Eigentlich wollte Fridays for Future keine eigenen Vorschläge machen, wie die Klimakrise abgemildert werden kann. Doch weil die Politik aus Sicht der Protestbewegung nur unzureichende Maßnahmen im Blick hat, hat sie heute selbst eine Untersuchung vorgelegt, wie das 1,5-Grad-Ziel noch erreicht werden kann.
"Auch nach zwei Jahren Klimastreik und einer Zeit mit Waldsterben, Dürren und Ernteausfällen werden Maßnahmen noch immer von den Regierungszielen her gedacht", sagt Sebastian Grieme von Fridays for Future bei der Vorstellung der Studie im Berliner Martin-Gropius-Bau.
Dabei sei längst klar, dass die Ziele der Bundesregierung nicht ausreichen, die Erwärmung des Planeten bei 1,5-Grad zu stoppen. Deutschland will seine Treibhausgasemissionen innerhalb der nächsten zehn Jahre um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken, zur Mitte des Jahrhunderts soll die Bundesrepublik klimaneutral sein.
Fridays for Future fordert, dass Deutschland schon 2035 klimaneutral wird. Das entspreche einem fairen Anteil, wenn das noch zur Verfügung stehende CO2-Budget für das 1,5-Grad-Ziel – 580 Milliarden Tonnen CO2 – weltweit gleich verteilt würde.
Klimapolitik soll deshalb vom Ziel her gedacht werden, fordert Grieme: "Wir müssen endlich damit anfangen, über die notwendigen Maßnahmen zur Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad zu reden."
Das soll die Studie leisten, mit der Fridays for Future das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie beauftragt hatte. Finanziert wurde die Studie von der GLS Bank.
"Wir haben untersucht, ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, dass Deutschland bis 2035 CO2-neutral wird – ohne in die Trickkiste zu greifen, also beispielsweise ohne negative CO2-Emissionen", sagt Manfred Fischedick vom Wuppertal-Institut.
"Extrem anspruchsvoll, aber möglich"
Das Ergebnis: Deutschlands Emissionen müssen jedes Jahr um 60 bis 70 Millionen Tonnen CO2 zurückgehen. Das sind Größenordnungen, die in der Vergangenheit nur in Wirtschaftskrisen verzeichnet wurden.
"CO2-Neutralität bis 2035 zu erreichen ist extrem anspruchsvoll, aber durchaus noch möglich, wenn Politik und Gesellschaft in die gleiche Richtung agieren", sagt Fischedick. Ein Selbstläufer sei das aber nicht, hier seien dicke Bretter zu bohren. Dazu gehöre auch, mit der ein oder anderen Routine zu brechen.
Für die Wirtschaftssektoren listet die Studie viele verschiedene Einzelmaßnahmen auf. Die Energiebranche ist dabei ein Schlüsselbereich. Jedes Jahr sollen neue Wind- und Solaranlagen mit einer Gesamtkapazität von 25.000 bis 30.000 Megawatt installiert werden. "Das ist drei- bis viermal so viel, wie es die Bundesregierung anstrebt", erläutert Annika Tönjes vom Wuppertal-Institut, die ebenfalls an der Studie beteiligt war.
Für die Produktion von "grünem" Wasserstoff muss laut Studie bis 2035 eine sieben- bis neunmal so hohe Kapazität an Elektrolyseuren bereitstehen, wie es die Regierungspläne mit 10.000 Megawatt vorsehen. Zudem soll die Verstromung von Kohle bis 2035 vollständig eingestellt werden.
Äußerst anspruchsvoll sind die Pläne für den Gebäudebestand. Hier soll die Quote bei der energetischen Sanierung auf vier Prozent geschraubt werden. Bislang wird pro Jahr gerade mal ein Prozent der Bestandsgebäude energetisch saniert. "Die Höhe ist beispiellos", sagt auch Forscherin Tönjes. Die Regierung will die Quote lediglich verdoppeln.
Für Wärme in den Häusern sollen künftig zu einem Großteil elektrische Wärmepumpen sorgen. Zudem soll die Wohnfläche pro Kopf verringert werden.
Ein CO2-Preis von 180 Euro
Auch im Verkehr sind drastische Veränderungen notwendig, um die hohen Emissionen aus Pkws, Lkws und Flugzeugen zu senken. Im Szenario der Studie wird dabei der Autoverkehr halbiert und die ÖPNV-Nutzung verdoppelt.
