Die Weltgemeinschaft hat 2015 im Paris-Abkommen beschlossen: Die Erderwärmung soll bei zwei Grad gestoppt werden, besser aber bei 1,5 Grad.
Dieses Limit ist natürlich nicht willkürlich gewählt, doch die Gründe dafür sind in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt. Wird es überschritten, droht eine Eskalation der Klimakrise, vor der Wissenschaftler warnen.
Das Problem: Werden bestimmte "Kippelemente" im Klima- und Erdsystem ausgelöst, kann es zu Kettenreaktionen kommen, durch die sich die Erwärmung unkontrollierbar verstärken würde.
Der Erde droht dann eine "Heißzeit", bei der sich die Erde um vier bis fünf Grad erwärmen würde und die ein Ende der menschlichen Zivilisation mit sich brächte, wie wir sie kennen.
Insgesamt 16 dieser Kippelemente haben Wissenschaftler identifiziert, die bei unterschiedlichen Temperatur-Schwellenwerten ausgelöst werden. Die Palette reicht von den riesigen Eisschilden der Erde auf Grönland und in der Antarktis über die Permafrost-Böden, den Amazonas-Regenwald und den Golfstrom bis zum indischen Monsun.
Tauender Permafrost – ein Erwärmungs-Turbo
Bei den Kippelementen handele es sich "um die Achillesferse unseres Planeten", sagte der frühere Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und Regierungsberater Hans-Joachim Schellnhuber. Und er warnt: "Wir sollten diese Kippschalter tunlichst nicht aktivieren."
Kippen die Systeme, können die meisten davon nicht mehr in den alten Zustand zurückgeführt werden, selbst wenn die Menschheit auf einen Schlag emissionsfrei leben würde.
Ein plastisches Beispiel dafür, wie die das Umlegen eines "Schalters" die globale Erwärmung verstärken kann, ist das Auftauen der Permafrostböden, die ein Sechstel der Landfläche des Globus bedecken – in Sibirien, Alaska und Nordkanada. Die Erwärmung, die bisher global im Schnitt rund 1,1 Grad beträgt, hat diesen Prozess bereits gestartet.
Das Auftauen beschädigt nicht nur Gebäude und Straßen, es setzt auch große Mengen der Treibhausgase CO2 und Methan frei. Allein im obersten Bereich der Permafrostböden stecken rund 1.500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff und damit rund doppelt so viel, wie es derzeit in der gesamten Erdatmosphäre gibt.
Einmal in Gang gesetzt, lässt sich ein selbst verstärkter Auftauprozess nicht mehr stoppen – und riesige Mengen Klimagase werden zusätzlich frei. Das wäre dann ein Turbo für die Erwärmung.
"Umlegen des Schalters" schon gefährlich nah
Ähnlich gravierende Folgen für die Treibhausgas-Bilanz der Erde könnten auch das befürchtete Austrocknen des Amazonas-Regenwaldes und die zunehmende Vernichtung der borealen Wälder im Norden, etwa in Nordkanada und in der russischen Taiga, haben. In ihnen sind ebenfalls riesige Mengen Kohlenstoff gespeichert, die dann zusätzlich in die Atmosphäre gelangen und der Aufheizung des Planeten einen Schub geben würden. Der Wald würde sich von einem CO2-Speicher in eine CO2-Quelle verwandeln.
Die Warnungen vor den Kipppunkten sind nicht neu. Bereits in den 1980er Jahren war den Klimawissenschaftlern klar, dass bei einem unbegrenzten Wachstum der Emissionen tief greifende Veränderungen im Klimasystem drohen. Jüngste Forschungen zeigen jedoch, dass der Zeitpunkt, an dem die Folgen der Klimaveränderungen nicht mehr aufzuhalten sind, schneller erreicht sein könnte als noch vor wenigen Jahren angenommen.
