Hier ist Michael Müller zu sehen, SPD-Vordenker und Mitglied des Kuratoriums von Klimareporter.
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, durch die Coronakrise ging das 20-jährige Jubiläum des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ziemlich unter. Ist das EEG immer noch das Herz der Energiewende oder hat es sich inzwischen überlebt?

Michael Müller: Die Energiewende hatte drei entscheidende Wurzeln. Erstens die Konzepte des Öko-Instituts von 1980 und 1985, die damit die Deutungshoheit der traditionellen Energiepolitik durchbrachen und sehr konkrete Umbau- und Vermeidungsstrategien vorlegten.

Zweitens die Berichte der beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages zur künftigen Kernenergiepolitik und zum Klimaschutz. Und drittens die Initiativen von Bundestagsabgeordneten in den 1990er Jahren zum Stromeinspeisungsgesetz und zum 1.000-Dächer-Programm für Photovoltaik.

Unter Rot-Grün wurde daraus am 1. April 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das im Bundestag gegen Union und FDP durchgesetzt werden musste. Das EEG war anfangs eine Erfolgsgeschichte.

Das Gesetz wurde aber in den folgenden Jahren, vor allem unter Schwarz-Gelb, gestutzt und gedeckelt. Immer neue Sonderregelungen, Ausnahmen und Befreiungen von der EEG-Umlage wurden geschaffen, die oftmals das Ergebnis des Lobbyismus von Industrie und Landwirtschaft waren.

Dabei können die Erneuerbaren bei den Kosten mit den konventionellen Energien schon lange mithalten, sie teilweise sogar unterbieten. Dabei werden die externalisierten Kosten nicht einmal einbezogen. Das würde das Bild für die erneuerbaren Energien deutlich verbessern. Berücksichtigt man alle Kosten, die durch die Energieerzeugung und -versorgung verursacht werden, sind die Erneuerbaren deutlich günstiger als fossile Energieträger.

Der Anteil der Erneuerbaren könnte heute deutlich höher liegen, wäre der Ausbau der Infrastruktur nicht vernachlässigt worden. Doch noch immer wird das Märchen vom teuren Ökostrom verbreitet. Besonders problematisch finde ich die überzogenen und in der Notwendigkeit undurchsichtigen Kosten des Netzausbaus. Zum einen wäre eine Netzertüchtigung besser, zum anderen auch eine stärkere Dezentralität der Energieversorgung.

Seit dem Horrorunfall von Fukushima am 11. März 2011 hat auch Schwarz-Gelb zumindest in der Öffentlichkeit den Widerstand gegen die Energiewende aufgegeben. Dennoch sind in den Reihen dieser Parteien noch immer starke Bremser und Gegner. Berechtigte Kritik gibt es zum Beispiel an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der mit der Verordnung für sogenannte technologieneutrale Innovationsausschreibungen dem Ökostromausbau neue Steine in den Weg legt.

Wichtig ist auch zu wissen, dass die Energiewende ursprünglich viel weiter reichen sollte. Am Anfang ging es noch um eine gleichberechtigte Strategie der "drei E": Einsparen, Effizienz und Erneuerbare. Dies wurde Zug um Zug auf die erneuerbaren Energien reduziert.

Das ist ein Fehler. Nach den Berechnungen für die Klimaenquete kann der Energieumsatz allein durch individuelle Einsparungen um acht bis zwölf Prozent reduziert werden. Noch um ein Mehrfaches höher liegt das technische Einsparpotenzial einer Effizienzrevolution. Dafür muss die Steigerung der Energie- und Rohstoffeffizienz deutlich über dem wirtschaftlichen Wachstum liegen. Der Energieumsatz könnte dann um rund 40 Prozent sinken.

Zur Idee der Energiewende gehören auch mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung. Aber den Energiegenossenschaften und der Bürgerenergie wird es schwer gemacht. Dass nach den Konzepten der Energiewende möglichst viel Dezentralität bei Erzeugung und Verteilung verwirklicht werden sollte, geriet ebenfalls in Vergessenheit.

Es gibt also viele Punkte, bei denen die Energiewende erst am Anfang steht. Die Federführung für sie sollte wieder beim Umweltministerium liegen, und es müsste einen untrennbaren Zusammenhang mit Effizienzrevolution und Einsparen geben.

Die EU-Staaten wollen das wirtschaftliche Wiederanfahren nach der Krise zumindest teilweise mit grünen Investitionen bestreiten. Momentan scheint die EU die einzige politische Kraft zu sein, die den Klimaschutz auf der Agenda hat ...

Das trifft möglicherweise für Teile der EU-Kommission zu, aber ob die EU insgesamt zum "Green Deal" steht, da sind Zweifel angebracht. Die politischen Institutionen in den europäischen Staaten hatten in den letzten Monaten auf den starken Druck von Jugendlichen reagiert.

Nun ist mit der Coronakrise zumindest für die nächste Zeit ein noch stärkerer Druck da, der die Prioritäten in der Politik und Öffentlichkeit verschiebt. Außerdem wird kein systembedingter Zusammenhang der beiden Krisen mit der Verletzlichkeit der Erde hergestellt. Sie werden nur als Einzelereignisse betrachtet.

Dabei wiesen schon vor dreißig Jahren weitsichtige Menschen wie der US-Vizepräsident Al Gore darauf hin, dass der Klimawandel wie ein "planetarisches Virus" wirkt, das die Erde unfähig macht, ihr Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die moderne Zivilisation selbst in der Krise ist. Die Überlastung der Natur erhöht die Verletzlichkeit der Erde. Die Zerstörungen nachträglich zu reparieren, funktioniert nicht mehr. Entweder leiten wir einen sozial-ökologischen Wandel ein oder dieses Jahrhundert wird unübersehbar und chaotisch.

