Riesiger, wenig belegter Parkplatz vor einem gesichtslosen Shopping Center.
Vor 70 Jahren baute Victor Gruen das erste Shopping Center, das alle Funktionen städtischer Zentren bieten sollte. (Foto: Nikolai Nolan/​Wikimedia Commons)

1956 eröffnete die erste moderne Einkaufs-Mall der Geschichte in Edina im US-Bundesstaat Minnesota ihre Pforten. Sie existiert heute noch und gilt als ältestes überdachtes und klimatisiertes Einkaufsparadies der Welt.

Im selben Jahr begann der Bau des bis heute größten öffentlichen Bauprojekts in der Geschichte der USA. Der Federal-Aid Highway Act gab den Startschuss für ein Netz von Interstate Highways. Allein in den ersten zehn Jahren wurden 41.000 Meilen Autobahnen gebaut.

Bereits zehn Jahre zuvor war der "GI Act" verabschiedet worden, ein Gesetz zur Förderung von Wohneigentum vorrangig in den Vorstädten. Pro Jahr entstanden über eine Million neue Häuser.

Drei wesentliche Zutaten des American Way of Life traten damit fast zeitgleich ihren Siegeszug an: die überwiegend weiße Vorstadt-Siedlung, die diese erschließenden automobilen Infrastrukturen sowie die dazu passenden Kathedralen des Konsums, die Shopping-Malls.

Als Erfinder der Shopping-Mall gilt der Wiener Stadtplaner und Architekt Victor Gruen. Wegen seiner jüdischen Herkunft nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 vertrieben, emigrierte Gruen in die Vereinigten Staaten. In Los Angeles gründete er eines der erfolgreichsten Planungsbüros der damaligen Zeit. Wohl niemand hat so viel Verkaufsfläche geplant und gebaut wie Victor Gruen.

Gruens Vision war dabei eine zutiefst europäische: Er wollte dem ländlichen und vorstädtischen Amerika, das keine funktionierenden, gewachsenen Ortskerne kannte, mittels einer künstlichen Stadt solche liefern. So sollte ein lokales Zentrum entstehen, "dessen Gebäude durch Straßen, Gassen, Plätze miteinander in Verbindung gebracht wurden". Sein Ziel sei "im Grunde genommen eine Renaissance des alten europäischen Stadtkernes", erklärte Gruen.

Was ihm also vorschwebte, war ein Imitat der gewachsenen Innenstadt unter der Ägide des Shoppings. Seine Biografin Anette Baldauf bilanziert: "'Shopping Towns' sollten das zivilgesellschaftliche Leben in der isolierten Vorstadt stärken, Fußgängerzonen die bald völlig ausgehungerten Stadtzentren revitalisieren."

Autobahn, Vorstadt, Mall

Eines von Gruens berühmtesten Projekten entstand 1962 in der Innenstadt von Rochester im Bundesstaat New York. Das Midtown Plaza war das erste städtische Indoor-Einkaufszentrum in den Vereinigten Staaten, inklusive eines Parkhauses mit 1.600 Stellplätzen.

Rochester ist auch die Stadt, die Ende der 1950er Jahre mit dem Bau des sechsspurigen innerstädtischen Autobahnrings begann. Ziel war es, den zunehmenden Pendlerverkehr aus den Vorstädten in die Innenstadt zu bewältigen und die Stadt an das landesweite Freeway-System anzuschließen.

Porträtaufnahme von Timo Daum.
Foto: Fabian Grimm

Timo Daum

ist Physiker, Hochschul­lehrer und Sach­buch­autor. Sein Buch "Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie" erhielt 2018 den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Daum ist Gast der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität am Wissenschafts­zentrum Berlin (WZB). Sein Beitrag erscheint ebenfalls im WZB-Blog der Forschungsgruppe.

Rochester blieb damit keinesfalls allein. Die brachiale Politik, Autos und Pendlerverkehr den Weg zu ebnen, war in vielen amerikanischen Städten zu beobachten.

Vor allem weiße Amerikaner flohen zunehmend aus den Städten und folgten neu gebauten Straßen in die wachsenden Vororte. Schwarzen Bewohnern war es weitgehend untersagt, dasselbe zu tun. Tatsächlich lebten viele schwarze Einwohner entlang der Wege der Autobahnen, während die Weißen sich in wohlhabenden Vierteln im Grünen um die Städte herum wiederfanden.

Über den segregativen Effekt des Autobahnbaus besteht mittlerweile Einigkeit. Autobahnen sind seit Langem Werkzeuge der Stadterneuerung, mit denen sogenannte Slums geräumt und Städte neu formatiert werden. Pete Buttigieg, der jetzige US-Verkehrsminister, sagte kürzlich, Rassismus sei "physisch in einige unserer Autobahnen eingebaut".

Der Architekturkritiker Michael Sorkin hat darauf hingewiesen, dass das Gleiche auch für die Mall gelte: "Das Einkaufszentrum muss schon von seinen Ursprüngen her als rassistische Form angesehen werden, geboren aus dem Kalkül, dass eine Stadt nur für Weiße sich als besserer Return on Investment erweisen würde." 

Ein toxischer Cocktail

Spät dämmerte Gruen, was er mit seiner Idee angerichtet hatte. Seine Biografin Baldauf schreibt: "In den 60ern begann Gruen, seine eigene Fehleinschätzung zu erkennen." Denn aus gleich zwei Gründen musste sein Versuch, europäisches Flair nach Amerika zu exportieren, scheitern.

Erstens wurden die von ihm konzipierten künstlichen "europäischen" Stadtzentren zu wahren Monstern des Flächenverbrauchs, zu grellen Vergnügungsparks, zu Ghettos für die weiße Mittelschicht, nur mit dem Auto zu erreichen.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Und zweitens führten sie obendrein zur Verödung bestehender, funktionierender Innenstädte. Denn was in der Vorstadt als chic und modern galt, wurde auch bald für die Stadtzentren zum Modell der Wahl.

Dass sein Modell nicht nur auf dem Land unerwünschte Nebeneffekte zeigte, sondern zusätzlich seine Verbreitung auch in Städten mit funktionierendem City Center dazu führte, dass dieses verödete, frustrierte Gruen zutiefst. Am Ende seines Lebens distanzierte er sich von dem Monster, das er geschaffen hatte.

In einer Rede in London im Jahr 1978 rechnete er schonungslos mit seinem Lebenswerk ab: Seine Idee sei "bastardisiert" worden. Zugleich wies er jegliche Verantwortung für die Entwicklungen von sich, die "unsere Städte zerstören". Gruen starb 1980 in Wien.

In Berlin lässt sich der Effekt zum Beispiel am Alexanderplatz bewundern, wo ein Stück Speckgürtel-Architektur steht, eine überdimensionierte Resterampe, die auf den Namen "Alexa" hört.

Wenn wir in Berlin demnächst gegen den Weiterbau einer innerstädtischen Autobahn auf die Barrikaden gehen, wozu der Autor hiermit ausdrücklich aufruft, sollten wir vielleicht auch gleich den Rückbau von innerstädtischen Shoppingmalls auf die Agenda setzen. Die gehören, wie wir gesehen haben, genauso zur automobilen Nachkriegsmoderne wie die Vorstadt selbst.

Eine Langfassung dieses Beitrags ist im Kulturmagazin Das Filter erschienen.

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