Das Bild zeigt das Gaskraftwerk in Irsching, im Vordergrund ein Feld.
Von Gaskraftwerken wie hier in Irsching bei Ingolstadt braucht Deutschland erst mal mehr, meint Klimastaatssekretär Patrick Graichen. (Foto: Zonk43/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Herr Graichen, als neuer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck gestalten Sie die Klima- und Energiepolitik. Betrachten Sie Atomkraft und Erdgas als umweltfreundliche Energieträger? Die EU-Kommission sieht es so.

Patrick Graichen: Nein, Atom und Erdgas sind keine grünen Energien. Der Atommüll strahlt noch Jahrtausende, und die Verbrennung von Erdgas verursacht Kohlendioxid-Emissionen. Ihre Einstufung als nachhaltige Übergangstechnologie in der sogenannten Taxonomie hätte es nicht gebraucht.

Ich halte das für eine Verwässerung des grünen Labels für Finanzprodukte. Aber ich bezweifele gleichzeitig, dass es viele Finanzmarktakteure überhaupt nutzen werden.

Warum sind Sie skeptisch?

Das grüne Label für Finanzprodukte der EU soll es ja jetzt in zwei Abstufungen geben: "Nachhaltig" und "übergangsweise nachhaltig". In der zweiten Kategorie sind dann Atom- und Gaskraftwerke enthalten. Ich bezweifle stark, dass Kunden, die Wert auf Nachhaltigkeit legen, in ihren Anlageprodukten Atom und Gas haben wollen. Insofern läuft das ohnehin weitestgehend ins Leere.

Haben Sie die Hoffnung, die Taxonomie noch zu ändern?

Die Wahrscheinlichkeit ist gering, denn die dafür nötigen Mehrheiten im EU-Ministerrat und im EU-Parlament kommen wohl nicht zustande.

Ist das der erste große Konflikt innerhalb der neuen Bundesregierung, in dem die Grünen mit ihrer Energiepolitik an SPD und FDP scheitern?

Wir sind uns in der Bundesregierung einig: Atomkraft lehnen wir ab, und hier in Deutschland ist der Weg des Atomausstiegs klar geregelt. Bei Gas ist klar, dass fossiles Gas nur eine Übergangsfunktion hat und laut Taxonomie der Umstieg auf grünen Wasserstoff bis 2035 erfolgen muss.

Viel wichtiger für unseren Weg in Deutschland ist aber, dass wir einen Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energie an der Stromproduktion bis 2030, die Beschleunigung des Netzausbaus und die Klimaneutralität bis 2045 erreichen.

Halten Sie es für möglich, dass die drei Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim und Isar länger laufen als bis zum vereinbarten Abschalttermin?

Nein, die drei letzten AKW werden Ende 2022 abgeschaltet.

Entstehen in unseren Nachbarländern künftig neue AKW, eventuell mit dem Rückwind der Taxonomie?

In Frankreich ist das sicherlich geplant. Ich nehme aber an, dass es bei einer überschaubaren Anzahl neuer Anlagen bleibt, weil sie einfach sehr teuer sind.

Erdgas ist ein fossiler Energieträger, der den Treibhauseffekt ebenfalls beschleunigt. Wäre es nicht besser, wenn alle verfügbaren Mittel ab sofort in CO2-freie Technologien wie Wind- und Solarstrom flössen?

Für den Wind- und Solar-Ausbau werden wir gewaltige Anstrengungen unternehmen. Um die Kohlekraftwerke abzulösen, brauchen wir aber auch einige Backup-Kraftwerke, die zunächst mit Gas und später mit grünem Wasserstoff betrieben werden. Sie springen dann ein, wenn Windräder und Solaranlagen nicht genug Strom liefern.

Professionelles Porträtfoto: Patrick Graichen in Jacket und Krawatte.
Foto: Susanne Eriksson/​BMWi

Patrick Graichen

ist Staats­sekretär für Energie- und Klima­politik im Bundes­wirtschafts­ministerium von Robert Habeck (Grüne). Zuvor leitete der in Bonn aufgewachsene Politik­wissen­schaftler und Ökonom die Denk­fabrik Agora Energie­wende.

Wäre mit der neuen EU-Taxonomie garantiert, dass beispielsweise russisches Erdgas ab 2035 nicht mehr in hiesigen Pipelines transportiert wird?

