Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, bei der Dekarbonisierung kümmert sich Deutschland zu wenig um die Suffizienz, kritisiert eine Studie des Akademie-Projekts "Energiesysteme der Zukunft". Dass wir ohne ein Weniger an Energie, Material, Mobilität und Konsum nicht zur Klimaneutralität kommen, ist doch eine Binsenweisheit – oder?
Hartmut Graßl: Das Wort "Klimaneutralität" ist zum Modewort geworden, vor allem bei denen, die nur moderaten Klimaschutz und nicht die volle Transformation der Gesellschaft zu einer echt nachhaltigen meinen. Sie wissen nicht, dass wir vom Paris-Abkommen nicht zur Klimaneutralität aufgerufen sind, sondern nur zur Treibhausgasneutralität.
Letztere meint, dass wir – und das gilt für jedes Land separat – in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts Quellen und Senken von Treibhausgasen auf netto null bringen sollen.
Wer also zum Beispiel in hohen nördlichen Breiten aufforstet, um die Treibhausgasemissionen aus der Viehzucht zu kompensieren, der kann dadurch Treibhausgasneutralität erreichen.
Aber gleichzeitig wird er nicht klimaneutral, denn er erhöht die globale Erwärmung weiter, weil Flächen, die ohne Wald bis ins Frühjahr hinein schneebedeckt sind, viel Sonnenenergie zurückstreuen – im Umfang von 60 bis 80 Prozent.
Werden aus diesen Flächen solche mit Wald, streuen sie auch bei Schneebedeckung weit weniger zurück, nur etwa 30 Prozent. Also absorbiert diese Region mit Wald insgesamt weit mehr Sonnenenergie und wird somit wärmer.
Klimaneutralität ist also fordernder als Treibhausgasneutralität, denn für erstere muss auch der Sonnenstrahlungsbereich berücksichtigt werden und nicht nur der Wärmestrahlungsbereich. Weil ein Nadelwald – der sogenannte dunkle Tann – oft nur etwa zehn bis zwölf Prozent der Sonnenstrahlung zurückstreut, eine Grünlandfläche aber einige Prozentpunkte mehr, ist sogar in unseren Breiten Aufforstung nicht immer klimaneutral.
Nun zum Debattenschlagwort "Suffizienz".
Dass der jährliche Primärenergieeinsatz pro Kopf in Deutschland in den letzten 20 Jahren von etwas über 175 auf rund 155 Gigajoule geschrumpft ist – auch, indem der Anteil regenerativer Energien stieg – und 2020 coronabedingt auf ein neues Minimum von 149 Gigajoule sank, wird in der Debatte um Suffizienz fast nie erwähnt, stellt aber trotzdem eine vergleichsweise günstige Ausgangslage für unser Land dar.
Auch die langfristig leichte Abnahme des Pro-Kopf-Fleischkonsums ist ein weiteres Indiz für die Wirksamkeit der Suffizienzdebatte in Teilen der Bevölkerung. Leider wird diese positive Entwicklung im eigenen Land durch den Fleischexport zumindest zum Teil zunichtegemacht.
Zu den großen Hebeln, die wir in Richtung Suffizienz in der Hand haben, gehören die Steigerung der Nutzung des öffentlichen Verkehrs – sofern auch seine Angebotsdichte zunimmt – sowie die Minderung des Autoverkehrs mindestens in den Städten.
Wichtig für Suffizienz ist aber vor allem eine stetige Entwicklung weg von der linearen Wirtschaft – mit viel neuen Rohstoffen und viel Abfall – in Richtung einer Kreislaufwirtschaft. Besonders offensichtlich wird das bei der Energieversorgung. So setzt die Nutzung erneuerbarer Energien die Verfügbarkeit prinzipiell nicht erneuerbarer Metalle voraus.
Statt immer wieder Anstrengungen in Richtung Suffizienz für das Individuum zu fordern, sind Regelungen geboten, um die Recyclingrate bei Materialien mit kostbarem Inhalt schrittweise zu erhöhen.
Die zivilgesellschaftliche Debatte über Suffizienz wird stärker werden und bei wachsender Zustimmungsrate – unter anderem wegen größerem Leidensdruck – auch staatliche Regelungen erlauben.
Der Chef des größten Erdölkonzerns der Vereinigten Arabischen Emirate wird Präsident des diesjährigen Weltklimagipfels COP 28. Damit nicht genug, wird der Gipfel auch von Angestellten des Konzerns mitorganisiert. Wie sollte die Klimawissenschaft damit umgehen?
Was ich darüber erfahren habe, ist absolut nichts Neues. Der fossilen Lobby ist klar, dass die Ziele des Paris-Abkommens die globale Energiewende zur Voraussetzung haben. Sie versucht, wie der neue Chef der COP 28, zu retten, was noch zu retten ist – wohl wissend, dass dies neue Wetter- und Klimaextreme und damit den Tod für viele, meist arme Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch in Industriestaaten bedeutet.
