Auf Hollandrädern fährt ein Dutzend Menschen über eine Kreuzung in einem Amsterdamer Altstadtviertel, eine blau-weiße Straßenbahn überholt sie.
Ein Lebensstil des Weniger ist in Deutschland eher negativ konnotiert, deshalb hier ein Bild aus einem Nachbarland. (Foto: Inspiration Flow Project/​Shutterstock)

Klimareporter°: Frau Weidlich, in der Studie "Energiesysteme der Zukunft", kurz Esys, plädieren Sie für Suffizienz, für einen absoluten Minderverbrauch an Energie, Material und Ressourcen, um klimaneutral zu werden.

Wenn wir uns aber zu hundert Prozent mit Erneuerbaren versorgen, die Wirtschaft dekarbonisieren und unser ganzes Leben nachhaltig und grün gestalten – warum können wir dann nicht weitermachen wie bisher?

Anke Weidlich: Alle Studien zur Klimaneutralität, die wir uns mit Esys angeschaut haben, gehen davon aus, dass der Endenergieverbrauch sinkt. Nicht alle befassen sich im Detail damit, wie das geschehen soll. In einem nachhaltigen System ist ein sinkender Energieverbrauch aber ein wichtiger Baustein.

Zum einen ist das eine Frage von Effizienz, also von technischen Maßnahmen. Unsere Studie diskutiert aber darüber hinaus auch absolute Reduktion, vor allem an den Stellen, wo die energieintensiveren Optionen noch die naheliegenden sind und wo Suffizienz nicht notwendigerweise mit einem Verlust an Wohlstand einhergehen muss.

Heute ist es eben praktisch und günstig, mit dem Auto zu fahren. Es ist auch extrem günstig zu fliegen, weil bei beiden Mobilitätsformen viele externe Kosten, zum Beispiel durch den Klimawandel, durch Lärm oder durch Luftschadstoffe, ausgeblendet werden.

An diesen Stellen ist es möglich, die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass klimaschonendere Optionen näher liegen. Und das gehört zu dem, was wir eine aktive Suffizienzpolitik nennen.

Ganz neu ist die Idee ja nicht.

Nein, schon ein überwiegender Teil früherer Studien sieht eine aktive Suffizienzpolitik als ein wichtiges Element an.

Neulich war ich bei einem Workshop in einem Raum mit vielen alten Büchern. Da kam uns eine Energiesystemstudie aus dem Jahr 1980 in die Finger. Bereits damals gab es sehr viele Ideen zur Verbrauchsreduktion und wo man dazu ansetzen muss. Und es ging wie heute um den Verkehr, die Größe der Wohnfläche und den Verbrauch an Konsumgütern.

Kann es in Deutschland ohne Änderung der Lebensweise weitergehen, wenn alles auf Grün umgestellt wird?

Ein Vorteil eines verringerten Verbrauchs ist auch, dass die Pfadrisiken reduziert werden. Gemeint ist damit: Wenn wir zum Beispiel die Windenergie an Land nicht schnell genug ausbauen – und im Moment geht es da tatsächlich viel zu langsam voran – laufen wir bei einem reduzierten Verbrauch weniger Gefahr, die Klimaziele nicht zu erreichen oder stark zu verfehlen.

Zudem sind die erneuerbaren Energien nicht frei von Auswirkungen auf die Umwelt, zum Beispiel mit ihren hohen Rohstoffbedarfen. Importieren wir diese Rohstoffe, schaffen wir neue Abhängigkeiten und können uns in neue Risiken begeben. Auch da ist die Verbrauchsreduktion eine Möglichkeit, planetare Grenzen im Blick zu behalten.

Zumindest aus diesen Gründen müssen wir die eher einfachen Optionen berücksichtigen, bei denen es ohne großen Wohlstandsverlust mit weniger geht.

Die klimaschonenden Optionen sollen die näherliegenden werden, fordern Sie. Gab es da Fortschritte in den letzten Jahren?

In dieser Richtung etwas anzustoßen, ist vor allem im Verkehr sehr schwierig. Noch immer haben wir einen steigenden Pkw-Bestand und den Ausbau von Straßen. Stattdessen sollten Rad- und Schienenverkehr auch in der Infrastruktur bevorzugt und attraktive Mobilitätsangebote geschaffen werden, die den Autoverkehr tatsächlich reduzieren.

