Mit einer Fläche von 13 Fußballfeldern ist der Steamcracker 2 die größte Anlage bei BASF in Ludwigshafen. Seit 1980 spaltet er bei rund 850 Grad Rohbenzin auf. Es entstehen Ethylen und Propylen, Grundstoffe für die Herstellung vieler chemischer Produkte.
Steamcracker wie dieser bei BASF in Ludwigshafen nutzen bisher fossiles Öl und Gas als Rohstoffe und zum Beheizen ihrer Öfen. (Foto: Bernhard Kunz/​BASF)

Die chemische Industrie ist, noch mehr als andere Industriebranchen, von Öl und Gas abhängig. Das wird in der aktuellen Diskussion angesichts des Ukrainekrieges besonders deutlich, doch es ist auch langfristig auf dem Weg zur Klimaneutralität eine Herausforderung. Denn die Chemieunternehmen nutzen Öl und Gas nicht nur als Energieträger.

Erdöl ist die Grundlage für die Produktion vieler Alltagschemikalien, in denen Kohlenstoff steckt. Auch dieser im Produkt enthaltene Kohlenstoff muss für die Klimabilanz berücksichtigt werden. Die Technologien, die die Branche von den fossilen Rohstoffen wegführen könnten, stehen trotz Klimakrise noch ganz am Anfang.

Die chemische Industrie in Deutschland ist jährlich für etwa 100 Millionen Tonnen Kohlendioxidemissionen verantwortlich. Das ist etwa ein Siebtel der Emissionen Deutschlands.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Steamcracker. Sie gehören zu den größten und aufwendigsten Anlagen der chemischen Industrie. In den Crackern wird Naphtha, das in Ölraffinerien produziert wird, zusammen mit Wasserdampf stark erhitzt. Es zerfällt dabei in kürzere Moleküle, die verschiedene Gase bilden.

Die wichtigsten Produkte der Cracker sind die Olefine Ethen und Propen, die Grundstoffe bei der Produktion von Kunststoffen sind. Auch produzieren Steamcracker Aromaten, die beispielsweise für die Produktion von Lösungsmitteln eingesetzt werden.

Die Olefin- und Aromatenproduktion in den Crackern führt auf verschiedene Weise zu Treibhausgasemissionen. Der Prozess ist aufgrund der hohen Temperaturen energieintensiv. Die Öfen der Steamcracker werden üblicherweise mit fossilem Erdgas betrieben. Zudem benötigt die Industrie Strom, der häufig aus Kohle- oder Gaskraftwerken stammt.

Im Produkt enthaltener Kohlenstoff muss berücksichtigt werden

Neben den direkten Energieemissionen entstehen in der chemischen Industrie indirekt Emissionen an ganz anderer Stelle: Die Produkte, die am Ende hergestellt werden, enthalten Kohlenstoff, der letztendlich aus fossilen Quellen stammt. An ihrem Lebensende landen die Produkte meist, wenn sie nicht recycelt werden, in Müllverbrennungsanlagen. Der Kohlenstoff in den Produkten wird zu CO2, das in die Atmosphäre gelangt.

 

Eine weitere Option ist die Entsorgung auf Mülldeponien, doch auch dabei entstehen Emissionen, die teilweise noch problematischer sind: Die Deponieabfälle bilden Methan, ein starkes Treibhausgas. Die Deponierung von Abfällen ist in Deutschland nicht mehr zulässig, in vielen anderen Ländern jedoch weiter üblich.

Für eine klimaneutrale Umstellung der Chemikalienproduktion braucht es einen Blick auf alle Emissionen: die direkten und indirekten Emissionen bei der Herstellung sowie jene, die durch den in Produkten gebundenen Kohlenstoff entstehen.

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) hat im Jahr 2019 eine Roadmap vorgelegt, die Wege hin zu einer klimaneutralen Industrie beschreiben soll. In den Betrachtungen erkennt der Verband die Emissionen am Lebensende der Produkte ausdrücklich an – und spricht aus, was das bedeutet: "Dadurch steigt der Anteil der Emissionen, die der Chemie zugerechnet werden, sehr deutlich."

