Buntes Transparent mit dem Spruch:
Wachstum jenseits der natürlichen Grenzen wurde zum Triebwerk der Moderne. (Foto: Leonhard Lenz/​Wikimedia Commons)

Fin de Siècle – dieses Stichwort steht für die tiefe Verunsicherung Anfang des 20. Jahrhunderts. Der österreichische Dramatiker Hugo von Hofmannsthal beschrieb die Situation als Interpretationskrise: "Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze." Der Widerspruch zwischen den sozialen Problemen und der rückwärtsgewandten Ordnung des Adels, des Militärs und der Kirche türmte sich ins Unermessliche. Weil die Welt nicht geordnet wurde, entlud sich das in überschäumendem Nationalismus und Militarismus. Die Folgen sind bekannt.

Auch heute, einhundert Jahre später, ist die Unsicherheit das Merkmal unserer Zeit. Der kritische Geist ist weitgehend verschwunden. Noch in den Achtzigerjahren wurde – wenn auch begrenzt – über Wertewandel, Arbeitszeit oder die Verbindung von Wirtschaft und Umwelt debattiert. Eine sozial-ökologische Marktwirtschaft schien machbar. Doch mit dem Ende der Wohlfahrtspolitik ging auch die Orientierung verloren. Mit dem Sozialismus verschwand der ideologische Gegner und damit die politische Auseinandersetzung. Die Entpolitisierung der Gesellschaft schritt voran. Heute wissen wir, dass wir gar nicht gewonnen haben. Die Schwierigkeiten fingen seit dem Zusammenbruch des Ostblocks erst richtig an.

Wir erlebten die Finanzkrise von 2008, und immer deutlicher wurde die Geburt einer neuen Ordnung, deren nationale, europäische und globale Gesetze noch nicht geschrieben sind. Doch erneut tun wir uns schwer, die Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen. Dabei ist diese Analyse Voraussetzung für eine Lösung. So, wie der britische Ökonom John Maynard Keynes es für die Zeit nach der Weltwirtschaftskrise beschrieb: "Im gegenwärtigen Augenblick erwarten die Menschen mehr als sonst eine grundlegendere Diagnose, sind sie ganz besonders bereit, sie aufzunehmen, begierig, sie auszuprobieren, wenn sie nur einigermaßen annehmbar sein sollte."

Die öffentliche Debatte wird heute vielfach von "Pragmatikern" bestimmt, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben. Aber gewöhnlich sind sie "die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen". Tatsächlich hat die politische Debatte in unserem Land bisher nicht die Kraft, die Gestaltungs- und Verteilungsfrage zu stellen, die spaltende Dynamik der Globalisierung zu beenden und den unreflektierten Wachstumsglauben aufzukündigen.

Ausblick in die erweiterte Zukunft

Der Vorschlag einer sozial-ökologischen Transformation ist der Versuch, sich kurzsichtiger Perspektiven zu entledigen und einen Ausblick in die Zukunft zu wagen. Es geht nicht um die Frage, ob Politik und Zivilgesellschaft intervenieren müssen, sondern wo und mit welchen Mitteln. Notwendig ist das, weil die Wirtschaftsordnung mit der Aufkündigung des Sozialstaates völlig entmoralisiert ist. Auch die Globalisierung der Märkte und die ökologischen Grenzen des Wachstums machen diesen Versuch dringend notwendig.

Karl Polanyi, der große Wirtschaftshistoriker, hatte 1944 in seinem Hauptwerk "Die Große Transformation" leidenschaftlich versucht, die Krisen des letzten Jahrhunderts – die Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege – zu deuten. Er sah die entscheidende Ursache in der Entbettung der Ökonomie aus gesellschaftlichen Bindungen: "Wir vertreten die These, dass die Idee des selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutet. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten."

Zur Person

Michael Müller ist Bundes­vorsitzender der Natur­freunde. Der umwelt­politische SPD-Vordenker war Bundes­tags­abgeordneter und von 2005 bis 2009 Parla­men­ta­rischer Staats­sekretär im Bundes­umwelt­ministerium. Er ist Mitheraus­geber dieses Magazins.