Zumindest wird es aber immer schwieriger, weiteren Straßenausbau durchzusetzen. Der stößt heute auf mehr Widerstände als in der Vergangenheit – einfach, weil schon so viel gebaut ist. Das Gleiche gilt für neue Wohngebiete. Hier regen wir an, den Bestand flexibler zu nutzen, statt vor allem neue Gebäude zu bauen.

Fortschritte sehe ich bisher eher bei der Wahl der Technologien, auch wenn sich das noch deutlich verstärken muss. Bei den Pkw werden immer mehr Elektrofahrzeuge neu zugelassen, und im Neubau setzt sich die Wärmepumpe als Heizungstechnologie durch. Hier spielen am Ende natürlich auch Preise eine wichtige Rolle. Unsere Studie sieht in der CO2-Bepreisung ein ganz wichtiges Element, um Klimaneutralität zu erreichen.

Ein hoher CO2-Preis allein richtet es aber auch nicht.

Wenn durch den CO2-Preis das CO2-intensive Produkt doppelt so teuer wird und es eine Alternative gibt, dann wird das CO2-intensive einfach nicht mehr nachgefragt.

Aber klar: Es gibt auch Bereiche, wo wenig Alternativen vorhanden sind. Dann sehen sich Menschen vielleicht gezwungen, das teurere Produkt zu nehmen.

Und das ist wiederum die Herausforderung. Wie kann ich mit Preisen die richtige Steuerung erzielen und zugleich verhindern, dass die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt?

Gibt es in der Gesellschaft das Gefühl, dass sich die hohen Einkommen freikaufen können, dann wird zu Recht die Akzeptanz leiden. Auch das thematisieren wir in der Studie.

Klimaschützer hoffen auf "gesellschaftliche Kipppunkte". Wenn die erreicht sind, würden sich klimaverträgliche Verhaltensweisen geradezu exponentiell verbreiten. Sehen Sie solche Kipppunkte?

Ich sehe derzeit keine offensichtlichen Kandidaten für sogenannte soziale Kipppunkte, bei denen ein selbstverstärkender Prozess zu klimafreundlichem Verhalten in Gang kommt.

Porträtaufnahme von Anke Weidlich.
Foto: Jan Unnewehr

Anke Weidlich

ist Wirtschafts­ingenieurin und Professorin für Technologien der Energie­verteilung an der Universität Freiburg. Zuvor war sie Professorin für Energie­system­technik und Energie­wirtschaft an der Hochschule Offenburg. Bis 2008 leitete sie ein Forschungs­team im Bereich Smart Grids bei der SAP AG.

Technologisch gibt es das schon eher, wie bei der Solarenergie. Ursprünglich war sie die teuerste Energieform, heute ist sie an manchen Standorten die günstigste. Das führte zu einem exponentiellen Wachstum. Und das kann, wie wir wissen, Dinge ganz schnell verändern.

Eine ähnliche exponentielle Entwicklung nimmt die Elektromobilität. Das hat für mich so ein Momentum, das Naheliegendste zu werden, das man sich dann kauft und wo der Verbrenner schnell verdrängt wird. Davon sind wir noch ein bisschen entfernt, aber das kann dann sehr schnell gehen.

Und wie sieht es bei sozialen Praktiken aus?

Da nehme ich in meinem sozialen Umfeld wahr, dass so ein Thema wie Veganismus und Fleischkonsum von einer kompletten Randerscheinung zu einer zumindest im Wohlwollen mehrheitsfähigen Option geworden ist.

In den letzten Jahren hat sich der Fleischkonsum pro Kopf in Deutschland deutlich reduziert. Im weltweiten Vergleich befinden wir uns aber nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau.

Da spielen dann noch andere Motivationen mit hinein als der Klimaschutz, auch die Debatten ums Tierwohl und gesundheitliche Aspekte. In ihrer Kombination könnten all diese Elemente auch eine beschleunigende Wirkung haben, aber von Kipppunkten würde ich da nicht reden.

Als erster Wirtschaftsbereich kippt jetzt die Stromerzeugung. Eine vom Bundeswirtschaftsminister ins Leben gerufene Plattform soll ein klimaneutrales Stromsystem designen. Wie würden Sie das gestalten?