Um die chemische Industrie klimaneutral umzubauen, braucht es demnach nicht nur erneuerbare Energien, auch die Rohstoffbasis muss auf nichtfossile Quellen umgestellt werden. Dafür kommen verschiedene Technologien infrage, die als Power-to‑X zusammengefasst werden: Mithilfe von Ökostrom können Kohlenwasserstoffe erzeugt werden, als Ausgangsmaterial dienen CO2 und Wasserstoff.

Bei Power-to‑X gibt es jedoch zwei grundverschiedene Wege, die die chemische Industrie gehen könnte. Dabei stellt sich die Frage, ob weiterhin Steamcracker zum Einsatz kommen oder ein völlig anderer Weg genutzt wird.

E-Naphtha und elektrische Cracker

Die Steamcracker der chemischen Industrie verarbeiten heute in aller Regel Naphtha oder andere fossile Rohstoffe. Eine mögliche Alternative ist elektrisch hergestelltes Synthesenaphtha oder kurz E-Naphtha.

Am Anfang steht hier Wasserstoff, der idealerweise mithilfe erneuerbaren Stroms in einer Elektrolyseanlage gewonnen wird. Dieser grüne Wasserstoff kann in einer Fischer-Tropsch-Anlage zusammen mit Kohlendioxid zu Rohöl umgewandelt werden.

Solche Fischer-Tropsch-Syntheseanlagen gibt es bereits vereinzelt, mit einer Ausnahme werden sie allerdings mit fossilen Rohstoffen betrieben. So wird beispielsweise in Südafrika Kohle zu Treibstoff umgewandelt. In Malaysia und Katar gibt es Anlagen, die Erdgas als Rohstoff nutzen.

Das bei der Fischer-Tropsch-Synthese entstehende Rohöl wird mit einem Verfahren namens Hydrocracking weiterverarbeitet. Dabei entsteht eine Mischung von Produkten. Ein Problem hierbei: Es ist nicht möglich, in einer solchen Anlage ausschließlich Naphtha zu produzieren. Es entstehen Nebenprodukte, die etwa als Treibstoffe genutzt werden können.

Das bedeutet, dass bei diesem Weg die Rohstoffproduktion der chemischen Industrie nicht unabhängig von anderen Industrien geschehen kann. Sie muss mit der Produktion von E-Fuels koordiniert werden, die beispielsweise im Flugverkehr eingesetzt werden können.

Neben den Rohstoffen muss die Energie der Cracker erneuerbar bereitgestellt werden. Statt wie bisher mit fossiler Erdgasbefeuerung könnte die Hitze in den Öfen der Cracker elektrisch erzeugt werden. Solche elektrischen Cracker gibt es bisher nicht. Eine Reihe von Unternehmen hat angekündigt, in den nächsten Jahren Pilotprojekte zu starten.

Shell und der Chemiekonzern Dow haben im vergangenen Jahr eine Förderzusage der niederländischen Regierung erhalten und wollen bis 2025 eine Pilotanlage für einen elektrischen Steamcracker bauen. BASF plant einen ersten elektrischen Crackerofen in Ludwigshafen, der gemeinsam mit dem saudi-arabischen Konzern Sabic und der Firma Linde gebaut werden soll. Die Pilotanlage soll 2023 in Betrieb gehen.

Von Chinas Kohlechemie lernen

Neben dem Weg über die Fischer-Tropsch-Synthese und den Steamcracker gibt es eine weitere Möglichkeit für die klimaneutrale Produktion von Olefinen und Aromaten. Dabei könnte man auf Erfahrungen aus einer Branche aufbauen, die man zunächst nicht mit Klimaschutz in Verbindung bringen würde: die chinesische Kohleindustrie.

In China gibt es wenig Öl- und Gasvorkommen, dafür verfügt das Land über große Mengen an Kohle. Die Ölknappheit in China hat dazu geführt, dass dort Technologien entwickelt wurden, um Kohle als Rohstoff für die chemische Industrie zu nutzen.

Dafür wird die Kohle zunächst zusammen mit Wasser in ein Gasgemisch umgewandelt. Dieses besteht primär aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff, es wird als Synthesegas bezeichnet. Aus dem Synthesegas kann anschließend Methanol produziert werden. Das Methanol dient wiederum als Grundstoff für die Produktion von Olefinen.

