Autobahn-Baustelle bei Heilbronn, die Autobahn soll verbreitert werden.
Statt wirksamer Maßnahmen im Verkehr sollen Deutschlands Autobahnen weiter ausgebaut werden – so werden die CO₂-Emissionen bestimmt nicht sinken. (Foto: Monikap/​Pixabay)

Als das Umweltbundesamt (UBA) Mitte März seine Berechnungen für die deutsche Treibhausgasbilanz des vergangenen Jahres vorlegte, titelten viele Medien: "Deutschland erreicht Klimaziel 2022". Der CO2-Ausstoß ging im Vergleich zum Vorjahr von 760 auf 746 Millionen Tonnen zurück, ein Minus von 1,9 Prozent. Ist damit alles gut?

Nein, sagte UBA-Chef Dirk Messner damals. Das Tempo reiche nicht, um auch das Klimaziel für 2030 zu schaffen. Damit die Emissionen wie geplant dann nur noch bei 440 Millionen Tonnen liegen, müsse Deutschlands Ausstoß ab sofort und jedes Jahr um sechs Prozent sinken – dreimal so stark wie letztes Jahr.

Nein, sagt jetzt auch der Expertenrat für Klimafragen. Das fünfköpfige Gremium hat am Montag seinen Prüfbericht vorgelegt, in dem – wie vom Klimaschutzgesetz vorgesehen – die UBA-Berechnungen geprüft und bewertet werden. "Die vertiefte Analyse zeigt, dass nicht alles gut ist", sagte der Ratsvorsitzende Hans-Martin Henning, Chef des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE), bei der Präsentation des Berichts.

Der Emissionsrückgang 2022 war laut Expertenrat im Wesentlichen krisenbedingt und folglich nur "von temporärer Natur". Wegen Ukrainekrieg und Energiekrise war das Wirtschaftswachstum geringer als angenommen, die Industrie drosselte ihre Produktion, die Bürger:innen heizten weniger.

Zwar nahm der Ausbau grüner Technologien langsam zu. Doch die fossilen Energien wurden nicht entsprechend zurückgefahren, im Gegenteil. Für die nächsten Jahre heißt das: Ohne zusätzliche Anstrengungen wird Deutschland im Jahr 2030 bei einem CO2-Ausstoß von 630 Millionen Tonnen landen – 190 Millionen Tonnen über dem Zielwert.

Die Sektoren Gebäude und Verkehr fielen auch 2022 wieder negativ auf. Sie verfehlten erneut die Emissionsziele, die das Klimaschutzgesetz ihnen vorgibt. Der Verkehrsbereich emittierte sogar mehr als im Vorjahr. Weil dieses Zuviel auf die kommenden Jahre angerechnet wird, baut sich ein immer größerer Emissionsberg auf.

"Eine Zielerreichung bis 2030 ist im Verkehr besonders unwahrscheinlich", sagte Henning. Beide Sektoren müssen nun Sofortprogramme vorlegen, mit denen die Lücke geschlossen werden kann. Dafür haben sie laut Klimagesetz drei Monate Zeit.

In den vergangenen Jahren war dies für die zuständigen Ministerien keine Lieblingsaufgabe. Die vorgelegten Sofortprogramme wurden vom Expertenrat immer wieder moniert, das Programm von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) fiel sogar komplett durch: Es habe zu wenig Substanz, um überhaupt geprüft zu werden.

Ampel-Regierung will Klimagesetz ändern

"In diesem Jahr sollte das anders sein", mahnte Henning. "Wir gehen davon aus, dass das Klimaschutzgesetz Gültigkeit hat."

Doch in diesem Punkt ist vieles unklar. Denn die Ampel will das Gesetz ändern und die bisherigen Sektorziele aufweichen. Damit, wie viele vermuten, vor allem dem Verkehrsminister weitere unrühmliche Auftritte erspart bleiben, sollen die Sektoren nicht mehr jährlich exakt bilanzieren müssen, wie viele Emissionen sie zu verantworten haben, sondern ihre Ergebnisse miteinander verrechnen können.

So hat es der Koalitionsausschuss Ende März beschlossen. Schafft beispielsweise die Industrie mehr Reduktion, so die Idee, könnte sie dem Verkehr aushelfen, wenn dieser erneut keine oder zu wenig Einsparungen erreicht.

Die Kritik des Expertenrats an diesen Plänen ist deutlich. Die Ressortverantwortung, eine der großen Errungenschaften des Klimaschutzgesetzes, werde tendenziell geschwächt, so das Gremium. Zudem steige die Gefahr, dass die Klimaziele verfehlt werden, wenn die Verpflichtung zum Nachsteuern gelockert wird.

Die Co-Vorsitzende Brigitte Knopf vom Berliner Klimaforschungsinstitut MCC sagte: "Das unterhöhlt die Glaubwürdigkeit des Klimaschutzgesetzes."

Die große Frage ist: Wie ernst nimmt die Bundesregierung ihre selbst gesteckten Ziele? Kaum hatte der Expertenrat bestätigt, dass auch für den Verkehr bis Mitte Juli ein Sofortprogramm vorzulegen ist, wurde das nach übereinstimmenden Medienberichten postwendend infrage gestellt.

"Wir haben eine andere Beschlusslage", erklärte dazu ein Vizeregierungssprecher mit Blick auf die Ergebnisse des Koalitionsausschusses der Ampel-Parteien, deshalb müsse Verkehrsminister Wissing kein Sofortprogramm vorlegen.

"Kein Sektor ist auf Kurs" 

Nicht nur das verstärkt die Zweifel an der Klimapolitik der Koalition. Knopf verwies auch auf einen Bericht über die langfristige Entwicklung der Treibhausgasemissionen, den die Bundesregierung gemäß Klimagesetz dem Parlament bis Ende März hätte zusenden müssen. Passiert ist – nichts.

Dass ein Sektor dem anderen mit eingesparten Emissionen aushelfen kann, so wie die Ampel sich das vorstellt, ist zudem wenig wahrscheinlich. Denn: "Kein Sektor ist auf dem Pfad", stellte Henning klar. Sprich: Es gibt gar keine Spielräume.

Und nach EU-Regeln muss Deutschland ohnehin in allen Bereichen, die nicht vom Emissionshandel abgedeckt sind, wie eben Verkehr und Gebäude, jährlich bestimmte Reduktionsziele schaffen – oder entsprechende Zertifikate teuer nachkaufen.

Wie die Ampel die geplante Verrechnung der Sektoren im Einzelnen ausgestalten will, ist noch offen. In der Koalition dürfte damit weiterer Streit vorprogrammiert sein.

Kaum lag der Prüfbericht des Expertenrats vor, meldete sich Julia Verlinden von den Grünen zu Wort und betonte, die Sektorziele blieben auch nach der Novelle des Klimaschutzgesetzes bestehen und würden jährlich überprüft werden können. Ob das die FDP auch so sieht?

Lesen Sie dazu unseren Kommentar:

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