Die Marktkräfte erniedrigen die menschlichen Tätigkeiten, erschöpfen die Natur und machen die Wirtschaft krisenanfällig, so fasst Wolfgang Sachs vom Wuppertal-Institut Polanyis These zusammen. Anders ausgedrückt: Jede Gesellschaft braucht eine Ökonomie, sie selbst aber darf keine Ökonomie sein.

Heute verkommen die wirtschaftlichen Aktivitäten zu Kostengrößen, an der jeder politische Gestaltungswille zerschellt. Ihr Wert wird vom Weltmarkt bestimmt und von Konsumenten, die als unersättlich gelten. Nach der neoliberalen Utopie sollen Arbeit, Natur und Geld zu Waren werden, ohne Rückbindung an die Lebenswelt. Ihr geht es ums Haben statt ums Sein. Die Finanzmärkte haben die Gesellschaften fest im Griff, soziale Bindungen werden schwächer und die ökologischen Grenzen des Wachstums werden überschritten. Eine Wende wird erst kommen, wenn sich öffentlich die Einsicht durchsetzt, dass der Markt es nicht richtet und das Wachstum alter Art immer tiefer in die Krise führt.

Das ist die Voraussetzung für eine sozial-ökologische Transformation. Wir müssen die Verkümmerung der Idee des Fortschritts, die Europa über die Welt gebracht hat, korrigieren. Wir müssen die Wunden heilen, die der Fortschrittsglauben weltweit geschlagen hat. Die Idee der sozialen Emanzipation des Menschen ist verkommen zur Restgröße, die von den Zwängen aus Wirtschaft und Technik bestimmt wird. Einer Wirtschaft, die alles auf kurzfristige Verwertung setzt.

Von der vermarkteten zur besiegten Natur

Die ökologischen Herausforderungen sehen wir in einem sozial-historischen Verständnis. An den Grenzen des Wachstums muss die Antwort anders aussehen als der keynesianische Wohlfahrtsstaat, der in Westdeutschland die soziale Marktwirtschaft war. Wir dürfen politische Gestaltungsfragen nicht länger durch wirtschaftliches Wachstum beantworten, das unvereinbar ist mit den ökologischen Gefahren und unter der Bedingung offener Märkte die soziale Spaltung in den Gesellschaften vertieft.

Die sozial-ökologische Transformation erfordert sowohl die Konkretisierung und Vertiefung praktischer Beispiele für die Energie-, Verkehrs- oder Agrarwende als auch eine breite theoretische Durchdringung. In der europäischen Moderne gingen die Väter der politischen und ökonomischen Theorie – John Locke für den Freiheitsgedanken und Adam Smith für die Wirtschaftsordnung – davon aus, dass Natur keinen Wert besitzt. Locke leitete aus "Arbeit" das Recht auf Privateigentum ab, das der Natur abgetrotzt wird: "Gott gab also durch das Gebot, sich die Erde zu unterwerfen, die Vollmacht, sie sich anzueignen. Die Bedingung des menschlichen Lebens ... führt notwendigerweise zum Privatbesitz."

Smith sah die Natur als wertlose Quelle, die erst mittels Arbeit in "Reichtum" verwandelt werden kann. Als Gebrauchswert wird die Natur hergerichtet, unterworfen und ausgeplündert. Beide Vordenker wollten einen Weg, der die Endlichkeit der Erde ignoriert. Wachstum jenseits der natürlichen Grenzen wurde zum Triebwerk der Moderne.

Doch aus der vermarkteten Natur wird die besiegte Natur. Heute leben wir im menschengemachten Neuen, in der die Alternative entweder "zerstören" oder "gestalten" heißt. Die sozial-ökologische Transformation ist hier der Dritte Weg, um nicht die Auseinandersetzung zwischen den Konzepten von vorgestern mit denen von gestern zu führen. Es lohnt sich, dafür die Wegweiser aufzustellen.