Die erste industrielle Methanol-to-Olefin-Anlage in China wurde 2010 nahe der Stadt Baotou in den Kohleregionen der Inneren Mongolei in Betrieb genommen. Laut einem Bericht der Beratungsfirma Wood Mackenzie sind insgesamt 25 Methanol-to-Olefin-Anlagen in China in Betrieb.

Auch die Aromaten, die heute über Steamcracker produziert werden, könnten mithilfe einer ähnlichen Technologie synthetisiert werden. Allerdings sind die Verfahren dafür in einem früheren Entwicklungsstadium: Die Methanol-to-Aromatics-Technik gibt es bisher nur in wenigen kleinen Anlagen.

Die Kohlechemie ist natürlich weder umweltschonend noch klimafreundlich, doch die Methanol-to-Olefin-Technologie könnte es sein. Anlagen zur Produktion von grünem Methanol gibt es bereits. Beides zusammen würde einen Weg zur grünen Chemie aufzeigen, der auf bereits etablierten Technologien basiert.

Auch bei der grünen Methanolproduktion steht Wasserstoff am Anfang. Dieser kann zusammen mit Kohlendioxid zu Methanol umgewandelt werden. Die Firma Carbon Recycling International betreibt eine solche E-Methanol-Produktion in Island und plant weitere Anlagen in China und Norwegen.

Eine weitere grüne Methanolproduktionsanlage namens Haru Oni hat Siemens in Chile gebaut. Der Chemiekonzern Wacker plant den Bau einer Produktionsanlage für grünen Wasserstoff und Methanol im oberbayerischen Burghausen.

Bei Haru Oni wird das Kohlendioxid direkt aus der Luft mit einer Direct-Air-Capture-Anlage entnommen. Wacker Chemie und Carbon Recycling International nutzen hierfür CO2-Emissionen aus fossil betriebenen Industrieanlagen – ein entscheidender Unterschied, dazu später mehr.

Zwei Wege zum Ziel: Cracker oder Methanol

Die beiden möglichen Routen – Methanol-to-Olefin oder Fischer-Tropsch-Synthese plus Cracker – haben verschiedene Vor- und Nachteile. Der Verband der Chemischen Industrie geht in seiner Roadmap davon aus, dass es vor allem die Fischer-Tropsch-Synthese sein wird, die künftig Rohstoffe für die Industrie liefert.

In Sachen Energieeffizienz lägen beide Pfade ungefähr gleichauf, erläuterte Jörg Rothermel, Abteilungsleiter für Energie, Klimaschutz und Rohstoffe beim Verband der Chemischen Industrie, im Gespräch mit Klimareporter°.

Für die Chemieunternehmen hat die Fischer-Tropsch-Synthese aber den Vorteil, dass sie ihre bestehenden Steamcracker weiter nutzen und dabei schrittweise auf klimaneutrale Verfahren umstellen können.

"Wir haben die Cracker ohnehin dastehen", sagte Rothermel. "Wenn ich bei der Cracker-Route bleibe, ist damit der Übergang leichter." So könne man zunächst die Öfen der Cracker auf elektrische Beheizung und später die Rohstoffbasis auf E-Naphtha umstellen.

Doch es gibt laut Rothermel noch einen weiteren, weniger offensichtlichen Grund für das Beibehalten der Cracker-Technologie: Neben Power-to‑X-Rohstoffen könnte chemisches Recycling eine wichtige Rolle bei der Rohstoffbeschaffung der chemischen Industrie spielen. Hierbei werden Abfälle chemisch zerlegt und wieder als Rohstoff verwendet.

Eine Möglichkeit ist die Pyrolyse von Kunststoffabfällen. Unter Sauerstoffausschluss werden die Kunststoffe bei hohen Temperaturen zersetzt. Bei diesem Verfahren entsteht Pyrolyseöl, das als Ersatz für Naphtha dienen könnte.

Auch entsteht bei der Pyrolyse Synthesegas, das man wiederum in Methanol umwandeln könnte. In den bisherigen Pilotprojekten zum Pyrolyse-Recycling wird dieses Gas meist verbrannt, um Energie zu erzeugen. Die Rohstoffausbeute wäre höher, wenn man sowohl das Synthesegas als auch das Pyrolyseöl weiternutzen und die Energie elektrisch bereitstellen würde.