Der eigentliche Schluss aus der Corona-Pandemie muss deshalb sein, die Anstrengungen für mehr Ökologie und Klimaschutz zu erhöhen – in Europa und überall. Wir müssen neue "Schutzschichten" schaffen, die die soziale und natürliche Mitwelt bewahren.

Seit 1991 gibt es die Nitratrichtlinie der EU. Deutschland hat es bisher nicht geschafft, sie einzuhalten. Nun hat der Bundesrat eine verschärfte Düngemittelverordnung beschlossen. Der Wasserwirtschaft ist sie zu lasch, den konventionell wirtschaftenden Bauern zu streng, sie fürchten um ihre Existenz. Welche politische Maßnahme kann das Erfüllen der Nitratrichtlinie gewährleisten?

Richtig ist, dass seit mindestens 30 Jahren die ökologischen und gesundheitlichen Gefahren der hohen Nitratbelastung bekannt sind. Fast ein Drittel der Fläche unseres Landes weist heute eine Konzentration oberhalb von 50 Milligramm pro Liter auf.

Weil viel zu viel Gülle und Düngemittel auf die Felder gebracht werden, können die Pflanzen nur einen Teil der darin enthaltenen Stickstoffverbindungen aufnehmen. Der Rest bleibt im Boden und wird langsam in den tieferen Untergrund und ins Grundwasser verlagert. Die Verfügbarkeit mineralischer Energiequellen für den mikrobiellen Nitratabbau im Untergrund ist aber endlich und das Schutzpotenzial des Untergrunds damit begrenzt.

Die Folge einer Nitratvergiftung kann Blausucht sein, die unter Umständen tödlich endet. Die aus Nitrat durch natürliche chemische Prozesse entstehenden Verbindungen können dazu führen, dass sich vor allem bei Babys im Alter bis zu etwa drei Monaten der rote Blutfarbstoff verändert. Dies hat zur Folge, dass das Blut des Kindes nicht mehr ausreichend Sauerstoff transportiert, was bei Säuglingen zum Tode führen kann.

Immer wieder hat Lobbyismus verhindert, das Notwendige zu tun. Ich bin da voll auf der Seite der Wasserwirtschaft. Die Klagen der Landwirtschaft sind eine Folge von jahrelanger Verdrängung und Ignoranz. In den letzten drei Jahren befanden sich deutschlandweit in jeder fünften Brunnenprobe mehr als 50 Milligramm pro Liter Nitrat.

Allerdings müssen auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gesehen werden, unter denen die Landwirte zu arbeiten haben. Der Zwang zur Industrialisierung muss beendet werden. Trotzdem sind es zu einem erheblichen Teil die Agrarunternehmen selbst, vor allem die Großbetriebe, die diese Probleme geschaffen haben, auch um ihre Interessen zu sichern.

Durch einen umweltgerechten Landbau können die Stickstoffausträge erheblich verringert und die Nitratbelastung in den Gewässern gesenkt werden. Das muss schnell geschehen, denn der Nitratabbau im Untergrund ist wie gesagt endlich. Vor allem aber muss der Grenzwert endlich eingehalten werden.

Der diesjährige Klimagipfel, der im November in Glasgow stattfinden sollte, wird wegen der Coronakrise auf nächstes Jahr verschoben. Können wir uns trotz der fortschreitenden Pandemie und ihrer gravierenden Folgen ein Aufschieben in der internationalen Klimapolitik erlauben?

Ich verstehe, dass man im Herbst möglicherweise nicht in Glasgow zusammenkommen kann. Aber das ist kein Grund, den sowieso schon lahmenden Prozess der Umsetzung der Pariser Zielvorgaben noch weiter hinauszuschieben.

Erstens muss ein Weg gefunden werden, wie die Abstimmungsprozesse beschleunigt werden können. Im Zeitalter der Digitalisierung gibt es auch neue Möglichkeiten.

Zweitens könnten die Regierungschefs der G7 und der G20 Entscheidungen treffen, die gleichsam eine Vorreiterfunktion haben. Und das darf sich dann nicht nur "klimaneutral" nennen, sondern muss eindeutig den Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter aufzeigen.

Drittens kann die größte Videokonferenz der Welt stattfinden.

Und viertens sollte sich die Europäische Union als vorangehende Weltregion verstehen. Ich bin aus demokratischen und politischen Gründen generell für eine Regionalisierung der Globalisierung. Dann kann es zu einem besseren Gleichgewicht der Kräfte kommen, auch zugunsten ökologischer Ziele. Diese weltweiten Einigungen für die UN-Klimakonferenzen, die bislang vorgegeben werden, sind wahrlich nicht ermutigend.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Dass sich das öffentliche Leben so schnell und so radikal verändern kann. Geschieht das aus Angst oder aus Einsicht? Auf jeden Fall sollte es zu der Einsicht führen, dass wir das Experiment mit der Zerbrechlichkeit der Erde beenden und endlich zu einer sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation kommen.

Was klar geworden ist: In der übernutzten und störanfälligen Welt sind wir auf Gegenseitigkeit angewiesen. Nicht nur in der Gegenwart, sondern auch für die Zukunft.

Und noch etwas, weil am 3. April der Tag des Handys ist. Wenn alle 124 Millionen ungenutzten Althandys in Deutschlands Schubladen wiederverwendet würden, ließen sich rund sieben Millionen Tonnen CO2 sparen. In jedem Jahr werden derzeit 22 Millionen neue Mobiltelefone gekauft.

Fragen: Jörg Staude, Sandra Kirchner

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