Hartmut Graßl. (Bild: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, jeden Monat sind neue Wärmerekorde zu verzeichnen. Auch der vergangene März war der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen, so wie die neun Monate vor ihm. Manche Klimaexperten befürchten schon, dass das Klimasystem ganz aus dem Tritt gekommen ist und Wetter-Chaos droht. Treten wir in eine neue Phase des Klimawandels ein?

Hartmut Graßl: Es ist seit Längerem bekannt, dass die mittlere Temperatur an der Erdoberfläche – eigentlich die Lufttemperatur in zwei Meter Höhe über Grund – während eines El‑Niño-Ereignisses um ein bis zwei Zehntelgrad höher liegt.

Da ein solches Ereignis seit dem Frühjahr 2023 beobachtet wird und jetzt nach einem Jahr ausklingt, müssen an vielen Orten in einer Welt mit noch immer kräftig zunehmender CO2-Konzentration der Luft neue Temperaturrekorde auftreten – solange im zurückliegenden halben Jahr kein besonders starker explosiver Vulkanausbruch in den Tropen durch einen Aerosolschleier in der Stratosphäre vorübergehend die Temperatur abgesenkt hat.

Bald nach dem Ende des El Niño werden vielleicht die Meldungen über fehlende Temperaturrekorde besonders im asozialen Netz der Klimaskeptiker und Klimaleugner wieder häufiger werden.

Das Erdsystem kennt die Celsiusskala nicht, deshalb gibt es auch keinen Wert wie die jetzt von vielen bemühte 1,5‑Grad-Erwärmungsgrenze, ab der erkennbar mehr "Wetterchaos" auftritt. Mit jeder weiteren beobachteten Erwärmung bei nicht reduziertem Ausstoß von Treibhausgasen gibt es Wetterextreme an vielen Orten – und an einigen davon neue Rekorde für einen oder mehrere der Wetterparameter.

Dann sind immer mehr der von uns Menschen geschaffenen Infrastrukturen nicht mehr an die Variabilität des Klimas angepasst und werden bei Wetterextremen beschädigt oder zerstört. Die Medien sprechen dann von Wetterchaos, obwohl das Erdsystem weiterhin nur nach den bekannten physikalischen Gesetzen agiert.

Bei der Braunkohleförderung in Deutschland wird viel mehr Methan freigesetzt als bislang angenommen. Das legt eine Analyse des britischen Instituts Ember Climate nahe. Auch der weltweite LNG-Boom bringt steigende Methan-Emissionen mit sich. Haben wir das besonders klimawirksame Treibhausgas zu wenig auf dem Schirm?

Methan ist das fünftwichtigste Gas für den natürlichen Treibhauseffekt der Atmosphäre – nach Wasserdampf, Kohlendioxid, Ozon und Lachgas –, aber das zweitwichtigste anthropogene Treibhausgas nach dem CO2. Weil sich seine Konzentration in der Luft seit Beginn der Industrialisierung mehr als verdoppelt hat, ist Methan eindeutig wichtig für die Klimaschutzpolitik. Etwa ein Drittel der Erwärmung durch den erhöhten Treibhauseffekt wird vom Methan verursacht.

Weil Deutschland große Braunkohletagebaue mit einem gewissen Methanausstoß pro Flächeneinheit besitzt, ist es verwunderlich, dass die Bundesregierung für diese Methanquelle bisher nur einen einzigen, von der Braunkohleindustrie für einen Tagebau gemessenen Emissionsfaktor für alle Tagebaue verwendet hat. Da das Europäische Parlament aber in dieser Woche eine Methanverordnung verabschiedet hat, wird Deutschland in naher Zukunft hier viel detaillierter rechnen müssen – zu dieser und zu anderen Methanquellen.

Die extreme Hochrechnung der Methanemissionen aus den deutschen Braunkohletagebauen, die jetzt die Deutsche Umwelthilfe veröffentlichte – unter Nutzung der Daten des dafür ausgewiesenen Instituts Ember Climate in London –, wird eine dadurch angestoßene neue Messkampagne aber wahrscheinlich nicht überleben. Denn Umweltorganisationen reizen den von der Wissenschaft vorgegebenen Unsicherheitsbereich meist voll nach oben aus.

Weil es besonders schwierig ist, die Emissionen der Hauptmethanquellen wie der industriellen Rinderhaltung zu reduzieren, und weil gleichzeitig die CO2-Quellen durch Klimapolitik zumindest in der EU schon eindeutig schrumpfen, steigt die klimapolitische Bedeutung des Methans stetig. Ich hoffe, dass demnächst nicht mehr geschätzt wird, sondern auf Basis neuer Messungen realistischere – und bald auch deutlich sinkende – Zahlen für die Methanemissionen aus Deutschland vorliegen.