Das baut natürlich ausschließlich auf erneuerbaren Energien auf. Es wird auch deutlich mehr Strom als heute liefern müssen, weil wir eine Elektrifizierung in allen Bereichen brauchen. Das wird nicht überall gelingen. Deswegen benötigen wir auch noch Wasserstoff, der aus grünem Strom erzeugt wird.

Da sagen Kritiker: Wo bleibt bei hundert Prozent Erneuerbaren die Versorgungssicherheit?

Dazu werden wir künftig Gaskraftwerke haben, die direkt mit Wasserstoff oder synthetischem Methan betrieben werden. Dazu kommt noch, die Stromnachfrage flexibel zu machen und Speicher für Strom zu schaffen und anderes mehr.

Obwohl noch nicht feststeht, wie das klimaneutrale Stromsystem aussehen wird, will der Wirtschaftsminister schon den Bau von 25.000 Megawatt H2-ready-Gaskraftwerken ausschreiben. Sollte nicht mit der Plattform erst vorher geklärt werden, ob wir 25.000 Megawatt wirklich brauchen?

Es gibt schon einige Szenarien, die die Züge eines klimaneutralen Stromsystems 2045 für Deutschland grundsätzlich skizzieren. Sie basieren alle auf Windkraft an Land und auf See sowie Photovoltaik als den wichtigsten Quellen. Und alle Szenarien gehen auch davon aus, dass wir Backup-Kraftwerke brauchen, die gasbasiert sein werden – anfangs wie derzeit mit Erdgas und dann zunehmend auf Wasserstoffbasis. Da herrscht unter den Expert:innen große Einigkeit.

Mit dem Ausbau auf 25.000 Megawatt Gaskraftwerke laufen wir in kein großes Risiko hinein. Wir haben schließlich vor, in wenigen Jahren aus der Kohle auszusteigen. Dennoch die Versorgungssicherheit zu erhalten, ist eine Notwendigkeit. 

Letztlich können wir auch nicht mehr lange hin und her rechnen, ob wir mit den 25.0000 ganz richtig liegen. Dazu läuft uns einfach die Zeit davon. So ist es angebracht, jetzt zügig die Weichen für Dinge zu stellen, von denen man mit einiger Sicherheit sagen kann, dass wir sie brauchen werden.

Verfechter eines "zellulären" Stromsystems verlangen, die Verhältnisse im Stromsystem umzukehren: Es soll nicht mehr "von oben her", also von den Großkraftwerken hinunter zur Steckdose, sondern "von unten her" gedacht werden. Wohngemeinschaften, Quartiere oder regionale Verbünde sollen ihren Strombedarf selbst decken und Überschüsse dann ins Netz abgeben. Was halten Sie davon?

Ich glaube nicht, dass ein "von unten" gedachtes Stromsystem die alleinige Struktur sein wird, sondern dass es ein Mix aus zentraler und dezentraler Stromerzeugung sein wird. Natürlich ermöglichen Erneuerbare kleinteilige Erzeugung und Verbrauch, und es ist auch sinnvoll, den Eigenverbrauch zu optimieren.

Wir werden aber immer auch Stromaustausch über große Übertragungsleitungen haben. Das bedingen allein schon Stromquellen wie große Windparks auf See oder auch an Land. Da hat der Norden Deutschlands doch deutlich größere Potenziale als der Süden.

Gleichzeitig haben wir im Süden mehr solare Einstrahlung. Da ist es naheliegend, die unterschiedlichen erneuerbaren Leistungen über Leitungen auszutauschen. Das Stromsystem ist zudem europäisch vernetzt, sodass es sinnvoll ist, die besten Energiequellen auszubauen und die Energie europaweit auszutauschen.

Würden wir ausschließlich autarke Systeme aufbauen, bräuchten wir auch viel mehr Erneuerbaren-Anlagen und Speicher. Verglichen mit diesem Mehraufwand benötigen Leitungen zum Leistungsaustausch viel weniger Rohstoffe und Material. Stromnetze sind am Ende eine sehr effiziente Art und Weise, das Stromsystem aufzubauen.

Also: Das System wird dezentraler werden, gleichzeitig behalten wir aber auch zentrale Elemente und haben einen großen Bedarf, Erzeugung und Nachfrage über große Netze auszugleichen. Auch von diesen brauchen wir künftig mehr als heute.

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