klima ändert oder wir Lebensräume vernichten, stören oder zerstören wir ein kompliziertes ökologisches Netzwerk, und alle diese Netzwerke haben eine Bedeutung für den ganzen Planeten.

Und damit auch für uns ...

Es ist auch unser Lebensraum, der gerade zerstört wird. Wir müssen das Klima wieder stabilisieren und den Artenverlust stoppen, auch wieder renaturieren. Wir haben zwar den Eindruck, dass wir uns durch unsere Technologien unabhängig machen können, aber das ist eine Illusion. Die Zivilisation beruht ganz elementar auf ökologischen Grundlagen.

Die Frage, die wir als Menschheit uns stellen müssen, ist: Können wir Gaia erhalten oder sind wir Zerstörer von Gaia?

Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews: "Vom Homo sapiens zum Homo geosapiens"

Anzeige