Klimareporter°: Herr Holzapfel, die Klimabilanz des Verkehrs in Deutschland ist miserabel, es gab drei Jahrzehnte lang praktisch keine Reduktion beim CO2-Ausstoß. Haben die Spritpreise von zwei Euro und das Neun-Euro-Ticket eine Umkehr gebracht?
Helmut Holzapfel: Der teurere Treibstoff lässt die Verkehrsleistungen schon etwas sinken. Allerdings ist das noch keine nachhaltige Verkehrspolitik, wie sie dringend notwendig ist. Subventionen in fossile Energien wie den Tankrabatt, der ja letztlich den Produzenten, den Ölkonzernen, und indirekt sogar Putin genutzt hat, brauchen wir natürlich gar nicht.
Immerhin hat das Neun-Euro-Ticket bewiesen, dass die Menschen durchaus zum Umsteigen bereit sind. Dort, wo das Angebot von Bussen und Bahnen gut ist.
Bund und Länder streiten über das Nachfolge-Ticket ...
Ein Skandal. Das war eine erfolgreiche Maßnahme im Verkehrssektor, und jetzt wird sie verstolpert. Allerdings: Selbst ein gutes Nachfolge-Ticket, etwa für 29 Euro im Monat, ist nur ein kleiner Teil der Lösung.
Klimaexperten rechnen vor: Will die Bundesregierung die internationalen Klimaziele durch neue Autotechnik einhalten, dürfte sie zum Beispiel schon ab 2025 keine neuen Verbrenner mehr zulassen. Die FDP will dies aber sogar noch nach 2035 erlauben.
Wie kann es denn gelingen, die Anforderungen des Pariser Klimavertrags im Bereich Mobilität noch einzuhalten?
Auf keinen Fall, indem man – wie bisher – praktisch gar nichts tut. Die Lücke zwischen der notwendigen CO2-Reduktion und dem Verlauf ohne politische Eingriffe wird immer größer, ab 2025 würden nur noch radikale Einschnitte zum Ziel führen.
Es ist doch absehbar, dass sich das E-Auto durchsetzt. Die Zulassungszahlen steigen rasant an. Reicht das nicht?
Das E-Auto kommt, keine Frage. Die ersten Autokonzerne, darunter Opel, Fiat und Ford in Europa, planen, ab 2030 nur noch E-Autos zu verkaufen.
Dennoch bleibt das Ökostrom-Angebot für Mobilität begrenzt, weil die erneuerbare Energie auch gebraucht wird, um Kohle- und Erdgas-Strom zu ersetzen – und dann auch noch, um Wärmepumpen zur Hausheizung zu betreiben. Zudem kommt das Ladenetz für E-Autos kaum voran.
Alle Berechnungen zeigen, dass es die Autotechnik allein nicht schafft, die nötigen CO2-Einsparungen im Verkehrssektor hinzubekommen.
Was müsste die Ampel also tun?
Jetzt gleich umsteuern. Wir brauchen einen Stopp des Straßenbaus, eine Verkehrsverlagerung weg von Auto und Lkw – und natürlich ein Tempolimit.
Keine neuen Straßen mehr?
Der Bund baut weiterhin Autobahnen, als gäbe es kein Morgen. Das ist das sinnloseste Tun, aber kaum jemand traut sich, das zu sagen.
Helmut Holzapfel
leitet das Zentrum für Mobilitätskultur in Kassel. Der Bauingenieur, Stadtplaner und Verkehrswissenschaftler war bis 2015 Professor am Institut für Verkehrswesen der Uni Kassel. Er ist Mitglied im Mercedes-Integritätsbeirat und berät Gewerkschaften sowie Umweltverbände.
Um bis 2035 noch ein Einbiegen den auf Weg zur Klimarettung zu ermöglichen, muss die deutsche Autoflotte dann um rund 20 Prozent kleiner sein als heute. Eine komplette Umkehr des bisherigen Trends. Neue Straßen brauchen wir aber auch deswegen nicht, weil neue Autos mit Abstandsautomaten dann viel dichtere Fahrzeugfolgen ermöglichen werden.
Stattdessen rollen die Bagger, von der A20 über die A49 bis hin zu neuen Plänen wie zur A39 bei Lüneburg. Es gilt die alte Regel: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten. Jede dieser Strecken fördert das Auto und erzeugt gewaltige ökologische Schäden, darunter die Versiegelung von Agrar- und sogar Moorflächen.
