Hoesung Lee auf einer Veranstaltung des Deutschen Klima-Konsortiums (DKK)
IPCC-Chef Hoesung Lee auf einer Veranstaltung des Deutschen Klima-Konsortiums (DKK). (Foto: Stephan Röhl/​DKK)

Klimareporter°: Herr Lee, der neueste IPCC-Bericht besagt: Die Erderwärmung lässt sich immer noch auf 1,5 Grad begrenzen. Das verbleibende Budget ist allerdings sehr gering, während die Welt 2018 wohl so viel Kohlendioxid ausstoßen wird wie nie zuvor. Wäre es nicht ehrlicher zu sagen: Die 1,5-Grad-Marke ist nicht mehr zu halten?

Hoesung Lee: Es ist realistisch, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Der neueste IPCC-Sonderbericht stellt fest, dass die Emissionen aus der Vergangenheit alleine noch keine Erwärmung um 1,5 Grad bewirken. Wir haben noch zehn oder zwölf Jahre Zeit.

Das heißt aber auch: Alles, was wir von nun an tun werden, ist entscheidend. Können wir die weltweiten CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2010 senken, sind wir wahrscheinlich in einer sehr guten Position, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Ist das denn möglich?

Alles hängt davon ab, welche Art von Technologien wir kurzfristig einsetzen. Es gibt bereits viele Veränderungen. Die Entwicklung der erneuerbaren Energien ist bemerkenswert. Die Kosten für ihre Erzeugung fallen, und zwar schneller als alle Vorhersagen in den Modellen. Wir befinden uns also auf einer sehr schnellen Lernkurve, die den Übergang zu einem CO2-armen System ermöglicht.

Aber auch 30 Jahre nach der Gründung des IPCC hat die Welt noch nicht begonnen, den CO2-Ausstoß zu senken. Müsste Ihnen das nicht zu denken geben?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Daten bezüglich der Emissionen, der Temperatur oder des wirtschaftlichen Wachstums zu beobachten. Man sollte vorsichtig damit sein, nur einen Punkt in einer langen Zeitreihe herauszugreifen.

Die CO2-Intensität hat abgenommen, also die Menge des Kohlendioxids, die bei der Erzeugung einer wirtschaftlichen Produktionseinheit ausgestoßen wird. Das liegt daran, dass kohlenstoffärmere Quellen zum Einsatz kommen und die Energieintensität abgekommen hat – und das alles auch ohne kraftvolle Klimaschutzmaßnahmen.

Erklärt sich die Weltgemeinschaft auf der UN-Klimakonferenz in Katowice bereit, ihre Ambitionen und Klimaschutzmaßnahmen zu verstärken, ist es möglich, die CO2-Intensität und Energieintensität weiter zu senken, was einen großen Sprung bedeutet, um die Welt auf einem 1,5-Grad-Kurs zu halten.

Welche Schritte wären in Katowice notwendig, um auf 1,5-Grad-Kurs zu bleiben?

Es ist nicht die Aufgabe des IPCC, in den politischen Prozess einzugreifen. Unsere wissenschaftliche Aussage basierend auf den Ergebnissen unseres jüngsten Berichts ist jedoch sehr klar: Die bisherigen nationalen Klimaverpflichtungen dürften es sehr schwer machen, die Erderwärmung entsprechend zu begrenzen, wenn wir diesen Prozess fortsetzen.

Die Länder müssen ihre Klimaschutzmaßnahmen rasch und dringend verstärken. Die Welt muss bis 2030 ihren CO2-Ausstoß um 45 Prozent runterfahren.

Warum ist es eigentlich so wichtig, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen – verglichen mit zwei Grad?

Es ist wichtig für die Lebensgrundlage des Menschen, für die Lebensgrundlage aller lebenden Organismen auf dem Planeten. Eine Erwärmung von 1,5 Grad würde im Gegensatz zu zwei Grad zu zehn Zentimetern weniger Meeresspiegelanstieg bis 2100 führen. Damit wären fast zehn Millionen Menschen weniger betroffen. Das hat doch eine enorme Bedeutung für alle diese Menschen.

Zur Person

Hoesung Lee ist Chef des Weltklimarats IPCC. Der 72-jährige Südkoreaner ist außerdem Professor an der Graduate School for Energy, Environment policy and Technology der Korea-Universität in Seoul. Der Ökonom Lee folgte im Jahr 2015 auf Ismail El Gizouli, der übergangsweise den Weltklimarat geleitet hatte, nachdem Amtsvorgänger Rajendra Pachauri wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung seinen Posten hatte räumen müssen.

Was spricht sonst noch für die untere Temperaturgrenze?

