Eine Zukunft für die Welt: Was Erwachsene bisher nicht hinkriegen, versucht die junge Generation zu erreichen, neuerdings auch mithilfe einer Studie zur CO2-Neutralität. (Foto: Gerd Altmann/​Pixabay)

Klimareporter°: Herr Fischedick, das Wuppertal Institut hat kürzlich für Fridays for Future eine Studie erarbeitet, wie Deutschland 2035 bei null CO2-Emissionen ankommen kann. Der Chef der Deutschen Energie-Agentur Dena, Andreas Kuhlmann, wirft Ihnen nun vor, die Ergebnisse der Studie öffentlich als "umsetzbar" zu bezeichnen, während Ihnen intern aber klar sei, dass dies nicht der Fall ist. Was ist an dem Vorwurf dran?

Manfred Fischedick: Wenn das Energiesystem schon 2035 CO2-neutral sein soll, sind die Herausforderungen in der Tat sehr groß. Deutlich wird das nicht zuletzt an der offensichtlichen Diskrepanz, die in den letzten Jahren zwischen der für die Klimaziele nötigen Transformationsgeschwindigkeit und der realen Transformationsdynamik lag, gerade wenn wir auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und die energetische Gebäudesanierung schauen.

Sollte anspruchsvoller Klimaschutz künftig gesellschaftlich und politisch nicht eine deutlich höhere Priorität erhalten, wird es sicher nicht möglich sein, die skizzierten Änderungen umzusetzen. In dieser Hinsicht stimmen wir Herrn Kuhlmann zu, allerdings ergeben sich aus unserer Analyse keine grundsätzlich unüberwindbaren technischen und ökonomischen Hürden, um das Ziel von null Emissionen bis 2035 zu erreichen.

Die Frage, ob eine derartige drastische Verschiebung der Prioritäten möglich ist, lassen wir aber bewusst offen. Das muss und sollte Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Diskussionen sein, in der unterschiedliche Werte miteinander abgewogen werden müssen.

Dafür können und wollen wir aus wissenschaftlicher Sicht nur die notwendige Grundlage schaffen, indem entsprechend dem in der Wissenschaft üblichen "Wenn-dann-Prinzip" transparent gemacht wird, was zu tun wäre, um das im politischen Raum häufig unter dem Stichwort "1,5-Grad-Kompatibilität" formulierte Ziel zu verwirklichen. Zu eben dieser Frage gab es bisher keine umfassende Analyse.

In der Studie benennen wir dabei deutlich die vielen Annahmen, die der Untersuchung zugrunde liegen. So wird das global noch verbleibende Emissionsbudget gleichmäßig auf die Weltbevölkerung verteilt. Ebenso weisen wir klar darauf hin, was jeweils der Einführung der skizzierten Maßnahmen entgegensteht und welche teils massiven strukturellen Veränderungen damit verbunden sind – und damit, welche immensen Anstrengungen nötig sein werden, um die vielfältigen Hemmnisse zu überwinden.

Unsere Studie kommt am Ende zu einem ähnlichen Ergebnis wie der 1,5-Grad-Sonderbericht des IPCC aus dem Jahr 2018. Auch der hält ein Umschwenken auf einen 1,5-Grad-Pfad für möglich, was aber mit "unprecedented action", also mit bisher nie dagewesenen Anstrengungen verbunden sei.

Ihre Studie ist auch deshalb besonders anspruchsvoll, weil es nicht nur darum ging, Deutschland bis 2035 CO2-neutral zu machen, sondern auch darum, ein vorgegebenes Emissionsbudget von 4,2 Milliarden Tonnen einzuhalten, damit unser Land seine Pflichten aus dem Pariser Klimavertrag erfüllt. War diese Nuss zu hart, um sie knacken zu können?

Das Zieldatum 2035 für die CO2-Neutralität ergibt sich aus der Vorgabe eines festen Emissionsbudgets, für das wir auf die Abschätzungen des Weltklimarates und des deutschen Umweltrats zurückgriffen haben und das die genannten Prämissen berücksichtigt.

Die Zielsetzung 2035 ist zweifellos eine dicke und harte Nuss, die es zu knacken gilt. Verschiedene Seiten wiesen uns zu Recht darauf hin, Deutschland könne auch mehr CO2 ausstoßen und trotzdem noch angemessen zum Einhalten der 1,5-Grad-Grenze beitragen, indem zum Beispiel im Ausland nicht benötigte Emissionsrechte zugekauft werden oder indem negative Emissionen in entsprechender Höhe zu einem späteren Zeitpunkt realisiert werden.

