Solarzellen USA
Solarzellen in den USA: Warum hat die Welt in der Umwelt- und Klimapolitik Jahrzehnte verloren? (Foto: Mike Lewinski/Flickr)

Klimareporter°: Herr von Weizsäcker, Putins Krieg hat die Politiker im Deutschland und der EU wachgerüttelt. Nun soll es mit dem Verzicht auf fossile Energien ganz schnell gehen. Warum braucht es solch einen Anlass dafür?

Weil viele Menschen den Ernst der Lage einfach nicht wahrhaben wollten. Das betrifft unsere Abhängigkeit von fossilen Energien aus dem Ausland genauso wie die Klimakrise. Noch Mitte Februar, vor Kriegsbeginn, hätte ein klimapolitischer Aufruf zum rasend schnellen Verzicht auf fossile Energien zu einem wütenden Protest in Deutschland geführt.

Der Titel ihres jüngsten Buchs lautet: "So reicht das nicht!" Gilt das nun immer noch?

Leider ist das so. Auch wenn Deutschland auf russisches Gas, Öl und Kohle verzichtet und stattdessen Wind- und Sonnenstrom in unserem Land forciert und Öl und Flüssigerdgas aus Amerika und dem Nahen Osten kauft, reicht das nicht, weil der deutsche Beitrag zu den globalen Treibhausgasmissionen nur zwei Prozent beträgt.

Wir müssen mithelfen, dass auch die übrigen 98 Prozent stark reduziert werden. Das heißt, wir brauchen eine neue Klima-Außenpolitik, die es in Entwicklungsländern wie Indien oder Algerien lukrativ macht, früher aus der Kohle und dem Öl auszusteigen.

Grundgedanke ist der "Budget-Ansatz", nach dem alle Länder der Welt ein pro Kopf gleiches Anrecht auf die für das 1,5- oder Zwei-Grad-Ziel insgesamt noch zulässigen Emissionen erhalten. Das würde uns nötigen, CO2-Lizenzen aus dem Süden zu kaufen. Dann würde es dort lukrativ, Kohlekraftwerke stillzulegen, auf Sonnenenergie umzusteigen und die dadurch frei werdenden Lizenzen an den Norden zu verkaufen.

Was sind die wichtigsten Zeichen der globalen Umweltkrise?

Die Wetterkapriolen werden immer intensiver. Der Meeresspiegel kann womöglich verheerend stark ansteigen. Die Austrocknung der Böden kann schlimm werden.

Nun läuft die Umweltdebatte seit mindestens 50 Jahren. 1972 kam das legendäre Buch "Die Grenzen des Wachstums" des Club of Rome heraus, dessen Ehrenpräsident Sie sind. Zugleich fand der erste UN-Umweltgipfel in Stockholm statt. Warum haben fünf Jahrzehnte nicht gereicht, um eine Wirtschaftsweise zu entwickeln, die die von der Natur gesetzten Grenzen einhält?

Die Umweltsorgen von 1972 hatten so gut wie gar nichts mit dem Klima zu tun. Sie betrafen vor allem Luft- und Wasserverschmutzung. Und der Club of Rome hat – unzutreffend – die baldige Erschöpfung der Rohstoffe befürchtet.

Die Erkenntnis einer möglichen großen Klimaveränderung gab es erst in den späten 1980er Jahren, und von da an hat man in Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern das Thema Klima vernünftig angepackt. Die Entwicklungsländer hatten mehrheitlich andere Sorgen.

Vor 30 Jahren, im Juni 1992, fand der große UN-Erdgipfel in Rio de Janeiro statt, an dem Sie teilgenommen haben. Das schien der Wendepunkt zu sein, ein Aufbruch nach dem Ende des Kalten Krieges ...

Ja, die Verabschiedung der Klimakonvention und der Konvention über biologische Vielfalt in Rio waren sensationelle Fortschritte. Der Erdgipfel war getragen von einem wunderbaren Optimismus. Aber Umwelt war in der Volksseele der meisten Länder noch kein Topthema.

Als Sie damals aus Rio zurückkamen, da dachten Sie, nun beginnt das ökologische Zeitalter?

Na ja, ich hatte drei Jahre vorher ein Buch mit dem Titel "Erdpolitik" geschrieben, in dem ich hoffnungsfroh das 21. Jahrhundert als das Jahrhundert der Umwelt bezeichnete. Aber das war eine krasse Außenseitermeinung. Wirtschaftswachstum war und blieb in praktisch allen Ländern der Welt vordringlich.

Was genau hat damals diese große Wende verhindert? Und wer?

Besagte Volksseele, überall auf der Welt. Die Aufbruchstimmung nach dem Ende des Kalten Krieges, die auch Rio beflügelte, ist in danach in die neoliberale Ideologie ausgewandert, die in den USA von Reagan und in Großbritannien von Thatcher bereits vorangetrieben worden war.

Deren Ziel: staatliche und erst recht globale Vorsorgeregeln abbauen, weil doch "der Markt" den besseren Riecher für die Geldanlage und den technischen Fortschritt habe als der Staat. Eine "Erdpolitik" hatte da kaum eine Chance. 

Sie waren während der rot-grünen Zeit im Bundestag, 1998 bis 2005. Was waren die Erfahrungen?

