Klimakanzlerin
Klimakanzlerin war gestern. Nein, eigentlich nie so richtig. (Karikatur: Gerhard Mester; Copyright: SFV/​Mester)

Was für eine Schizophrenie! Da sagt tatsächlich Angela Merkel bei einem Leserforum der Ostsee-Zeitung, dass sie Greta Thunberg bewundere, weil diese beim Klimaschutz was ins Rollen gebracht hat. Wie bitte?

Mir geht es hier nicht um die Aktivitäten der Klimaaktivistin aus Schweden, sondern um das politische Versagen der Bundeskanzlerin, die fast von Anfang an bei der politischen Debatte über den Klimaschutz dabei war. Die Proteste der Schüler und Schülerinnen sind eine Anklage gegen die Politik und vor allem gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich als "Klimakanzlerin" feiern lässt, obwohl sie seit Jahren den Klimaschutz nur noch in Reden und Interviews abhandelt, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen.

Selbst die – freilich noch unzureichenden – Programme des Bundesumweltministeriums wurden von Angela Merkel nicht wirklich unterstützt. Im Zweifelsfall abwarten, das ist ihr Motto. Kein Wunder, dass viele Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren.

Rückblende. 1987 veröffentlichen die Professoren Klaus Heinloth für die Deutsche Physikalische Gesellschaft und Hartmut Graßl für die Deutsche Meteorologische Gesellschaft gemeinsam eine Warnung vor dem drohenden anthropogenen Klimawandel. In ihrem Papier standen ziemlich exakt die Werte der Erderwärmung, die seitdem mit einem hohen wissenschaftlichen Aufwand in den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) erhärtet werden.

Die Gründung des "Weltklimarates" hatte ein Jahr zuvor in Genf stattgefunden. Hartmut Graßl war dabei, nicht aber der Deutsche Wetterdienst, der damals für Klimafragen zuständig war und bis heute dem Verkehrsministerium unterstellt ist.

1987 setzte der Bundestag die Enquetekommission "Schutz der Erdatmosphäre" ein, die Pionierarbeit für den Klimaschutz geleistet hat. 1990, also vor fast 30 Jahren, veröffentlichte die Kommission in ihrem Bericht "Schutz der Erde" detaillierte Szenarien – einschließlich der Kosten und Hemmnisse –, wie die vom Menschen verursachten Treibhausgase in Westdeutschland schnell und massiv reduziert werden könnten.

1990: Regierung beschließt Strukturwandel auf 1,5-Grad-Basis

Ausgehend von einem Erwärmungslimit von 1,5 Grad Celsius wurde in Zusammenarbeit mit rund 60 wissenschaftlichen Instituten und auf der Basis von 150 Studien konkretisiert, wie von 1990 bis 2005 die Treibhausgase in den alten Bundesländern um ein Drittel reduziert werden könnten, welche Maßnahmen dafür ergriffen werden müssten, welche Widerstände zu erwarten seien und was der Klimaschutz kosten würde.

Der Schwerpunkt lag neben dem klassischen Energiesparen und der Förderung erneuerbarer Energien vor allem auf einer Effizienzstrategie, wodurch der Energieeinsatz bei Strom, Wärme und Mobilität um mehr als 40 Prozent hätte reduziert werden können.

Michael Müller

ist Bundes­vorsitzender der Natur­freunde Deutsch­lands. Der umwelt­politische SPD-Vordenker war Bundes­tags­abgeordneter und von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staats­sekretär im Bundes­umwelt­ministerium. Er ist Kuratoriums­mitglied von Klimareporter°.

Der Bundestag hat die Vorgaben und Empfehlungen übernommen und 1990 in einem Beschluss die Bundesregierung aufgefordert, diese in eine nationale Klimaschutzstrategie umzusetzen. Damit hätte Deutschland im Jahr 2020 eine Reduktion der Treibhausgase um mindestens 65 Prozent erreicht, statt wie jetzt abzusehen an einem 40-Prozent-Ziel zu scheitern.

Beim Reduktionsziel war die Enquetekommission einer Meinung, allerdings wollten CDU, CSU und FDP es bei Beibehaltung der Atomenergie erreichen, während die damaligen Oppositionsparteien SPD und Bündnis 90 die Atomkraftwerke bis 2005 abschalten wollten. Dass dies möglich ist, zwar anfangs etwas teurer käme, aber mittelfristig sogar Vorteile bringen würde, wurde aufgezeigt und im Einzelnen durchgerechnet.

Wenn heute gesagt wird, für höhere Klimaziele gebe es noch keine Konzepte, so ist das schlicht falsch. Im Gegenteil: Nichts ist so detailliert belegt wie die möglichen Wege einer Energiewende für den Klimaschutz.

