Klimareporter°: Frau Göpel, Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch, dass unser System, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren, bald kippen wird. Woran sehen wir das?
Maja Göpel: Wir merken, dass die Art und Weise, wie wir zentrale Bereiche der Gesellschaft organisiert haben, zum Beispiel bei der Energieversorgung, Landnutzung oder der Stadtplanung, nicht mehr die gewünschten Ergebnisse erzielt und wir mit kleinen Veränderungen innerhalb der bisherigen Denklogiken keine Besserung verzeichnen.
Das bedeutet?
Wir brauchen eine strukturelle und damit politische und wirtschaftliche Neuordnung. Das besagen Begriffe wie Energiewende, Verkehrswende, Ernährungswende, Ressourcenwende. Dafür sind so einige unserer Organisationen und Prozesse aber nicht besonders gut aufgestellt, da sie von Silo-Denken, Kurzfristigkeitsfokus, Beharrungskräften der Privilegierten und starker Konkurrenz gekennzeichnet sind. Da ist es schwierig, vorausschauend zu handeln.
Oft geht das erst durch eine Krise, die solche Pfadabhängigkeiten unterbricht. Kipppunkte beschreiben dieses Phänomen. Ökologische Kipppunkte wollen wir dringend verhindern, soziale und gesellschaftliche hingegen können ein normativ sehr wünschenswertes Aufbrechen aus den nicht mehr tragfähigen Strukturen ermöglichen.
Woran merken wir denn konkret, dass wir kurz vor einem Kipppunkt stehen?
Die Einschläge werden häufiger und stärker und damit dauert auch die Regeneration länger. Im Klimabereich können wir das sehr gut nachvollziehen. Was die Wissenschaft vorher modelliert und angekündigt hat, spüren wir jetzt selbst.
Sie erwähnen auch die damals zwölfjährige Severn Cullis-Suzuki, die 1992 auf der Weltkonferenz zu Umwelt und Entwicklung der UN eine Rede hielt, die sehr nach Greta Thunberg klingt. Cullis-Suzuki hat allerdings damit keine neue Klimabewegung ausgelöst. Warum hat Greta Thunberg das geschafft?
Die Denkmuster der ökologisch blinden Weltanschauung waren sehr stark. Damals wurde gesagt: Wir kriegen das doch technologisch eingefangen, uns gelingen Effizienzsteigerungen, wir entkoppeln das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch. Die Beweislast für politische Veränderungen lag primär bei denen, die argumentiert haben, dass wir aus fossilen Energiesystemen aussteigen müssen, nicht bei denen, die sie erhalten wollen.
Veränderungen von Leitbildern, Prämissen und Denkmustern sind kulturelle Innovationen, die dauern länger, da sie eben tief in unsere Alltagspraktiken und Organisationsstrukturen eingebaut sind.
Das heißt, dass es so lange dauert, liegt auch an den Beharrungskräften und den Menschen, die davon profitieren?
Genau. Dabei ist aus Sicht der Transformationsforschung eines wichtig: Diese Beharrungsmuster sind strukturell zu beschreiben. Eine normative Wertung, ob es eine gute oder schlechte Nachricht ist, dass diese Stabilisierung gegen Veränderung anhält, wird von der Gesellschaft zu beantworten sein.
Für die Nachhaltigkeitsforschung ist dieser normative politische Kompass allerdings ganz klar gegeben und wird in völkerrechtlichen Verträgen wie dem Pariser Klimaabkommen oder einer Nachhaltigkeitsstrategie mit Indikatoren konkretisiert.
Wie muss sich denn aus Ihrer Sicht das Wirtschaftssystem ändern, damit es nachhaltig ist?
Maja Göpel
ist Transformationsforscherin und politische Ökonomin . Sie ist Honorarprofessorin an der Universität Lüneburg und Mitglied im Club of Rome, bis 2020 war sie Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Zuvor arbeitete sie für den Hamburger "Weltzukunftsrat" und das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Ihr jüngstes Buch "Wir können auch anders" erschien im September.
Wir müssen endlich ehrlich bilanzieren, was uns der Status quo kostet. Wir haben die Beweislast und das Marktrisiko immer noch bei denen, die nachhaltig handeln wollen. Da müssen wir viel offensiver werden.
Wenn wir fünf Prozent der Unternehmen als "soziale" und "grüne" Unternehmen klassifizieren, heißt das im Umkehrschluss, dass 95 Prozent "asoziale" und "graue" Unternehmen sind, die einen guten Teil der Kosten, die ihre Art des Wirtschaftens aufwerfen, an unsere und andere Gesellschaften auslagern. Und dann gibt es wenig Budget für investive öffentliche Ausgaben, weil so viel Steuergeld für das Abpuffern und Aufräumen dieser Kosten aufgewendet werden muss.