Zu ihrem Instrumentarium gehört: Alle öffentlichen Reden mit dem Klimaschutz beginnen, ihn als Herzensangelegenheit bezeichnen – und bei Entscheidungen wie auf der COP 27 an zentralen Stellen gegen das Ende der Nutzung des fossilen Energieträgers Erdöl stimmen.
Ich erinnere hier daran, dass es sogar im eigenen, ölarmen Land dem früheren Wirtschaftsminister zum Schutz der alten Industrien gelang, das früher wegweisende Erneuerbare-Energien-Gesetz so zu "amputieren", dass jetzt – weil das zur Norm in den meisten Ländern wurde – fast alle Wissenschaftler, einschließlich des Weltklimarates, sagen müssen, dass zum Erreichen der Ziele des Paris-Abkommens die global koordinierte Emissionsminderung allein nicht mehr ausreicht.
Es sind zusätzlich direkte Eingriffe in das Klimasystem notwendig, wie die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre.
Für die COP 28 hoffe ich, dass im Vorfeld einige demokratisch regierte Nationen, auch gestützt durch ihre Zivilgesellschaft, so viel Druck für den Klimaschutz aufbauen, dass der neue COP-28-Präsident Sultan Al-Jaber "teilentmachtet" wird.
Konservative Medien und Politiker wirken teilweise unentschlossen in der Bewertung, ob der Klimawandel selbst oder nicht doch eher der Klima-Alarmismus die größere Bedrohung für die Menschheit ist. Nähren Klimaforscher tatsächlich zu viel Befürchtungen vor dem Klimawandel?
Seit 40 Jahren engagiere ich mich als Wissenschaftler für die Information der Öffentlichkeit über die globale Klimaänderung durch den Menschen. Als Beitragender zum Weltklimarat IPCC ist meine Beobachtung: Uns Wissenschaftlern kann eher ein Unterschätzen der Bedrohung durch den erhöhten Treibhauseffekt vorgeworfen werden.
Mit jedem Bericht des Klimarates – angefangen 1990, über 1995, 2000, 2005, 2013 bis 2022 – ist das Bedrohungsniveau aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse insgesamt gestiegen. Zugleich mussten aber die wesentlichen Aussagen von früher nicht korrigiert werden.
Wer also stärkere politische Beschlüsse zum Klimaschutz nicht will, verfahre nach einem einfachen Rezept: Man lasse den Moderator, der wenig Wissen darüber, aber eine Meinung hat, von Klima-Alarmismus reden, wenn in der Talkshow ein Klimaforscher fehlt – oder bewusst nicht eingeladen wurde – und eine engagierte Bürgerin zu dem Thema "gegrillt" werden soll.
Die Meinung von Hunderttausenden wird so in eine bestimmte, wissenschaftlich falsche Richtung gelenkt. Dieses häufige, aber unfaire Verhalten macht mich zum seltenen Talkshow-Zuhörer.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Neben den Beobachtungen von Atmosphäre und Ozean sowie der Landoberfläche ist die Klimamodellierung mit ihrer Fähigkeit, die Klimazukunft wissenschaftlich einzuschätzen, die Basis für globale Entscheidungen zum Klimaschutz, wie dem Paris-Abkommen, das die globale Energiewende fordert.
Mehr als fünf Jahrzehnte beobachte ich die Entwicklung der numerischen Klimamodelle und ihre Erfolgsgeschichte. Ihre Güte – durch Validierung mit den beobachteten Klimaanomalien aus der Vergangenheit bestimmt – hat zum Beispiel dazu geführt, dass immer öfter einem Wetter- oder Klimaextrem der anthropogene Anteil zugeordnet und je nach Verhalten der Menschheit realistische Klimaszenarien über mindestens 100 Jahre berechnet werden können.
Jetzt hat eine größere Wissenschaftlergruppe am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg in der Fachzeitschrift Geoscientific Model Development gezeigt, dass das am Institut entwickelte gekoppelte Atmosphäre-Ozean-Land-Modell "ICON-Sapphire" auf dem neuen Großrechner des Deutschen Klimarechenzentrums in Hamburg ohne viele der Parameterisierungen für die räumlich bisher nicht aufgelösten Prozesse auskommt.
Damit ist eine neue Ära für noch präzisere Klimamodellierungen eröffnet. In Beispielrechnungen zeigt die Gruppe, dass das voll gekoppelte Modell mit biogeochemischen Prozessen im Ozean global mit Fünf-Kilometer-Auflösung den Jahresgang simulieren kann – fast wie beobachtet. Für den Monatsbereich gelingt eine 2,5-Kilometer-Auflösung, und als Atmosphärenmodell allein wird ein Gitterabstand von 1,25 Kilometern erreicht. Ich gratuliere den Kollegen.
Fragen: Jörg Staude