Die Bundesregierung hat unter Helmut Kohl den international stark beachteten Kabinettsbeschluss gefasst, die Treibhausgasemissionen bis 2005 in den alten Bundesländern um mindestens ein Viertel und in den neuen Ländern um einen "noch wesentlich höheren Anteil" zu senken. Die Regierung richtete auch eine "Interministerielle Arbeitsgruppe CO2-Reduktion" ein, die auf der Basis des Enquete-Berichts konkrete Maßnahmenkataloge erarbeitet hat.

Umbau West wurde verpasst

Eine Klimaschutzpolitik, die den Namen verdient, fand jedoch nicht statt. Angela Merkel kann sich dabei nicht herausreden. Sie kam 1990 ins Kabinett und wurde 1994 Umweltministerin, war also unmittelbar zuständig und verantwortlich für das Versagen der Bundesregierung.

Im Vordergrund der damaligen Politik stand die deutsche Einheit. Doch beim Aufbau Ost wurde der Umbau West unterlassen, das war das entscheidende Versäumnis, das bis heute nachwirkt. Klimaschutz hätte bedeutet, auch eigene Fehler zugeben und korrigieren zu müssen.

Mehr noch: Die CO2-Emissionen gingen durch den Zusammenbruch der ineffizienten DDR-Industrie und die Modernisierung der Wärmeversorgung und des Verkehrssystems in den neuen Bundesländern innerhalb kurzer Zeit um mehr als 50 Prozent zurück.

Dieser Strukturwandel wurde von der Bundesregierung ausgenutzt, sich als Vorreiter beim Klimaschutz hinzustellen, obwohl das Reduktionsziel des Kabinettsbeschlusses sich gar nicht auf Ostdeutschland bezog. Die Regierung hat sich mit fremden Federn geschmückt. Die CO2-Reduktion in den neuen Bundesländern wurde politisch vereinnahmt.

Im letzten Jahrzehnt war es mit dieser Täuschung vorbei, denn auch in den neuen Bundesländern stiegen die Treibhausgasemissionen wieder an. Vorbei war es mit der angeblichen Vorreiterrolle Deutschlands.

Wenn sich Politiker, die dieses Spiel über Jahre mitgemacht haben – auch weil sie nie genau hingeguckt haben oder weil sie Klimaschutz als störend und unbequem ansahen –, heute mit immer neuen Forderungen und Ankündigungen überbieten, weil die neue Jugendbewegung im Bündnis mit der Wissenschaft ihnen Druck macht, dann reibt man sich die Augen. Wo waren diese angeblichen Klimaschützer in den vergangenen Jahren, als die wenigen Umweltpolitiker mit ihren Vorschlägen und Forderungen ein ums andere Mal aufgelaufen sind?

Nein, niemand kann sagen, die Fakten wären nicht bekannt gewesen. Sie wurden einfach ignoriert.

Genau hinsehen!

Und jetzt auf einmal: Klimaschützer, wohin man auch schaut. Klimaschutz ins Grundgesetz. CO2-Steuer – selbstverständlich, unterstützt sogar von neoliberalen Ideologen. Flugverkehr: natürlich verteuern. Bahn und Nahverkehr: sofort attraktiver machen. Und die spritfressenden SUVs, weg mit ihnen. Ein regelrechter Überbietungswettbewerb. Und natürlich alles sozial verträglich. Glaubwürdig ist das nicht.

Die meisten Medien stehen nicht besser da. Vieles, was sie jetzt als Neuigkeit verkaufen, ist seit Jahren bekannt. Klimaschutz hat Konjunktur, aber die grundsätzlichen Fakten sind alles andere als neu. Wenn politische Öffentlichkeit bedeutet, Zusammenhänge zu verstehen, längerfristige Entwicklungen zu erkennen und ein historisches Bewusstsein zu haben, dann gibt es sie immer weniger.

Tacheles!

In unserer neuen Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Kuratoriums in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Deshalb müssen wir genau hinsehen. "Klimaneutral" muss noch lange nicht den Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter bedeuten. Wenn der technische Fortschritt beschworen wird, müssen wir fragen: Ist am Ende CCS oder Geoengineering gemeint? Und wer das Paris-Abkommen als historischen Durchbruch hinstellt, muss bitte sagen, wie das 1,5-Grad-Ziel auch erreicht werden soll.

Vor 30 Jahren wurden wichtige Grundlagen für den Klimaschutz gelegt. An solchen Maßstäben muss sich die Politik messen lassen, nicht am Ausschlag des neuesten Hypes. Die Zeit der Täuschungen ist vorbei.

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