Das spricht dafür, sowohl die Cracker-Technologie als auch die Methanol-to-Olefin-Technik parallel zu nutzen. Das Pyrolyseöl könnte im Cracker verarbeitet und das Synthesegas zu Methanol umgewandelt werden.

Auch beim chemischen Recycling gibt es einen ganz anderen Weg, den man gehen könnte. Neben der Pyrolyse wird hier die Vergasung von Abfällen diskutiert – eine Technik, die der bereits erwähnten Kohlevergasung ähnlich ist. Die Abfallvergasung erzeugt Synthesegas, das in Methanol umgewandelt werden kann, und eignet sich als Rohstoffbasis für die Methanol-to-Olefin-Technik.

Für die Methanol-to-Olefin-Route spricht, dass ihre Einzelkomponenten alle bereits in realen Anlagen in industriellem Maßstab laufen. Bei der Fischer-Tropsch-Technik gilt das nur eingeschränkt. Zwar gibt es vereinzelte Anlagen, die müssten aber optimiert werden, sowohl was den Input als auch die produzierten Produkte angeht.

Mehr Strom nötig, als heute insgesamt verbraucht wird

Jörg Rothermel vom VCI geht davon aus, dass es eine Mischung aus den verschiedenen Technologien geben wird – sowohl bei Power-to‑X als auch beim chemischen Recycling. Was für alle diese Technologien gilt: Man benötigt dafür sehr viel Strom.

In der Roadmap des VCI sind drei Szenarien skizziert. Nur eine davon erfüllt das, was inzwischen politisch Konsens ist: Treibhausgasneutralität. Die chemische Industrie ging dabei noch von einem Zieljahr 2050 aus. Der Bericht entstand vor dem Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aufgrund dessen die alte Bundesregierung ein neues Klimaneutralitätsziel beschlossen hat: 2045.

Eine Zahl sticht in diesem Szenario heraus: 685 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr. So viel Strom wäre nötig, um die gesamte chemische Grundstoffindustrie in Deutschland auf klimaneutrale Verfahren umzustellen. Neben der Olefin- und Aromatenproduktion ist dabei auch die Herstellung von Ammoniak und Chlor mitberücksichtigt.

Zum Vergleich: Im Jahr 2020 wurden in Deutschland insgesamt 566 Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie erzeugt. Sprich: Die chemische Industrie bräuchte für den klimaneutralen Umbau mehr Strom, als bisher insgesamt in Deutschland erzeugt wird.

International sehen die Größenordnungen ähnlich aus. Eine Studie, die 2018 in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht wurde, hat eine mögliche Umstellung der gesamten auf Erdöl und Erdgas basierenden Chemieproduktion auf methanolbasierte Verfahren untersucht. Auch hier wird neben Olefinen und Aromaten die Ammoniakproduktion mitgerechnet.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass man für eine solche auf Methanol basierende Chemieindustrie zwischen 18 und 32 Billionen Kilowattstunden pro Jahr benötigen würde. Die gesamte weltweite Stromerzeugung liegt heute bei 25 Billionen Kilowattstunden. Die große Spanne ergibt sich je nachdem, welche in der Entwicklung befindlichen Technologien einbezogen werden oder nicht.

Der Strombedarf wäre also gigantisch. Liest man die Roadmap des Chemieverbandes genauer durch, fällt zudem auf, dass für die Zahl einige Annahmen getroffen wurden, die den Strombedarf möglicherweise sogar kleiner erscheinen lassen, als er tatsächlich wäre.

"Am Ende bleibt nur Direct Air Capture"

Zum einen geht der Chemieverband davon aus, dass ein großer Teil des Wasserstoffs nicht "grün" aus Wasserstoffelektrolyse, sondern mittels Methanpyrolyse aus Erdgas erzeugt wird. Dieses Verfahren, das auch als türkiser Wasserstoff bekannt ist, spaltet das Methan in seine Bestandteile Kohlenstoff und Wasserstoff auf.

Klimaneutral wird das nur, wenn man den dabei entstehenden Kohlenstoff nicht wieder an anderer Stelle verbrennt, sondern dauerhaft einlagert. Zudem besteht hier das Problem, dass man weiter auf Erdgasförderung angewiesen wäre. Hier entstehen schon bei der Förderung und beim Transport Emissionen, die sich nicht komplett vermeiden lassen.