Porträtaufnahme von Ernst Ulrich von Weizsäcker.
Foto: IFP

Ernst Ulrich von Weizsäcker

stand dem Thinktank Club of Rome bis 2018 sechs Jahre als Co-Präsident vor. Der Biologe und Physiker war Präsident der Universität Kassel, leitete mehrere Institute und wurde 1991 Gründungs­präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie. 1998 bis 2005 war er SPD-Bundestags­abgeordneter.

Die SPD und die Grünen waren mutig. Sie haben eine ökologische Steuerreform, den Atomausstieg und das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, durchgesetzt. Die Ökosteuer machte Energieverbrauch teurer und die Lohnnebenkosten billiger und half dadurch, etwa 300.000 Arbeitsplätze zu sichern oder neu zu schaffen.

Und das EEG war der weltweit wirksame Anstoß für eine fantastische Verbilligung der Solarenergie. Die machte den Klimaschutz auf einmal absolut bezahlbar.

Die 16 Jahre der Merkel-Regierungen entsprachen weitgehend der "Volksseele". Sie waren klimapolitisch fortschrittlicher als die fast aller anderen Länder. Aber das reicht eben nicht.

Hätten Sie sich ein Szenario vorstellen können, wie es nun mit Putins Krieg eingetreten ist? Dass fossile Energie Kriege finanziert und als Waffe eingesetzt wird?

Ich hatte nicht an so einen Schock gedacht.

Sind Sie für ein Erdgas-Embargo gegen Russland, um Putins Krieg nicht mehr weiter zu finanzieren? Oder ist Wirtschaftsminister Habecks Strategie des Ausstiegs bis 2024 richtig?

Natürlich ist uns der Frieden heute erstmal wichtiger als alles andere. Ob ein Embargo dafür hilfreich wäre, weiß ich nicht.

Der Fossil-Ausstieg ist vernünftig, aber er wird dazu führen, dass wir grünen Wasserstoff importieren müssen. Die heimische Produktion reicht hinten und vorne nicht. Ob 2024 oder etwas später richtig ist, ist im Kern eine wirtschafts- und sozialpolitische Frage.

An der deutschen Küste sollen bis zu zwölf Flüssigerdgas-Terminals entstehen. Passt das überhaupt zur Energiewende? Umweltverbände machen Front dagegen.

Flüssigerdgas-Terminals machen unser Land robuster, aber klimapolitisch wichtiger fände ich den Import von klimaneutralem Methanol und Ammoniak, hergestellt mit Ökostrom in Afrika oder Arabien, wo die Kilowattstunde Photovoltaik nur noch einen Eurocent kostet.

Auch jetzt, während Putins Ukraine-Krieg, profitieren die klassischen Energiekonzerne und die fossil-atomaren Strukturen. Die Ölmultis und die Fracking-Industrie in den USA machen irre Zusatzprofite, die Kohle erlebt eine Renaissance und Milliarden fließen in die Entwicklung neuer Atomkraftwerke. Verkehrte Welt?

Verkehrte Welt ist ein schöner Ausdruck. 

Ist dieses Rollback noch zu verhindern?

Er muss verhindert werden, gerade bei der Atomenergie. Atomenergie ist nicht nur eine Energiequelle, sondern kann auch die Technologie von Atomwaffen füttern und Terroristen auf böse Gedanken bringen.

Sollte man die Extraprofite der Energiekonzerne abschöpfen, die sie in der Ukraine-Krise machen? So wie Großbritannien es beschlossen hat?

Auf jeden Fall. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.

Sie haben immer gefordert: "Die Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen". Was heißt das in der aktuellen Situation, wo die Preise quasi explodieren? Und die Ampel-Regierung einen Tankrabatt eingeführt hat?

Ich habe nie gesagt, man solle die "ökologische Wahrheit" auf Heller und Pfennig ausrechnen und dann dem Energiepreis aufsatteln. Ich finde bloß, es muss von Jahr zu Jahr lukrativer werden, ökologische und klimaschädigende Handlungen zu unterlassen und die bislang völlig unterbelichtete Energieeffizienz zu steigern.

Nur muss diese Verteuerung sozialpolitisch und auch für den gewerblichen Mittelstand abgefedert werden. Bei "explodierenden" Preisen darf man auch mal gegensteuern.

In Ihrem Buch zitieren Sie die Cohab-Idee des verstorbenen Physikers und Energie-Vordenkers Gerhard Knies, die auf das Zusammenleben, die "Kohabitation" der 200 Staaten der Welt zielt. Zitat: "Nationalstaaten mutieren von Konkurrenten zu Partnern. Das Militärbudget schrumpft und das Geld geht in Projekte, die beiden Partnern nützen."

Wie realistisch ist das, in einer Welt mit Putin, wo auch Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzlich in die Rüstung steckt

Das haben Gerhard Knies und ich lange vor dem Putin-Krieg formuliert. Aber jetzt gilt die Idee erst recht. Der Ärger ist, dass in den Gehirnen vieler Machthaber, auch in Donald Trumps Kopf, die gnadenlose Rivalität der Völker gegeneinander die eigentliche Spielregel ist.

Das ist für einen labilen Planeten eine grundfalsche Philosophie. Mein Buch hat ein ganzes Kapitel über die Notwendigkeit neuer Philosophie, einer neuen Aufklärung. Da ziehe ich mit Fridays for Future am gleichen Strang.

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