Wer es ernst meint mit dem Klimaschutz, muss mit dem Autobahnbau so schnell wie möglich ganz aufhören. Die Politik stellt sich hier blind, auch die Grünen diskutieren es kaum. Im Ausland gibt es intensivere Debatten, in Wales etwa wurde der Straßenbau bis zu einer Prüfung der Klimawirkung gestoppt.
Die Ampel hat immerhin versprochen, den öffentlichen Verkehr zu verbessern. Die Fahrgastzahlen der Bahn sollen bis 2030 verdoppeln werden.
Die Fakten sagen etwas anderes. Die Ampel setzt genau wie die Merkel-Regierungen auf den Bau neuer Fernstraßen und vernachlässigt die Schieneninfrastruktur. Für den Neu- und Ausbau der Bundesfernstraßen steht 2023 mit 3,86 Milliarden Euro fast doppelt so viel Geld zur Verfügung wie für die Kapazitätserweiterung des Schienennetzes, für die zwei Milliarden vorgesehen sind.
Zuletzt wurde im Entlastungspaket noch eine Aufstockung für den Verkehr um 1,5 Milliarden Euro beschlossen, von denen aber auch nur 500 Millionen in die Schiene fließen. Die werden von der Inflation der Baukosten aufgefressen. Fazit: Die Schiene gerät gegenüber der Straße weiter in Rückstand.
Also ist keine Verkehrsverlagerung auf den öffentlichen Verkehr drin?
Die angekündigte Verdopplung der Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr bis 2030 wird mit den derzeitigen Haushaltsansätzen niemals gelingen. Man hätte Glück, wenn sich der katastrophale Zustand der Bahn nicht noch verschlimmert.
Noch übler dran ist der ÖPNV in den Kommunen. Auch hier dürften die höheren Investitionen wegen der Inflation kaum wirksam werden. Und die Verluste aufgrund der steigenden Energiepreise tun ein Übriges, damit die Käufer eines Nachfolgers des Neun-Euro-Tickets bald eher ein kleineres statt größeres Angebot an Bussen und Bahnen vorfinden werden.
Was tun?
Der Bund muss die Mittel im Verkehr dramatisch umschichten, vom Straßenbau in Richtung Bus und Bahn. Wenn der Straßenbau gestoppt wird, ist das Geld dafür da. Positiver Nebeneffekt: Unter dem Strich würden dabei auch mehr Arbeitsplätze entstehen.
Und was sonst für den Klimaschutz? Tempo 130 auf Autobahnen?
Jeder weiß, das scheitert bisher an der FDP. Aber jeder Liter Sprit weniger zählt. Und auch für E‑Autos ist das Limit günstig, weil es die Reichweite erhöht. Der Widerstand der Autoindustrie bröckelt bereits.
Verkehrsminister Wissing muss Tempo 130 als "Freiheitstempo" populär machen, so wie Finanzminister Lindner die "Freiheitsenergien" Solar und Wind. Warum nicht? Die Zeiten sind so dramatisch, dass alle Parteien bei "ihren" Themen umdenken müssen, nicht nur Grüne und SPD.
Wo wäre noch etwas zu holen?
Innerorts. Hier könnte eine Lösung helfen, die der Deutsche Städtetag schon vor Jahren vorschlug: Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit außerhalb von Hauptstraßen. 287 Kommunen von Aachen bis Zolling unterstützen das inzwischen öffentlich. Es wäre auch ein wichtiger Beitrag zu Lärmschutz und Verkehrssicherheit.
Letzte Frage, könnten andere Sektoren, etwa die Industrie, nicht mehr CO2 einsparen als geplant, sodass das Manko beim Verkehr ausgeglichen wird?
Nein, diese Logik zieht nicht. Die Herausforderungen, Klimaneutralität zu erreichen, sind etwa bei der Stahlproduktion oder in der Chemie viel größer.
Der Verkehr muss sich selber in die richtige Spur bringen. Wenn wir den Bereich Mobilität nicht umbauen, wird dieser Sektor Deutschland bei den CO2-Emissionen international in eine blamable Situation bringen – und unseren Wirtschaftsstandort in Gefahr.