Das ist nicht der Inhalt der Taxonomie. Die Taxonomie ist ein System zur Klassifizierung von Finanzprodukten – nicht mehr und nicht weniger. Wenn Gas-Pipelines bis 2035 vollständig auf grünen Wasserstoff umgerüstet werden, dann wären sie in dieser Logik als übergangsweise nachhaltig einzustufen.

Denkt die neue Führung des Wirtschaftsministeriums darüber nach, die bisher positive Sicherheitsanalyse für die aus Russland kommende Pipeline Nord Stream 2 angesichts des Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze zu revidieren und damit die Zertifizierung infrage zu stellen?

Das Verfahren der Zertifizierung liegt aktuell bei der Bundesnetzagentur und diese entscheidet nach Recht und Gesetz.

Werden Sie versuchen, die Gas-Importe aus anderen Staaten zu erhöhen, um nicht zu abhängig von Russland zu werden?

Am besten ist es, wenn wir das Erdgas aus vielen verschiedenen Quellen beziehen. Die Einfuhr aus den USA gehört ebenso dazu wie etwa aus Norwegen, Russland oder Nordafrika.

Halten Sie neben dem geplanten Flüssigerdgas-Terminal in Brunsbüttel weitere Gashäfen für notwendig, um mehr verflüssigtes Gas aus den USA zu importieren?

Wir haben eine gute europäische Infrastruktur für den Flüssiggas-Import. Aktuell ist diese ausgelastet.

Im Koalitionsvertrag ist viel davon die Rede, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Wie wollen Sie beispielsweise erreichen, dass bald zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie zu Verfügung stehen?

Wir sprechen jetzt mit den Bundesländern. Klar ist, dass wir ein Gesetz brauchen, damit alle einen angemessenen Beitrag leisten.

Das gilt auch für Bayern, wo bisher wenige Rotoren stehen?

Kein Bundesland kann sich ausnehmen.

Was bekommen die Bürger:innen und Kommunen dafür, dass sie die vielen Windparks tolerieren?

Bereits jetzt erhalten die Kommunen eine Abgabe der Investoren für neue Windparks und Freiflächen-Solaranlagen. Laut Koalitionsvertrag wollen wir das auf bestehende Anlagen ausdehnen.

Seit Jahren geht der Ausbau der großen Nord-Süd-Stromleitungen nur schleppend voran. Dass der sogenannte Suedlink von Schleswig-Holstein durch Niedersachsen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg wie geplant 2026 fertig wird, ist unwahrscheinlich, oder?

Der Netzausbau ist entscheidend, und es ist ein misslicher Zustand, dass er sich seit Jahren verzögert. Zum Ausbaustand werden wir noch im Januar eine Bilanz ziehen. Aber es ist schon jetzt klar, dass wir hier eine Beschleunigung brauchen, das haben wir auf der Agenda.

Wie sieht der nächste Schritt zum Kohleausstieg aus?

Wir werden noch dieses Jahr die Voraussetzungen prüfen, wie ein Kohleausstieg bis 2030 ermöglicht werden kann – und uns dann zügig daran machen, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Auch wird der steigende Kohlendioxidpreis ziemlich sicher die Dinge beschleunigen.

Wo sollen die Ersatzarbeitsplätze für die Lausitz in Sachsen und Brandenburg herkommen?

Der schnellere Kohleausstieg beschleunigt auch den Strukturwandel. Und der wird neue Arbeitsplätze schaffen. In den Braunkohle-Tagebauen sollen beispielsweise Wind- und Solarkraftwerke entstehen. Entsprechende Technik- und Dienstleistungsfirmen werden sich ansiedeln, klimaneutrale Fertigung wird folgen.

Gerade die Region um das Kraftwerk Schwarze Pumpe soll ein Energie- und Industriestandort bleiben. Wir laden die Landesregierungen und Kommunen ein, gemeinsam in diese Richtung zu arbeiten.

Erstmals leiten Grüne nun das Wirtschaftsministerium. Befürchten Sie, dass sie von einem skeptischen Beamtenapparat ausgebremst werden?

Keinesfalls. Hier im Haus erlebe ich eine große Bereitschaft, Aufbruchstimmung und hohe Loyalität zu den beschlossenen Zielen.

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