Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, die Ampel-Koalition verschiebt die Vorlage des Bundeshaushalts 2025 um zwei Wochen auf Mitte Juli. Zugleich verschärft sich der Streit um die Schuldenbremse. Linke Sozialdemokraten stemmen sich gegen Kürzungen im Sozialbereich und haben ein Mitgliederbegehren auf den Weg gebracht. Werden Sie dort auch unterschreiben?

Michael Müller: Ich war an den Diskussionen im Vorfeld beteiligt und unterstütze das Begehren. Ich befürchte, die weitere Zukunft wird vor allem von erbitterten Verteilungskämpfen geprägt sein, aber die Politik scheint darauf nicht vorbereitet zu sein. Deshalb drohen tiefe Einschnitte und vor allem eine Kürzung von solchen Ausgaben, die als sogenannte freiwillige Maßnahmen die Zivilgesellschaft stabilisieren.

Denn die Mehrheit der Politik hat dem öffentlichen Gemeinwesen eine schwere Schelle um den Hals gelegt, die Schuldenbremse.

Dabei brauchen wir eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die in wirtschaftlich stabilen Zeiten spart und dann in Krisenzeiten investiert. Die heutigen Zwänge und Fehlentwicklungen wurden durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verschärft. Nicht zuletzt geht die Wirtschafts- und Finanzpolitik durch die neoliberale Ideologie seit den 1980er Jahren in die falsche Richtung.

Weil eine Verfassungsänderung bei der Schuldenbremse nicht zu erwarten ist, sehe ich derzeit nur einen Versuch, die investiven Ausgaben aus den Fängen der Schuldenbremse rauszuholen. Insgesamt müssen wir aber alles tun, eine Vergrößerung sozialer Ungerechtigkeiten zu vermeiden und auch die Investitionen in den Klimaschutz und eine ökologische Infrastruktur massiv zu erhöhen.

Ein Bündnis aus Umweltorganisationen will die Bundesregierung erneut wegen ungenügender Klimapolitik vor dem Bundesverfassungsgericht verklagen. "Irgendwann ist einfach mal Schluss", sagt die Umweltjuristin Roda Verheyen mit Blick auf die Dringlichkeit beim Klimaschutz. Welche Chancen geben Sie dem neuerlichen Anlauf, konsequenten Klimaschutz per Gericht zu erzwingen?

Der Anlass ist offenkundig die Revision des Klimaschutzgesetzes, die vor allem auf die Blockaden der FDP zurückzuführen ist. Tatsächlich ist vor allem die FDP ein Kreuz für die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation. Und die Lage droht mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft noch schwieriger zu werden. Doch wir müssen alles tun, eine soziale und ökologische Reformpolitik durchzusetzen und eine lebendige Demokratie zu stärken.

Ich will aber nicht verschweigen, dass ich große Bauchschmerzen habe, gesellschaftspolitische Grundfragen – wie den sozial-ökologischen Umbau – auf die Rechtsprechung zu verschieben. Zumal das Verfassungsgericht bei der Klage der Unionsfraktion gegen den Bundeshaushalt keinesfalls auf der Seite der "ökologischen und klimapolitischen" Vernunft und Weitsicht war.

Der Umbau muss vor allem eine Frage politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sein. Zumal es beim Klimaschutz um Grundfragen geht, die die Verfasstheit und das Selbstverständnis von Gesellschaften radikal infrage stellt: das Ende der Linearität und der Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt.

Wir brauchen eine reflexive Ausrichtung in Politik und Gesellschaft. Das erfordert die Leitidee der Nachhaltigkeit, die untrennbar verbunden ist mit gemeinsamer Sicherheit und Nord-Süd-Solidarität, die beide einen radikalen Umbau erfordern.

Die Erderwärmung beschleunigt sich. Die Menschheit muss nicht nur ihre CO2-Emissionen stoppen, sondern bald auch große Mengen des Treibhausgases wieder aus der Atmosphäre holen. Was halten Sie von dem aktuellen Boom an Projekten und Initiativen zur CO2-Rückholung?

Ich habe darüber vor Jahren intensive Gespräche mit dem Nobelpreisträger Paul Crutzen geführt, der derartige Maßnahmen in Erwägung zog, weil er immer weniger daran glauben konnte, dass die Politik zu einer wirksamen Klimaschutzpolitik fähig ist. Das tat Crutzen nicht aus Überzeugung, sondern aufgrund einer – vielleicht realistischen – Einschätzung, hier liege ein fundamentales Versagen vor. Diese Unterscheidung mache ich auch heute.

Ich selbst war immer der Auffassung, dass es kein "Weiter so" geben darf, auch nicht in immer wieder neuen Modifizierungen. Wir sind an den ökologischen Grenzen des Wachstums angekommen. Je schneller wir das akzeptieren, desto schneller sind wir auch zum sozial-ökologischen Umbau fähig. Das habe ich auch bei Anhörungen und Regierungsberatungen vertreten.

Abgesehen vom Ausbau der Erneuerbaren ist die Energiewende in Deutschland ins Stocken geraten, bilanziert ein Expertengremium des Wirtschaftsministeriums. Zugleich muss der Bund ein Acht-Milliarden-Loch bei der EEG-Vergütung stopfen. Kommt die Energiewende uns doch teuer zu stehen?

Es handelt sich um eine – pardon – amputierte Energiewende, die tatsächlich eine Einheit von erneuerbaren Energien, Effizienzrevolution und Suffizienz sein müsste. Das waren die drei Fundamente der Energiewende. Sie stehen für das Neue, für den Umbaupfad und für die Klimagerechtigkeit unbedingt notwendige Selbstbegrenzung und Umverteilung.

In diesem Sinne müssen wir alles für die Instandsetzung der Energiewende tun, sie ist eine Kernfrage der überfälligen sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die öffentlichen Reaktionen der Ampel-Parteien auf die Europawahl. Das ist in der Verkennung der Dimension der Rechtsverschiebung in Europa höchst alarmierend. Wir sind im gefährlichsten Jahrzehnt seit Ende des Zweiten Weltkriegs und müssen alles tun, eine erneute Katastrophe zu verhindern.

Fragen: Jörg Staude

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