Auf diese Möglichkeiten weist unser Bericht auch selbst hin – aber auch auf die andere Sichtweise, dass Deutschland und weitere Industrieländer aufgrund ihrer historisch hohen Emissionen den Minderungspfad eigentlich noch viel schneller beschreiten müssten.

Foto: Wuppertal Institut

Manfred Fischedick

Der Energie­system­forscher Manfred Fische­dick ist Vize­präsident und wissen­schaft­licher Geschäfts­führer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie.

Ohne Zweifel erfordert die Begrenzung der Erderwärmung weitreichende Maßnahmen in allen Ländern der Welt. Diese Länder zu befähigen, früher einen Klimabeitrag zu leisten, oder ihnen überhaupt erst zu ermöglichen, einen Klimaschutzpfad einzuschlagen, ist in jedem Fall sinnvoll.

Auf negative Emissionen zu vertrauen, wie das viele Studien machen, scheint mir dagegen durchaus riskant zu sein. Es ist letztlich nichts anderes als eine Wette auf die Zukunft.

Diese Option sollte, wenn überhaupt, nur mit Bedacht und absolutem Augenmaß in Modellrechnungen einbezogen werden, nicht zuletzt wegen der – zumindest derzeit – hohen Kosten, des hohen Energiebedarfs und der zum Teil noch unklaren Auswirkungen auf die Ökosysteme. Bei vielen, vor allem globalen Modellrechnungen hat man den Eindruck, dass das Augenmaß bei der Einbeziehung negativer Emissionen verloren gegangen ist.

Ihre Studie zeigt wie andere auch, dass Deutschland in eine neue Phase der Energiewende eintritt: Um Klimaziele einzuhalten, reicht es nicht mehr, die fossile Stromerzeugung durch eine erneuerbare zu ersetzen. Wir müssen jetzt an viel schwierigere Bereiche wie die Industrie, den Verkehr, den Gebäude- und den Agrarsektor heran. Heißt das nicht auch, dass wir künftig viel mehr über richtige Lösungen diskutieren und diese erproben müssen?

Ja, die Herausforderungen in den verschiedenen Sektoren sind groß. Das machen wir in der Studie auch sehr deutlich. Entsprechend wichtig ist es, um die besten Lösungen zu ringen, besonders dort, wo sich alternative Pfade auftun.

In vielen Bereichen wissen wir aber ganz genau – und teilweise wie beim Verkehr schon seit Jahrzehnten –, was zu tun ist. Bisher haben wir es bloß nicht geschafft, den Hebel umzulegen, oder es geschieht viel zu langsam. Hinzu kommt: Wir haben angesichts des immensen Handlungsdrucks, den uns die Klimaänderung auferlegt, nicht mehr die Zeit, auf neue Technologien zu warten.

Natürlich: Offenheit für Neues gehört zu den wichtigen Tugenden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es auch neue Entwicklungen geben – wir hoffen sogar auf technologische Durchbrüche in den kommenden Jahren. Wann, wo und wie stark das aber der Fall sein wird, bleibt abzuwarten. Beim Klimaschutz darauf zu setzen ist hoch gefährlich und kommt einem ungedeckten Scheck gleich.

Wir haben übrigens in unserer Studie in allen Bereichen auch Technologien einbezogen, die sich noch in der Pilot- und Demonstrationsphase befinden – wie die wasserstoffbasierte Stahlerzeugung und das serielle, industrielle Sanieren. Wir setzen also schon sehr stark auf technologische Entwicklungen, aber eben auf solche, die heute zumindest in Ansätzen absehbar sind .

Grüner Wasserstoff, der mit Ökostrom erzeugt wird, spielt bei der Dekarbonisierung von Industrie und Verkehr eine zunehmende Rolle. Selbst in Ihrer Studie, die den Einsatz weitgehend auf die Bereiche Fliegen, Schifffahrt und Industrie begrenzt, werden so große Mengen an grünem Wasserstoff benötigt, dass er größtenteils importiert werden muss. Die Länder, aus denen wir den Wasserstoff oder die daraus hergestellten E-Fuels beziehen wollen, müssen aber auch auf null Emissionen kommen. Brauchen die ihren Wasserstoff nicht selber?