Wie kann ich so etwas eine erfolgreiche Wirtschaft nennen? Es ist Zeit, die Beweislast und den Suchprozess ganz klar umzudrehen: Jede ökologisch informierte Vorausschau in die Zukunft zeigt die Beibehaltung des Status quo als ein rasant negatives Szenario, auch rein ökonomisch gedacht, ohne Menschenrechte zu berücksichtigen.
Kann es dann noch Wirtschaftswachstum geben?
Es geht nicht um die Frage Wachstum ja oder nein. Das Bruttoinlandsprodukt ist ein abhängiger Indikator, der allein Geldwerte misst, und kein politisches Ziel. Wenn wir die aktuelle Vermüllung und Zerstörung von ökologischem und humanem Kapital in die Marktpreise aufnähmen, könnte auch bei deutlich reduzierten Kaufhandlungen ein ähnlich hohes BIP rauskommen, weil einzelne Dinge schlicht mehr kosten würden. Damit würde die Frequenz reduziert, nicht aber notwendigerweise die Qualität. Warum geht eine Waschmaschine heute nach fünf Jahren kaputt, konnte aber früher 30 Jahre halten?
Was braucht es stattdessen?
Die Leitfrage ist: Wie können wir Wertschöpfung so neu definieren und in ökonomische und politische Instrumente übersetzen, dass Preise die soziale und ökologische Wahrheit sagen, die nachhaltigen Angebote für eine hohe Lebensqualität schnell die nicht nachhaltigen ersetzen und wir in der Summe der wirtschaftlichen Tätigkeiten das Umweltvermögen und menschliche Vermögen in unseren Gesellschaften entwickeln und regenerieren, nicht zerstören und reduzieren?
Das heißt, wir müssen noch gar nicht wissen, wo wir hinwollen?
Doch, natürlich. Wir haben ja mit Sensorik und Big Data eine Revolution der Information darüber, wie sich Ökosysteme verändern und wann sie sich gut regenerieren, und mit stark vereinfachten Umfragen und Beobachtungen viel bessere Daten dazu, wann sich Menschen sicher versorgt und zufrieden fühlen. Die Leitindikatoren in Gesellschaft und Wirtschaft sind aber weiter die heute noch qualitativ blinden Finanzkennzahlen. Die müssen wir ergänzen oder anpassen.
Wie kommen wir da hin?
Der Prozess ist schon im Gange. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat seinen Wirtschaftsbericht erweitert um Indikatoren aus der Nachhaltigkeitsstrategie. Der Präsident des Bundesrechnungshofes hat gefordert, dass sich die Haushaltsdebatten an den Indikatoren der Nachhaltigkeit orientieren müssen.
Es gibt zahlreiche Netzwerke von Unternehmen, die versuchen, sichtbar zu machen, was bei ihnen an ökologischer und sozialer Wert- und Schadschöpfung aufläuft. Denn auch die Wirtschaft selbst sieht, dass dieser Blindflug zu riskant ist und gerade der jungen Generation der Sinn dahinter verloren geht. Diese Transparenz schaffende Wirkungsorientierung macht mir viel Mut.
In Bezug aufs Klima muss es relativ schnell gehen, zum Beispiel wenn wir den Klimawandel auf 1,5 Grad begrenzen wollen. Dauert eine solche Transformation nicht viel zu lange?
Es geht darum, so schnell so viel wie möglich besser zu machen. Ob wir dann 1,5 oder zwei Grad erreichen und ob es sich dann überhaupt noch lohnt, ist eine sinnbefreite Diskussion. Evolution ist ein offener Prozess und kein An- und Ausschalter. Zwei Grad ist eine sehr viel lebenswertere Welt als drei Grad. Jeder Schritt zählt, und wir haben die Freiheit und die Verantwortung zu sagen: Das, was wir heute tun, wird ein Teil von morgen und übermorgen sein, ob ich nun will oder nicht.
Ist die Gesellschaft bereit dazu?
Laut Umfragen liegt der Wunsch, der Klimakatastrophe angemessen zu begegnen, seit Jahren zwischen 75 und 80 Prozent der Gesellschaft. Die Blockaden sind eher psychologisch und weiterhin sozio-kulturell: Wir trauen anderen weniger als uns selbst zu, sich für übergeordnete Ziele zu verändern, und genau die Fragen in den Medien, wie ich denn "die Menschen" davon überzeugen wolle, wiederholen immer und immer wieder eine vermeintliche Mehrheitsmeinung, die gar nicht will.
Das heißt?