Fast 400 Millionen Menschen weniger wären extremer Hitze ausgesetzt. Das ist wichtig, denn extreme Hitze tötet Menschen. Also kommt es auf jedes bisschen Erwärmung an. Und das betrifft nicht nur die Natur, sondern auch den Menschen.

Stichwort Wassermangel. Wir alle wissen, dass der Klimawandel und die globale Erwärmung verheerende Auswirkungen auf den Wasserkreislauf und die Wassersicherheit haben. Und 1,5 Grad im Vergleich zu zwei Grad bedeutet, dass das Problem des Wassermangels um die Hälfte reduziert wird. Davon profitieren würden vor allem Menschen in den von Armut betroffenen Gebieten, die nur einen schlechten Zugang zu Wasser haben.

Dieser Unterschied von 0,5 Grad bedeutet also viel – für die Menschen, für die Ökosysteme und für die Erreichung der weltweit vereinbarten Nachhaltigkeitsziele.

2018 war ein Jahr des Extremwetters – mit einer schweren Dürre in Europa, Waldbränden in Griechenland und Schweden, heftigem Regen in Italien. Sind das alles Anzeichen einer sich verändernden Umwelt aufgrund des Klimawandels?

Es deutet darauf hin. Setzt sich die globale Erwärmung im derzeitigen Tempo fort, sollten wir mit mehr dieser schrecklichen Ereignisse rechnen, die uns allen auf der ganzen Welt passieren.

Natürlich ist es offensichtlich, dass sich ein bestimmtes Ereignis nur schwer auf den Klimawandel zurückführen lässt, da das Wetter eine Kombination aus natürlicher Variabilität und langfristigem Klimatrend ist. Mithilfe der Attributionswissenschaft aber, so schreiben wir es auch in unserem jüngsten 1,5-Grad-Bericht, können wir bestimmte Elemente von Extremereignissen dem Klimawandel zuordnen.

Was wäre der Preis, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen? Müssen wir große Teile der Äcker der Welt für den Anbau von Energiepflanzen verwenden – und damit dem Hunger Vorschub leisten?

Wenn wir es schaffen, die CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent zu reduzieren, im Vergleich zu 2010, ist es wahrscheinlich, dass unser Bedarf für die BECCS-Technologie [die Kombination aus dem Anbau und Verbrennen von Energiepflanzen und der unterirdischen Speicherung von CO2, Anm. d. Red.] deutlich geringer ausfällt. Wir könnten uns dann vor allem auf die Aufforstung stützen.

Beides erfordert viel Land.

Es gibt jedoch Möglichkeiten, die große Nachfrage nach Land zu begrenzen, vor allem wenn wir den Energiebedarf erheblich reduzieren. Dafür gibt es verschiedene Wege, wie unsere Studien zeigen. Gelingt uns das, sollten wir in der Lage sein, die 1,5 Grad auf dem kostengünstigsten Weg zu erreichen. Der Schlüssel ist also, den Energiebedarf in Zukunft zu senken.

In Brasilien gibt es mit Jair Bolsonaro einen neuen Präsidenten, der den Amazonas-Regenwald für die Rinderindustrie freigeben will. In den USA wiederum gibt es einen Präsidenten, der sich aus dem Paris-Abkommen zurückziehen möchte. Was macht Sie so optimistisch, dass wir das 1,5- oder Zwei-Grad-Ziel nach wie vor erreichen können?

Der Weltklimarat ist nicht in der Lage, zu den politischen Entscheidungen seiner Mitgliedsregierungen Stellung zu nehmen. Wir beobachten aber die Entwicklungen in allen Wirtschaftssektoren in jeder Region der Welt, um überall den Ausstoß von CO2-Emissionen und die Folgen der globalen Erwärmung zu beurteilen.

Und was wir sehen, ist, dass es heute schon eine ganze Reihe an Investitionen in erneuerbare Energien gibt und dass sich in Zukunft die Investitionen stark hin zu kohlenstoffarmen Energien verlagern werden. Außerdem registrieren wir die enorme Entwicklung bei der Energieeffizienz.

Unser Bericht zeigt außerdem, dass die Verschmelzung von Künstlicher Intelligenz, Informations- und Kommunikationstechnik, Robotik, Nanotechnologie und Big Data mit den Technologien zur CO2-Minderung den künftigen Energiebedarf enorm verringern wird.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine Studie hat gezeigt, dass uns die intelligente Landwirtschaft bis 2030 dazu verhelfen kann, die Emissionen in dem Sektor um 30 Prozent zu senken. Eine andere Studie deutet darauf hin, dass die Nutzung von Elektrofahrzeugen und Carsharing dazu beitragen kann, die Treibhausgasemissionen im Stadtverkehr um 80 Prozent zu reduzieren, was Privatautos betrifft.

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