Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, der 22. Juli war mit einer globalen Durchschnittstemperatur von 17,16 Grad Celsius der wärmste Tag seit Messbeginn. Der vergangene Juni war der 13. Monat in Folge, in dem die Erderwärmung die Schwelle von 1,5 Grad überschritten hat.
Neue Höchstwerte bei den Temperaturen gehören fast schon zum Alltag und doch scheint die Geschwindigkeit des Temperaturanstiegs selbst Klimawissenschaftler:innen zu überraschen. Unterschätzen Klimamodelle die Erderwärmung?
Hartmut Graßl: Die Meldungen müssen zunächst etwas zurechtgerückt werden. Weil die mittlere globale Lufttemperatur in der Nähe der Erdoberfläche von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und von einem Jahr zum nächsten auch ohne den Einfluss des Menschen schon immer schwankt, sollten zur Bewertung des Einflussfaktors Mensch Mittelungen über mindestens einige Jahre vorgenommen werden, wie es zum Beispiel der "Weltklimarat" IPCC tut.
Bei der Betrachtung der Temperaturvariabilität in der Zeitreihe des europäischen Klimadienstes Copernicus, die international anerkannt ist und auf die die Fragestellung wesentlich zurückgeht, fällt auf: Die hier relevante mittlere globale Temperatur in Erdoberflächennähe, genauer in zwei Metern Höhe, macht jeweils erkennbar einen "Hopser", wenn wie 2016 und 2023 die stärkste natürliche Variabilität, das sogenannte El-Niño-Ereignis im tropischen Pazifik mit Temperaturerhöhungen von bis zu rund zwei Grad Celsius, auftritt.
Diese natürliche Anomalie erhöht die mittlere globale Temperatur um ein bis zwei Zehntelgrad. Wie der Klimadienst selbst als zusätzliche Erklärung für die hohen Werte im Juli 2024 anführt, leistet der jetzige milde Winter über der Antarktis dazu einen wesentlichen Beitrag – und diese starke Anomalie sei nichts Außergewöhnliches.
In der heißen Debatte um globale Klimaänderungen durch den Menschen empfehle ich mehr kühles Abwägen und mehrjährige Mittelung, bevor man den Klimamodellen eine zu geringe Klimasensibilität attestiert.
Bundesbauministerin Klara Geywitz hat am Montag eine Hitzeschutzstrategie für Städte vorgestellt. Darin finden sich etliche Empfehlungen, aber keine gesetzlich verankerten Ziele, etwa zur Entsiegelung. Viele Kommunen erklärten bereits, ihnen fehle für entsprechende Maßnahmen das Geld. Wird die Gefahr von Hitze in Städten politisch unterschätzt?
Seit Jahrzehnten wird der Wärmeinseleffekt der Städte, durch den die Temperatur wenige Grad höher als im Umland ist, in der Wissenschaft intensiv diskutiert. Dieser Effekt führt jetzt bei der allgemeinen globalen Erwärmung in immer mehr der fast überall wachsenden Städte zu häufigeren und manchmal auch stärkeren Hitzeperioden. Das bedeutet mehr gesundheitliche Belastungen für die Bewohner bis hin zu immer mehr Hitzetoten.
Schon lange ist auch bekannt, was die wichtigsten Gründe für die städtischen Wärmeinseln sind: die starke Versiegelung der Böden in den Städten, die in den Stadtzentren oft fehlende Vegetation sowie die meist eingeschränkten Wasserflächen. Jahrzehntelang haben die meisten Länder immer mehr Flächen für die Automobile geopfert, für Straßen, Parkplätze, auch Parkhäuser. Jetzt soll das umgekehrt werden, aber das braucht Zeit.
Ohne gesetzliche Eingriffe dauert es zu lange, um die Hitzebelastungen wenigstens nicht weiter steigen zu lassen. Deshalb ist die Hitzeschutzstrategie der Bundesbauministerin zwar ein Schritt in die richtige Richtung, sie wird aber zu wenig bringen und zu langsam wirken.
Die nächste Bundesregierung muss den Flächenverbrauch unserer kaum wachsenden Bevölkerung stark einschränken und in den Städten den Grad der Bodenversiegelung verringern. Denn freiwillig gelingt das – wie sich schon bei vielen Umweltbelastungen gezeigt hat – überhaupt nicht.
Stickstoffemissionen kühlen unterm Strich die Erde, hat eine Studie unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie ergeben. Auch zu der Klimawirkung von Aerosolen gibt es immer wieder neue Erkenntnisse. Wie viel Unsicherheit gibt es in der Atmosphärenphysik, auf der auch die Klimamodelle beruhen, noch?
In der Studie geht es nur um die Wirkung von Stickstoff enthaltenden Spurengasen aus unserer Industriegesellschaft, häufig mit nur milliardstel Anteilen an der Luft, die ja selbst zu 78 Prozent aus Stickstoff besteht. Diese Stickstoffatome enthaltenden Spurengase, zum Beispiel Stickstoffmonoxid NO, Stickstoffdioxid NO2 und Distickstoffoxid N2O sowie Ammoniak NH3, sind entweder langlebige Treibhausgase und tragen zur globalen Erwärmung bei, wie N2O, oder sie sind Teil der Ozonchemie, wie NO und NO2.
Sie alle außer N2O enden nach komplexen chemischen Umwandlungen in der Atmosphäre als Bestandteil von festen oder flüssigen Teilchen mit weniger als einem Mikrometer Durchmesser. Sie tragen also zur Lufttrübung bei.
Diese Aerosolteilchen streuen so viel Sonnenlicht zusätzlich in den Weltraum zurück, dass die weltweit gemittelte Wirkung aller Stickstoffverbindungen zusammen für eine leichte Kühlung reicht, wie es jetzt die Kollegen unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena mit den Emissionsdaten der Spurengase und den neuesten Atmosphärenchemie-Modellen berechnet haben.
Da viele Industrieländer Teile dieser Spurengasemissionen schon durch Luftreinhaltemaßnahmen zur Gesundheitsvorsorge reduziert haben, ist die globale Erwärmung durch den erhöhten Treibhauseffekt vor allem des Kohlendioxids noch dominanter geworden.
Die Kenntnisse der Atmosphärenchemie und der Atmosphärenphysik reichen auf jeden Fall für die folgende Klimaschutzdevise: Treibhausgasemissionen und Luftverschmutzung durch Spurengase und Aerosolteilchen sollten gemeinsam rasch gegen null gefahren werden.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Die Meldung, dass in den tropischen Anden Südamerikas die Kleingletscher jetzt kleiner sind als jemals im Holozän, also seit 11.700 Jahren, war für mich eine Überraschung. Denn ich bin im Dorf Ramsau bei Berchtesgaden aufgewachsen, auf dessen Gebiet der nördlichste Alpengletscher, das Blaueis, lag, der jetzt zu einem kleinen Schneefeld ohne Spalten geschrumpft ist. Als Jugendlicher habe ich mit meinem jüngeren Bruder im Blaueis noch geübt, wie man den Bergkameraden beim Sprung in eine große Spalte im Eisbruch hält. Die Entwicklung in den Anden ist jedoch drastischer als die Schrumpfung der Alpengletscher.
Fragen: David Zauner