Ein weiterer Punkt ist die Herkunft des Kohlendioxids für die Power-to‑X-Prozesse. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Wege, die man gehen kann: Entweder nutzt man CO2 aus bestehenden Kraftwerken und Industrieanlagen oder man filtert es mittels Direct-Air-Capture-Technologie aus der Luft.

Das Szenario der Chemieindustrie geht davon aus, dass man zunächst primär auf Kohlendioxid aus bestehenden Industrieanlagen setzt. "Im betrachteten Zeitraum bis 2050 stehen prinzipiell ausreichende CO2-Mengen für die Versorgung der hier betrachteten CO2-basierten Prozesse zur Verfügung", heißt es dazu in der Roadmap.

Letztendlich bauen die Pläne der chemischen Industrie darauf, dass es weiterhin an anderer Stelle Industrien geben wird, die nicht klimaneutral wirtschaften.

Wenn man die gesamte Industrie klimaneutral umbauen will, ist das langfristig keine Option. Lediglich die verbleibende Verbrennung von Restmüll, der sich nicht recyceln lässt, bliebe als CO2-Quelle. Doch wenn das chemische Recycling eine wichtige Rolle spielen soll, wäre das nicht viel.

Das bestätigte im Gespräch auch Jörg Rothermel vom Verband der Chemischen Industrie: "Am Ende wird nur noch Direct Air Capture als Möglichkeit bleiben, klar."

Laut Rothermel wären dafür mit heutiger Technologie etwa 150 Milliarden Kilowattstunden zusätzlich an Strom nötig. Es dürfte etwas weniger sein, da die Direct-Air-Capture-Technologie sich in einem frühen Entwicklungsstadium befindet und es voraussichtlich technische Fortschritte geben wird, die die Technik effizienter machen werden.

Stromimporte, Biomasse und Recycling

Dass in Deutschland über 600 Milliarden Kilowattstunden Strom für die chemische Industrie bereitgestellt werden, ist kaum realistisch. Denkbar ist natürlich, den Bedarf über Importe zu decken.

So könnten in Ländern, in denen Solar- und Windkraft in großen Mengen verfügbar sind, Methanol oder E-Naphtha erzeugt und nach Deutschland exportiert werden. Beide Stoffe lassen sich zumindest gut transportieren. Doch das ändert nichts daran, dass der Strom irgendwo klimaneutral produziert werden muss.

Szenarien anderer Organisationen kommen teilweise zu deutlich niedrigeren Abschätzungen des Strombedarfs der Chemieindustrie. Eine viel beachtete Studie des Thinktanks Agora Energiewende, die ein Klimaneutralitätsszenario für das Jahr 2045 skizziert, spricht etwa von 219 Milliarden Kilowattstunden an Strombedarf im In- und Ausland.

Ein Grund dafür ist ganz banal: Agora geht davon aus, dass ein Teil der chemischen Industrie ins Ausland verlagert wird. Das schreibt einen Trend fort, den es in den vergangenen Jahren gab: Neue Steamcracker werden bevorzugt an Küstenstandorten in Belgien und den Niederlanden gebaut, die leichter für Importe erreichbar sind.

Wido Witecka von Agora Energiewende betonte im Gespräch mit Klimareporter°, dass es dabei nicht um eine Verlagerung von Industrien in Regionen mit geringeren Klimaschutzstandards gehe. "Es wäre eine Produktionsverlagerung in andere EU-Standorte, die auch dem EU-Emissionshandel unterliegen", sagte der Ökonom.

Neben einer insgesamt kleineren Chemie-Grundstoffindustrie geht das Szenario von Agora Energiewende von einem deutlich höheren Recycling-Anteil aus. Außerdem spielt dort Biomasse eine größere Rolle als Rohstoff für die chemische Industrie.

Philipp Hauser von Agora Energiewende erläuterte im Gespräch mit Klimareporter°, was dahintersteckt. "Es gibt einen Trend weg von der rein energetischen Nutzung von Biomasse", sagte er. "Dadurch wird Biomasse frei, die man stofflich verwenden kann."