In Städten soll nur noch ein Drittel des heutigen Pkw-Bestands rollen – City-Maut, Tempolimit und die Reduzierung von Fahrspuren und Parkplätzen sollen die Zahl der Autos senken.
Knapp ein Drittel des Lkw-Verkehrs soll auf die Bahn verlagert werden. Inlandsflüge sollen eingestellt werden.
Extrem herausfordernd wird es auch, die Prozess-Emissionen der Industrie CO2-neutral zu stellen, meint Studien-Hauptautor Georg Kobiela vom Wuppertal-Institut. Die wasserstoffbasierte Stahlherstellung sei aber möglich – wenn jetzt die notwendigen Infrastrukturen wie Wasserstoffpipelines geschaffen würden.
Den Umbauprozess der Industrie könnte ein ausreichend hoher CO2-Preis unterstützen. "Ein Preis von 180 Euro würde zumindest in Teilen die ökonomische Wahrheit sprechen", sagt Kobiela. Sogenannte "Carbon Contracts for Difference" sollen verhindern, dass die Industrie wegen Klimaschutzauflagen aus Europa abwandert.
Für die Landwirtschaft macht die Studie keine Vorschläge. Mitautor Fischedick sieht darin kein so großes Problem: "Unser Untersuchungsziel war CO2-Neutralität, damit decken wir 88 bis 90 Prozent der Treibhausgasemissionen ab." Allerdings müssten auch die anderen Treibhausgase wie Methan und Lachgas parallel zum CO2 reduziert werden.
Die Studie schafft aus Sicht von Carla Reemtsma von Fridays for Future eine Grundlage für eine "ehrliche Debatte": "Alle demokratischen Parteien bekennen sich zum Paris-Abkommen, und doch hat keine einzige Partei Klimapläne entwickelt, die kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel sind", sagt die Klimaaktivistin.
Der Anspruch von Fridays for Future sei es, dass zur Bundestagswahl alle demokratischen Parteien ein Paris-kompatibles Programm vorlegen. Reemtsma: "Es reicht nicht mehr, sich zu Paris zu bekennen und am Ende nur ideologische Debatten über Ge- und Verbote zu führen."
Kritik von der Dena
Von den Grünen erhält Fridays for Future Zuspruch, trotz der indirekten Kritik. "Die nächsten zehn Jahre entscheiden, ob wir es noch schaffen, das Ruder herumzureißen, und ob wir noch eine Chance haben, die Pariser Klimaziele von deutlich unter zwei Grad, besser 1,5 Grad zu erreichen", sagte die Bundestagsabgeordnete Lisa Badum.
Deswegen dürfe die nächste Zielmarke nicht so weit weg liegen wie beim 2030er-Ziel. Es gehe um jedes Zehntelgrad, um jede Maßnahme in jedem Jahr, so Badum.
Kritik an der Studie kommt von der bundeseigenen Deutschen Energie-Agentur (Dena). "Bedauerlicherweise fehlt es den darin beschriebenen Eckpunkten an nachvollziehbaren Machbarkeitspfaden", bemängelte Dena-Chef Andreas Kuhlmann. Das Szenario in der Studie lasse das Erreichen der Klimaziele eher als unmöglich erscheinen.
"Zu nennen ist hier beispielhaft eine quasi sofortige vierprozentige Sanierungsrate oder der großskalige Import von klimaneutralem Wasserstoff bis 2035", sagte Kuhlmann. Die Studie könne "dem dringend erforderlichen konkreten Diskurs über eine zielführende Rahmensetzung eher im Wege stehen".
Ein Manko der Studie ist zumindest das Fehlen einer detaillierten Abschätzung der Kosten. Die Autor:innen verweisen dazu auf Schätzungen der Fraunhofer-Gesellschaft, wonach jährlich 100 Milliarden Euro für die Transformation zu investieren sind.
Damit Klimaschutz nicht auf Kosten ärmerer Einkommensgruppen geht, müssten soziale Fragen berücksichtigt werden, betont Fischedick. Denn: "Angemessene Beiträge zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze sind ohne eine breite Zustimmung und Teilhabe der Gesellschaft nicht möglich."
Lesen Sie dazu unsere Interviews mit Dena-Chef Kuhlmann und Wuppertal-Geschäftsführer Fischedick: "Wuppertal weiß, dass es nicht umsetzbar ist" und "CO2-Neutralität 2035 ist eine dicke und harte Nuss"