Kritiker der Windkraft, die ja nach eigener Aussage die Energiewende oft befürworten, sollten sich eine jetzt veröffentlichte Studie zur Klimaneutralität vornehmen. Zwei Jahre lang wertete eine Forschungsgruppe des Akademienprojekts "Energiesysteme der Zukunft" (Esys) Studien aus und entwarf eigene Szenarien. Thema: Wie erreicht Deutschland bis 2045 die Netto-Null bei den CO2-Emissionen?
Bei sechs der untersuchten Studien fand das Esys-Team: Sie betrachten eine Reduzierung des Energiebedarfs oder auch nur dessen Stagnieren nur unter dem Blickwinkel der "Sensitivität".
Bei Sensitivitäts-Betrachtungen wird, einfach gesagt, ein Parameter geändert, beispielsweise der Erdgaspreis, alle anderen bleiben konstant. So wird getestet, wie "empfindlich" ein Klimaszenario auf den geänderten Parameter reagiert.
Lediglich das Umweltbundesamt, so die Esys-Leute, habe in seiner sogenannten Rescue-Studie einen "Suffizienz"-Ansatz gewagt, also ein echtes Weniger an Material und Energie angenommen. Darauf aufbauend schufen die Esys-Experten nun ein eigenes Klimaneutralitäts-Szenario und nannten es Nachfragereduktion.
In dem Szenario vermindert sich vieles, etwa das Verkehrsaufkommen oder die zu beheizende Wohnfläche. Es geht um weniger Autos, weniger Konsum, weniger Bauten und insgesamt darum, den Bedarf an Energiedienstleistungen eben zu senken.
Selbst bei reduzierter Nachfrage rechnet die Esys-Studie damit, dass sich etwa die Windenergie-Kapazität bis 2030 gut verdoppeln muss – auf 123.000 Megawatt. Das ist aber ein Sechstel weniger als das Wind-Ausbauziel von 145.000 Megawatt, das unter anderem die Bundesnetzagentur für 2030 ausgibt.
Tausende Windräder, um die jetzt oder künftig hart gestritten wird, müssten im Suffizienz-Szenario nicht gebaut werden. Anstrengungen, die Nachfrage zu reduzieren, könnten "den Druck auf den Ausbau der Windenergie etwas reduzieren", schlussfolgert denn auch das Esys-Team.
Anderes Beispiel bei Esys: Bei ehrgeiziger Nachfragesenkung würde die Kapazität der Batteriespeicher in den kommenden Millionen E-Pkw ausreichen, um das Stromsystem flexibel genug zu machen. Der zusätzliche Bau großer Mengen stationärer Batterien wäre verzichtbar.
Suffizienz – vielleicht, Verbote und Verzicht – nein
Suffizienz ist dabei inzwischen weniger ein Kann, vielmehr ein Muss. Ohne Nachfrageänderungen sind Deutschlands Klimaziele "kaum erreichbar", betonte Hans-Martin Henning, Chef des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE), letzte Woche in einer Debatte zur Esys-Studie.
Dementsprechend müssten Verbrauchsmuster, die sich etabliert haben, weil fossile Energie sehr günstig war, jetzt auf Optionen mit weniger Energiebedarf und weniger CO2-Intensität umgebaut werden, forderte Studienautorin Anke Weidlich, Professorin für Energieforschung an der Uni Freiburg.
Energie einfach nur zu verteuern, sei wegen der sozialen Folgen aber nicht machbar, warnte Weidlich zugleich. Nötig sei vielmehr eine aktive Suffizienzpolitik. So dürfe nicht weiter gefördert werden, dass Menschen weit aus den Städten ziehen, lange Wege haben oder darauf setzen, dass man mit dem Auto überall hinkommt, erklärte die Forscherin. CO2-arme Lösungen müssten zur "naheliegendsten" Option werden, von sich aus attraktiver sein – was heute eben nicht der Fall sei.
Die Studie selbst weist hier auf den bekannten Fallstrick der Verzichtsdebatte hin: Suffizienzpolitik dürfe nicht als Nachfragereduktion durch einen vor allem mittels Preissignalen angereizten individuellen "Verzicht" gesehen werden.
Eine aktive Suffizienzpolitik sei nicht mit dem Reizwort Verzicht gleichzusetzen, pflichtete Eike Blume-Werry vom Industrieverband BDI in der Debatte bei. In einer Demokratie sei die Transformation zur Klimaneutralität ohnehin nicht durch Verzicht erreichbar, meinte der Energie- und Klimareferent des BDI.