In unserer Studie entwickeln wir kein eigenes Szenario, sondern betrachten verschiedene vorliegende Klimaschutzszenarien für CO2-Neutralität bis 2050. Aus der Vergleichsanalyse ziehen wir den Schluss, dass in einem klimaneutralen Deutschland der jährliche Bedarf an Wasserstoff beziehungsweise synthetischen Energieträgern vermutlich zwischen 400 und 900 Milliarden Kilowattstunden liegen wird.

Je nachdem, wie stark Verhaltensänderungen einbezogen werden oder wie wir mit der Kreislaufwirtschaft vorankommen, könnte der Wasserstoffbedarf aber auch niedriger liegen – bei etwa 200 Milliarden Kilowattstunden.

Die von uns betrachteten Szenarien sind sich einig darin, dass zwar ein substanzieller Anteil des Wasserstoffs – vermutlich um die 150 bis 200 Milliarden Kilowattstunden – im Inland erzeugt werden kann, zumindest dann, die erneuerbaren Energien stark ausgebaut werden. Es bleibt aber in jedem Fall ein Restbedarf an Wasserstoff oder daraus hergestellten Energieträgern übrig, der aus dem Ausland zu importieren ist.

Andere Länder Europas oder auch andere Weltregionen verfügen zum Teil über bessere Potenziale für Solar- und Windkraft als Deutschland und teilweise auch über deutlich mehr geeignete Flächen. Zahlreiche Studien legen nahe, dass diese Länder sowohl ihren eigenen Bedarf decken als auch gleichzeitig exportieren können.

Deutschland und Europa können entsprechend dazu beitragen, dass diese Länder möglichst schnell nachhaltige Strukturen zur Erzeugung von Ökostrom und Wasserstoff aufbauen und damit künftige Exportmöglichkeiten erschließen können. Dafür braucht es internationale Partnerschaften auf Augenhöhe. Fehler, wie sie in den Nullerjahren bei den Anfängen der Desertec-Initiative gemacht wurden, müssen vermieden werden.

Uns ist natürlich bewusst, dass der Aufbau entsprechender Anlagen und Infrastrukturen Zeit kostet. Aus heutiger Sicht ist daher unklar, wie viel Wasserstoff international handelbar und verfügbar sein wird. Deswegen sprechen wir uns in der Studie dafür aus, die Erneuerbaren im Inland möglichst stark auszubauen.

Um auf null Emissionen zu kommen, müssen wir in Deutschland den Energieverbrauch drastisch reduzieren, auf etwa die Hälfte des heutigen Niveaus. Zugleich leisten wir uns mit der Erzeugung grünen Wasserstoffs eine Technologie, bei der die Hälfte des eingesetzten Ökostroms praktisch verloren geht. Wie passt das zusammen?

Für mich ist das eine Frage der Relation und der Alternativen. Natürlich sind zunächst die Umwandlungsverluste in Grenzen zu halten. Deswegen hat der direkte Einsatz von Strom, beispielsweise in Elektrofahrzeugen oder per Oberleitung auf der Autobahn, absolute Priorität. Auch sollte die Energienachfrage soweit wie möglich reduziert werden, was wir in der Studie auch betonen.

Es gibt aber Bereiche, wo sich aus heutiger Sicht Strom nicht direkt anwenden lässt. Das betrifft große Teile des Flug- und Schiffsverkehrs sowie zahlreiche industrielle Prozesse, etwa in der Stahlerzeugung oder dort, wo mit Hochtemperaturwärme gearbeitet wird.

Und man darf eines nicht vergessen: Das heutige System ist an Ineffizienz kaum zu übertreffen. Kaum eine Energieanwendung ist weniger effizient und mit mehr Umwandlungsverlusten verbunden als die Verbrennung von Benzin und Diesel in Motoren mit Wirkungsgraden unter 20 Prozent.

Die Thinktanks Agora Energiewende und Agora Verkehrswende haben gerade ein Konzept für ein klimaneutrales Deutschland im Jahr 2050 vorgelegt. Es sieht vor, die letzten fünf Prozent der CO2-Emissionen über CCS zu entsorgen, weil es für diese Emissionen keine praktikablen Lösungen gibt. Kommt Ihr Wuppertal-Konzept ganz ohne CO2-Speicherung aus?

Wir legen in der Studie dar, dass bestimmte Emissionen der Industrie ohne CCS vermutlich nicht auf null reduziert werden können, besonders in der Zementindustrie. Bis 2035 werden dafür andere Optionen wie etwa Materialsubstitute kaum zur Verfügung stehen, jedenfalls nicht in ausreichenden Mengen.