Aus meiner Sicht brauchen wir verbindliche Maßnahmen, die soziale und ökologische Ziele klug verbinden und den Einzelnen die Sicherheit geben, dass ihre kleineren Schritte mit den kleineren Schritten der anderen in der Summe genug bewirken – und eben diese Wirkung sollte von politischen Entscheidungsträgern und Medien transparent dargelegt werden. Wir haben das bei der Energiefrage angefangen, wenn zeitnah Füllstände, Verbrauchswerte und Preise von Gas angezeigt werden
Die ökologische und die soziale Frage sind also kein Widerspruch?
Nein. In aller Regel haben kleine Einkommen auch einen geringen Ressourcenverbrauch und es gibt viele Vorschläge, wie eine Preisanpassung Richtung ökologischer Wahrheit sogar sozial progressiv gestaltet werden kann, da war zum Beispiel die Klimadividende ein Vorschlag beim CO2-Preis.
Und dann gehört die Frage nach öffentlicher Daseinsvorsorge auf den Tisch: Wie können wir für alle Menschen den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Nahrung und Mobilität so organisieren, dass es qualitativ hochwertig nicht nur noch mit dickem Portemonnaie möglich ist? Da rutscht uns doch der Gesellschaftsvertrag weg, völlig unabhängig von ökologischen Fragen.
Was also tun?
Wenn die öffentliche Hand tätig wird und Rahmenbedingungen für diese Daseinsvorsorge gestaltet, können Nachhaltigkeitskriterien in Subventions- und Förderprogrammen, Vergaberecht und öffentlicher Beschaffung beide Ziele verbinden und die Märkte wie die Innovationsdynamik dahingehend ausrichten. Das steht auch schon in zig G7- und G20-Deklarationen drin, müsste nur umgesetzt werden.
Sie haben die Bildung erwähnt. Was muss da passieren?
Ein zukunftsorientiertes Bildungssystem sollte die dort Lernenden in die Situation versetzen, Antworten auf die Fragen und Herausforderungen im 21. Jahrhundert zu finden. Unseres steckt noch viel zu stark im 20. Jahrhundert, sowohl in der Auswahl von vermitteltem Wissen als auch in der Art der Ausbildung von Lehrenden. Und, das ist vielleicht das Wichtigste, es fehlt die angemessene Kompetenzschulung für eine volatile, in Umbrüchen befindliche Welt. Wettkampf um beste Noten beim normierten Bulimie-Lernen gehört sicher nicht dazu.
Es gibt hier einen wegweisenden Diskurs um Future Skills und hohe Übereinstimmung zum Beispiel zwischen dem Weltwirtschaftsforum, der Bildung für nachhaltige Entwicklung oder Global Citizenship und Unesco-Initiativen zu digitaler Resilienz. Der OECD-Lernkompass 2030 bringt das schön zusammen und die Psychologen betonen immer wieder das Ziel der Selbstwirksamkeit.
Was kann ich denn im Alltag konkret tun, um das Klima zu schützen?
Wir haben ja fantastisch viele Rollen. Sie können als Mutter etwas tun, Sie können als Kollegin in Ihrer Firma etwas vorschlagen, Sie können sich informieren, wie Sie in Haus und Garten CO2 reduzieren und Biodiversität schützen, Sie können sich an Ihre politischen Vertreter wenden, an Ihre Zeitung schreiben oder in eine Bürgerinitiative oder mitgliederbasierte zivilgesellschaftliche Organisation eintreten. Sie können spenden oder eine eigene neue Initiative gründen, ob nun für bessere Information oder Angebote der Alltagsgestaltung, ob ehrenamtlich oder in Unternehmensform.
Das sind viele Möglichkeiten.
Sie müssen nicht alles auf einmal machen, sondern reinspüren, was Schritt für Schritt geht und wo Ihre Fähigkeiten und Tätigkeiten die beste Wirkung entfalten. Da gibt es kein Patentrezept, aber die Einladung ist immer zu sehen: Ich kann andere inspirieren, ihre Aktivitäten zu verändern. Ich kann in den Strukturen, in denen ich aktiv bin, die Abläufe verändern. Dafür darf und muss ich auch manchmal kritisieren und auch mal Banden bilden gegen die Besitzstandswahrung und Machtmissbrauch – im Idealfall konstruktiv und mit klarem Kompass für eine Zukunft, in der viele normative Ziele erfüllt werden können.
Es bleibt ein Suchprozess. Aber je mehr wir das als Aufbruch in die Welt von morgen verstehen und nicht als einen Abwehrkampf gegen den drohenden Verlust, umso mehr gewinnen wir dazu. Deshalb ist nicht nur die Frage relevant, wie wir in Zukunft leben wollen, sondern auch: Wer wollen wir sein in dem Prozess dahin?