Möglichst lange recyceln – und am Ende CCS

Neben der Nutzung von Biomasse sieht der Chemiker die Möglichkeit, am Ende der Lebenszeit der Produkte für negative Emissionen zu sorgen. "Wir brauchen für ein klimaneutrales Deutschland Kohlendioxidsenken", so Hauser.

Die Idee: Eine Mischung aus Biomasse und Power-to‑X-Rohstoffen könnte künftig die Rohstoffe für die chemische Industrie liefern. Dabei wird der Atmosphäre CO2 entzogen. Der Kohlenstoff wird für einige Zeit in Produkten gebunden. Je mehr recycelt wird, desto länger bleibt der Kohlenstoff im System.

"Der Anteil des Abfalls, der nicht recycelt werden kann, sollte bei der Verbrennung mit CCS kombiniert werden", sagt Hauser. CCS steht für Carbon Capture and Storage, gemeint ist damit, die CO2-Emissionen abzufangen und langfristig etwa in geologischen Formationen zu lagern.

Am Ende stehen also negative Emissionen und davor möglichst viel Kreislaufwirtschaft. Zum Recycling sagte Hauser aber: "Das Ganze muss möglichst energieeffizient sein."

Die chemischen Recyclingverfahren, die sowohl Agora Energiewende als auch der Verband der Chemischen Industrie im großen Maßstab einplanen, brauchen selbst viel Energie. Priorität solle das klassische, mechanische Recycling haben, wo dies möglich sei, sagte Agora-Experte Witecka: "Das mechanische Recycling ist das energieeffizienteste."

Was Agora hier skizziert, würde einen Weg beschreiten, bei dem negative Emissionen in die Prozesse der chemischen Industrie eingebettet werden. Er birgt jedoch reichlich Konfliktpotenzial. Biomasse, CCS und chemisches Recycling sind alle aus unterschiedlichen Gründen umstritten.

Zur fossilfreien Chemiefabrik ist es noch weit

Was lässt sich zusammenfassend sagen? Für die Industrie drängt die Zeit für den klimaneutralen Umbau. Selbst ihr ehrgeizigstes Szenario ist mit dem Zieljahr 2050 politisch überholt. Zudem möchte die EU kurz- bis mittelfristig Öl- und Gaslieferungen aus Russland stoppen, was zusätzlichen Druck aufbaut, den Verbrauch schnell zu reduzieren.

Mit der Fischer-Tropsch-Synthese, der Methanol-to-Olefin-Technologie, neuen Recyclingverfahren und Biomasse gibt es unterschiedliche Wege, um die künftige Rohstoffbasis zu sichern. Doch all das steht noch komplett am Anfang – eine klimaneutrale Chemiefabrik gibt es noch nicht.

Einige der Technologien, die nötig sind, müssen erst entwickelt werden. Die Chemieindustrie ging in ihrer Roadmap 2019 davon aus, dass die alternativen Verfahren erst Mitte der 2030er Jahre in größerem Maßstab zum Einsatz kommen.

 

Eine besondere Herausforderung: Der Umbau der chemischen Industrie kann nicht isoliert betrachtet werden, er muss mit anderen Industriebranchen koordiniert werden. Die Fischer-Tropsch-Synthese ist nur sinnvoll, wenn die Herstellung von E-Fuels, die voraussichtlich vor allem im Flugverkehr Einsatz finden werden, mitberücksichtigt und koordiniert wird.

Ähnliches gilt für das chemische Recycling. Hier führt der Umbau der chemischen Industrie zu tiefgreifenden Veränderungen in der Abfallwirtschaft. Konkret bedeutet es eine deutliche Reduzierung der Müllverbrennung, da der Abfall als Rohstoff gebraucht wird.

Über all dem steht, dass der klimaneutrale Umbau der chemischen Industrie gigantische Mengen an grünem Strom und grünen Wasserstoff brauchen wird. Der Stromverbrauch allein für die chemische Industrie könnte höher sein als der gesamte Stromverbrauch heute.

Zuletzt bleibt noch eine weitere Möglichkeit, den enormen Strom- und Rohstoffbedarf abzumildern: die Senkung des Verbrauchs. Wer Plastik vermeidet, der benötigt keine dafür mit hohem Energieaufwand produzierten Olefine.

Die Recherchen und Gespräche für diesen Artikel fanden überwiegend vor dem Krieg in der Ukraine statt.

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