Insofern halten wir es für wichtig, für die CO2-Neutralität bis 2035 eine CO2-Infrastruktur aufzubauen. Da stimmen wir mit der Agora-Studie überein – für die haben wir den Industrieteil ja auch selbst modelliert, das ist also wenig verwunderlich.

Beurteilt man CCS, macht es einen großen Unterschied, über welche Mengen wir sprechen. Vor zehn Jahren hing CCS mit der Verlängerung fossiler Kraftwerksstrukturen zusammen. Das scheiterte an fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz und ist vom Tisch.

Heute geht es darum, CO2-Mengen zu entsorgen, die anderweitig nicht zu vermeiden sind. Dabei reden wir um eine Menge, die um mindestens eine Größenordnung geringer ist.

Fridays for Future hat bisher gefordert: "Follow the Science", also "Folgt der Wissenschaft". Mit Ihrer Studie hat die Bewegung nun selbst "Science" gemacht. Eine Studie, so fundiert sie auch ist, kann jedoch nie eine perfekte Handlungsanleitung sein, sondern nur Fingerzeige geben, wo der richtige Weg liegen könnte. Waren insofern die Erwartungen von Fridays an die Ergebnisse Ihrer Studie nicht zu hoch?

Ein klares Nein. Auch Fridays for Future ist bewusst, dass die in der Studie skizzierten Minderungsoptionen für die einzelnen Sektoren nicht die einzigen denkbaren Wege zur CO2-Neutralität bis 2035 sind. Die Grenzen der Studie werden im Text ganz offen benannt und sind den jungen Menschen sehr wohl bewusst.

Das Maß an wissenschaftlichem Verständnis, das wir bei Fridays angetroffen haben, hat uns durchweg beeindruckt. Das gilt auch für den Willen, sich offen mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. Auch Fridays for Future versteht die Studie vor allem als wichtigen Denkanstoß und Debattenbeitrag zur nötigen und möglichen Verschärfung der Klimaziele in Deutschland und zu den dafür erforderlichen Maßnahmen.

Nach innen wie außen war und ist das Ziel der Studie, ehrlich darüber zu informieren, was getan werden müsste, um unter den genannten Prämissen einen hinreichenden nationalen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel zu leisten. Das ist ganz schön viel – und wird jeden Tag schwieriger, an dem keine ausreichenden Beiträge geleistet werden.

Zum Hintergrund der Studie "CO2-neutral bis 2035" und ihrer Prämissen

Wie in der wissenschaftlichen Praxis üblich, handelt es sich bei der Analyse des Wuppertal Instituts um eine typische "Wenn-dann-Betrachtung".

Konkret wurde auf Anfrage von Fridays for Future und mit finanzieller Unterstützung der GLS Bank in der Studie skizziert, welche Maßnahmen notwendig sind, wenn Deutschland einen angemessenen Beitrag zur Einhaltung des Pariser Klimaziels leisten soll, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

Zentrale weitere Rahmenbedingungen waren dabei, dass

  • das 1,5-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 50 Prozent eingehalten werden soll,
  • keine in der Zukunft vielleicht realisierbaren "negativen Emissionen" berücksichtigt werden sollen,
  • das unter diesen Voraussetzungen noch zur Verfügung stehende globale CO2-Budget gleichmäßig pro Kopf auf alle Menschen der Erde verteilt wird und
  • keine Minderungsmaßnahmen angerechnet werden, die außerhalb Deutschlands erbracht werden (Ausschluss von Offsetting).

Geht man von diesen Prämissen aus und übernimmt Schätzungen des Weltklimarates IPCC sowie des Umweltrates SRU für das verbleibende Emissionsbudget, lässt sich ableiten, dass die CO2-Emissionen in Deutschland selbst bei einer unmittelbaren und schnellen Reduktion ungefähr im Jahr 2035 bei null ankommen müssen.

Vor diesem Hintergrund skizziert die Studie, welche Transformationsschritte und ‑geschwindigkeiten in Energiewirtschaft, Verkehr, Industrie und Gebäude nach heutigem Kenntnisstand nötig wären, um CO2-Neutralität bereits 2035 zu erreichen. Sehr deutlich wird darauf hingewiesen, welche Hemmnisse dabei zu erwarten sind und welche zum Teil massiven strukturellen Veränderungen damit einhergehen.

Diese transparente Darstellung der notwendigen Maßnahmen, um das im politischen Raum häufig unter dem Stichwort "1,5-Grad-Kompatibilität" formulierte Ziel zu erreichen, ist der zentrale Mehrwert der Studie.

Zusammenfassung: Wuppertal Institut

 

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