Der US-Klimaforscher Michael Mann durchsucht in seinem neuen Buch die Erdgeschichte nach einer Analogie für das Klima, auf das wir zusteuern. "Frühere Zivilisationen sind untergegangen, weil sich das Klima abrupt gewandelt hat", sagt er. "Und die Erwärmung, die wir heute verursachen, ist abrupter als alles, was wir aus der Vergangenheit kennen." Wenn das so ist, lohnt es sich dann überhaupt, die Vergangenheit zum Klimawandel zu befragen?

Seit es uns Menschen gibt, also in den vergangenen 300.000 Jahren, sind die natürlich vorkommenden Klimaänderungen hauptsächlich durch die kleinen Schwankungen der Bahn der Erde um die Sonne verursacht worden. Die rascheste Temperaturänderung ist dabei diejenige, die beim Übergang von einer intensiven Vereisung in eine Zwischeneiszeit auftritt: In etwa 10.000 Jahren stieg dabei die mittlere Temperatur an der Erdoberfläche um vier bis fünf Grad.

Jetzt haben wir Industrieländer in etwa 150 Jahren 1,3 Grad Erwärmung draufgepackt. Also haben wir die Änderungsrate gegenüber der ohne uns maximal auftretenden Rate extrem erhöht.

Wie weit Ökosysteme dadurch geschädigt werden oder wie weit sie sich auch daran anpassen können, wissen wir nicht, weil es bisher keine Analogie mit derart abrupter Klimaänderung in den vergangenen Millionen Jahren gegeben hat. Massive Klimaschutzpolitik ist daher eine Lebensversicherung für uns und für alle Tiere und Pflanzen.

Dennoch sollten die Paläoklimatologen weiter die vergangenen Klimate rekonstruieren und die dabei auftretenden Einbrüche in der biologischen Vielfalt untersuchen. Sie sollten auch danach suchen, wie stark die immer wieder vorkommenden und global oder mindestens hemisphärisch wirkenden sehr explosiven Vulkanausbrüche, die für einige wenige Jahre die Erdoberfläche um einige Grad abkühlen können, die biologische Vielfalt reduziert haben.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Der Verkehrsminister im Kabinett der Ampel-Regierung, der bisher wenig bewegt hat, macht endlich Schlagzeilen. Aber nicht, weil er den Verkehrssektor reformiert, wo noch fast keine Klimaschutzaktivitäten stattfanden. Sondern weil er die Jahre andauernde Bewegungslosigkeit durch eine Drohung krönt, die ausschließlich aus seiner eigenen Untätigkeit bei einer ganz zentralen Aufgabe folgt, nämlich der Dekarbonisierung des Verkehrssektors.

In seinem Brief an die Fraktionsvorsitzenden der Bundesregierung droht Minister Wissing mit einem Autofahrverbot an Wochenenden, wenn nicht bald das geltende Klimaschutzgesetz von 2021 entsprechend dem Kabinettsbeschluss vom Juni 2023 durch den Bundestag geändert wird.

Gelingt diese Verwässerung, dann kann er sich auch offiziell hinter den Kabinettskolleginnen und -kollegen verstecken, die das Klimaschutzgesetz so gut einhalten, dass er sich freikaufen kann. Er müsste dann nicht wie bei bisheriger Rechtslage mit einem Sofortprogramm nachsteuern, um die im Verkehr zu viel emittierten rund 20 Millionen Tonnen CO2 doch noch einzusparen.

Wissings Verhalten passt sehr gut in die jetzt schon lange Liste der Rettungsversuche für fossile Energieträger durch die FDP-Fraktion, in der es auch sogenannte Klimaskeptiker gibt. Beispielhaft sei der Kampf dieser Fraktion für sogenannte E‑Fuels genannt.

E‑Fuels werden entsprechend den physikalischen Gesetzen immer teuer bleiben, denn es muss mindestens die bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe frei werdende Energie aufgewendet werden, um mit dem so gewonnenen Kohlendioxid in zwar bekannten, aber großtechnisch noch nicht genutzten Verfahren die gleiche Energie im E‑Treibstoff zu erhalten.

Die Energieträger Sonne und Wind sind dagegen ohne diesen Aufwand zu haben. Mit ihrer Energie können wir in Zukunft alle Fahrzeuge außer den großen Flugzeugen bewegen.

Fragen: Jörg Staude