Eine Gruppe von führenden Forschern warnte Ende vorigen Jahres im renommierten Fachjournal Nature, dass bei mehr als der Hälfte der 16 Kipppunkte das "Umlegen des Schalters" bereits gefährlich nahe sei. Der Hauptautor des Kommentars Timothy Lenton warnte vor einer "planetaren Notsituation". Es liege womöglich nicht mehr in unserer Hand, das Erdsystem vor einem Umkippen in einen neuen Zustand zu bewahren, meint der Direktor des Instituts für globale Systeme an der Universität Exeter in Großbritannien.
Pariser Klimapfad darf nicht aufgegeben werden
Die Forscher haben ausgerechnet, wie viel Treibhausgase die Weltgemeinschaft noch in die Atmosphäre emittieren darf, um das Sicherheitslimit von 1,5 Grad Erwärmung mit einer 50-Prozent-Chance halten zu können. Es sind rund 500 Milliarden Tonnen. Diese Menge wäre bereits erschöpft, wenn der heutige globale CO2-Ausstoß von jährlich mehr als 40 Milliarden Tonnen noch zwölf Jahre lang auf diesem Niveau bliebe.
Die zusätzlichen Emissionen aus den Permafrostböden und der Entwaldung könnten laut der Wissenschaftlergruppe um Lenton zusammen bis zu 300 Milliarden Tonnen betragen, falls das Erreichen der Kipppunkte tatsächlich bereits kurz bevorsteht – 100 Milliarden durch ein abruptes Tauen im Permafrost und 200 Milliarden aus dem Absterben oder Abbrennen der Wälder am Amazonas und in den nördlichen Breiten.
In dem Nature-Kommentar heißt es dazu: Zusammen mit den sonstigen Emissionen "könnte das verbliebene Budget bereits ausradiert sein". Das heißt konkret: Das 1,5 Grad-Limit müsste jetzt praktisch schon abgeschrieben werden.
Wegen dieser Aussichten halten die Forscher es für entscheidend, den im Paris-Abkommen festgelegten Kurs der Emissionsminderung bis zur Klimaneutralität nicht aufzugeben. Denn: Selbst wenn einige der Kippelemente nicht mehr zu stabilisieren seien, so sei es doch möglich, die Kettenreaktionen zu verlangsamen.
Auslösen von Kippelementen bei aktuellen Zielen programmiert
Die Experten erklären das am Beispiel des Meeresspiegel-Anstiegs. Möglicherweise sei ein Anstieg um zehn Meter in den nächsten Jahrtausenden bereits nicht mehr zu verhindern, der weite Bereiche der Küstenzonen auf allen Kontinenten unbewohnbar machen würde. Doch die Menschheit könnte beeinflussen, wie schnell es dazu kommt. Bleibt man im 1,5 Grad-Limit, würde es nach den Berechnungen 10.000 Jahre dauern, bei zwei Grad wahrscheinlich weniger als 1.000 Jahre.
Serie: Kippelemente
Werden die Kippelemente im Klima- und Erdsystem ausgelöst, kann es zu Kettenreaktionen kommen, durch die sich die Erderwärmung unkontrollierbar verstärken würde. Wissenschaftler haben 16 Kippelemente identifiziert, die sogar für ein Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, sorgen könnten. Wir stellen sie in einer Serie vor.
Bisher allerdings sind die Regierungen der Welt noch weit davon entfernt, zwei geschweige denn 1,5 Grad anzupeilen. Laut dem UN-Umweltprogramm Unep steuert die Erde auf ein Plus von 3,2 Grad bis 2100 zu, wenn die Staaten ihre bisher beschlossenen CO2-Ziele einhalten. Schaffen sie das nicht, droht sogar eine Erwärmung um bis zu 3,9 Grad. In beiden Fällen wäre ein Auslösen etlicher Kippelemente programmiert.
In diesem Jahr sollen die Regierungen im Rahmen des Paris-Vertrages verbesserte Klimaziele vorlegen. Ob die reichen werden, die Klimakrise zu bremsen, steht noch in den Sternen.