Der Lobbyverband setzt stattdessen vor allem auf die "Circular Economy". Bei der Kreislaufwirtschaft könne Deutschland ein Leitanbieter neuer Technologien werden, so Blume-Werry. Weltweit stammten erst 8,5 Prozent des Rohstoffeinsatzes aus Recycling.
Echte CO2-Reduktion statt "negativer Emissionen"
Suffizienz sei nicht gerade die Priorität des Wirtschaftsministeriums, räumte seinerseits Jan Klatt, Energiewende-Referent im Haus Habeck, angesichts der Esys-Ergebnisse ein. Suffizienz sei auch nicht besonders populär, weil es immer die Tendenz gebe, in eine Verbots- und Verzichtsdebatte abzugleiten und im politischen Raum dann instrumentalisiert zu werden.
Klatt äußerte sich zurückhaltend dazu, im Esys-Szenario eine echte Nachfragereduktion ins Energiesystem aufzunehmen. Alle Szenarien zur Klimaneutralität zeigten, dass die Transformation eine "absolute Herkulesaufgabe" sei. Dafür müsse alles Verfügbare aufs Gleis gesetzt werden, einschließlich einer gesellschaftlichen Verständigung zur Suffizienz, so Klatt weiter. Diese Debatte könne man aber nicht politisch oktroyieren.
Echte Reduktion könnte, wie die Esys-Studie zeigt, bei einem weiteren Klimaproblem helfen: der Frage, wie viel "negative Emissionen" Deutschland braucht, damit 2045 unterm Strich die Netto-Null steht.
Nach verschiedenen Studien bewegt sich die Emissionsmenge, die 2045 in Deutschland durch verschiedene CO2-Entnahme-Technologien ausgeglichen werden muss, zwischen 36 Millionen und 77 Millionen Tonnen jährlich.
Für die Esys-Fachleute ist klar: Bei der CO2-Entnahme kann es nicht darum gehen, fossile Energienutzung zu verlängern und lediglich durch CO2-Abscheidung und -Speicherung klimaneutral zu stellen. Ziel ist für die Studie ausdrücklich, nur die schwer vermeidbaren Restemissionen auszugleichen.
Bleibt die Frage: Was sind schwer vermeidbare Emissionen? Aus heutiger Sicht gibt es vor allem beim Fliegen, in der Landwirtschaft, der Abfallwirtschaft und der Zementindustrie keinen Weg zu null Emissionen. Beim Stahl wäre das schon eher möglich.
Deutschlands Klimaziele sind zu schwach
Lohnt sich es aber, bei industriellen Prozess-Emissionen auch die letzte Tonne CO2 teuer zu vermeiden, oder wäre es besser und auch preiswerter, diese Emissionen durch CO2-Entnahme wieder aus der Luft zu holen?
Energieexpertin Weidlich hat darauf noch keine endgültige Antwort. Das sei dann eine Frage von Kosten und technischen Möglichkeiten, erläuterte sie bei der Studienpräsentation.
In der Esys-Studie scheint auch eine wachsende Skepsis durch, die deutschen Restemissionen durch natürliche Senken in den Griff zu bekommen. Das betrifft vor allem die Moore. Deren Wiedervernässung könne zwar große Mengen an CO2-Emissionen einsparen, heißt es in der Studie. Dies stelle jedoch keine CO2-Entnahme, sondern lediglich eine CO2-Vermeidung dar.
Eine Bindung von zusätzlichem CO2 durch den Torfkörper sei langwierig, wendet die Studie ein. Entsprechend gering sei das Potenzial der Wiedervernässung als CO2-Entnahmetechnologie.
Auch für das deutsche Klimaschutzgesetz hält die Esys-Studie keine gute Nachricht bereit. Die mit dem Gesetz zugelassenen Emissionen liegen in der Nähe des Werts für eine globale Temperaturerhöhung um bis zu 1,75 Grad Celsius mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent, geben die Forscher an. Das CO2-Budget, um das 1,5-Grad-Limit mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit einzuhalten, werde auf jeden Fall deutlich überschritten werden.
Das heißt nichts anderes als: Verfehlt Deutschland 2030 die Vorgaben des Klimagesetzes, reißt das Land bereits das 1,75-Grad-Limit. Eigentlich ein guter Grund mehr, sich ernsthaft um die Suffizienz zu kümmern.
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