In die im ersten Teil dieses Beitrags beschriebene eklatante Unzulänglichkeit der Klimapolitik hinein kommt nun ein weiterer schwerer Schock, Putins imperialistischer Krieg gegen die Ukraine. Wird dieser Schock dazu führen, dass die Energie- und Klimawende endlich die notwendige Fahrt aufnimmt?
Möglich ist es. Aber das wird – wie die Vergangenheit lehrt – nicht von selbst geschehen, sondern hat Voraussetzungen und erfordert konsequentes Handeln in Politik und Gesellschaft.
Prinzipiell gilt: Anders als Anfang der 90er Jahre sind die erneuerbaren Energien, vor allem die Sonnen- und Windenergie, heute so weit entwickelt, dass sie – hinreichend verfügbare Speicherkapazitäten vorausgesetzt – prinzipiell dazu in der Lage sind, in den Bereichen Strom, Wärme und Mobilität eine Vollversorgung zu übernehmen.
Durch ihren massenhaften Einsatz und durch weiteren technischen Fortschritt werden die Kosten pro erzeugter Kilowattstunde Energie aus erneuerbaren Quellen in Zukunft überdies voraussichtlich weiter sinken. Das Argument, die Erneuerbaren seien wirtschaftlich nicht wettbewerbsfähig, kehrt sich so in sein Gegenteil um.
Allerdings sind die Zusammenhänge etwas komplizierter als der beliebte und simple Imperativ: "Ersetze Kohle, Öl und Gas durch Sonne, Wind und Wasser – und alles kann in der gewohnten Form weiterlaufen!" Eine solche Sichtweise blendet zu vieles aus.
Die Rohstoffe für die Erzeugungs- und Speichertechnologien müssen ebenfalls im Bergbau gewonnen werden, sind teilweise knapp und in potenziellen Spannungsregionen konzentriert, vor allem in China und in denjenigen Staaten, in denen China seit Jahren systematisch in Bergbau, Verkehrswege und Häfen investiert, um strategischen Einfluss zu gewinnen.
Begrenzt ist aus Naturschutzgründen auch die konfliktfrei zur Verfügung stehende Fläche für Windenergie- oder Solaranlagen sowie für große Speicherseen.
Vor allem aber müssen die erneuerbaren Energien konsequent mit der Absenkung des Energieverbrauchsniveaus verbunden werden, weil nur so ein schneller Komplettumstieg gelingen kann. Je geringer der absolute Energieverbrauch, desto leichter ist es, den Anteil erneuerbarer Quellen daran schnell zu erhöhen und letztlich eine Vollversorgung mit ihnen zu erreichen.
Konkret auf die deutschen Energieimporte aus Russland gewendet, heißt das: Dass wir 55 Prozent unseres Erdgasverbrauchs, 45 Prozent unseres Steinkohleverbrauchs und 35 Prozent unseres Erdölverbrauchs aus Russland beziehen, kann nicht bedeuten, dass wir diese Verbräuche nun dauerhaft und eins zu eins durch erneuerbare Energien ersetzen.
Energieeinsparung: Da geht noch viel mehr
Es geht vielmehr darum, deutlich sparsamer mit Energie umzugehen, als dies in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten der Fall war. Das Gebot der Stunde ist deshalb ein Mix aus technischen, organisatorischen und regulatorischen Maßnahmen sowie individuellem Verzicht auf Überflüssiges, um den Energieverbrauch schnell abzusenken.
Aus der ersten Ölpreiskrise von 1973 und dem daraus folgenden Energiesicherungsgesetz des Bundes wissen wir, dass es beim Energiesparen einige tief hängende Früchte gibt, die leicht und schnell zu pflücken sind: von reduzierten Raumtemperaturen über ein Tempolimit auf Autobahnen bis zu autofreien Sonntagen.
Schon 1979 wies der Physiker und Naturphilosoph Klaus-Michael Meyer-Abich in seinem beeindruckenden Buch "Energieeinsparung als neue Energiequelle" darauf hin, dass die beste Kilowattstunde Energie diejenige ist, die durch intelligentes Verhalten erst gar nicht produziert werden muss.
Heute ist klar: Da geht noch viel mehr, vom regelmäßigen Homeoffice über den Umstieg vom Auto auf das Rad und die Bahn bis zum Verzicht auf Flugreisen, Billigklamotten und "To go"-Produkte, von der digital gestützten Bildung von Fahrgemeinschaften bis zum "smarten" Herunterregulieren der Heizung bei Abwesenheit, vom Verzicht auf Wegwerfprodukte bis zum Teilen und Weitergeben von Nutzgegenständen, vom Selbermachen bis zur Wartung und Reparatur von Dingen.
Vom Gärtnern bis zum "Retten" von Lebensmitteln jenseits des vermeintlichen Verfallsdatums aus Supermärkten, vom Reduzieren des Fleischkonsums bis zum lokalen und saisongerechten Einkauf von Obst und Gemüse, vom Verzicht auf die Beleuchtung auch noch des letzten Winkels von Haus, Hof und Straße bis zur Bekämpfung der Standby-Verschwendung von Elektrogeräten in Haushalten, Behörden und Firmen.
Der Fantasie sind beim Kampf gegen Verschwendung und bei der Befreiung von überflüssigem Ballast fast keine Grenzen gesetzt. Ob man das Ganze konservativ als "maßvollen und sparsamen Lebensstil" benennt oder progressiv als "Postwachstumsgesellschaft", ist eine Frage des Geschmacks.
Nach der ersten Ölpreiskrise hieß es auf Auto- und Fahrradaufklebern hierzulande schlicht: "Ich bin Energiesparer". Das klingt bieder, trifft es aber recht präzise. Da mag jeder Mensch so reden, wie ihm oder ihr der Schnabel gewachsen ist.
Die Energiewende-Formel: Weniger – besser – anders
Sicher, Energieeinsparung kann nicht nur beim Einzelnen abgeladen werden, gebraucht werden gesetzliche Standards, monetäre Anreize, Förderprogramme, öffentliche Infrastrukturinvestitionen, "grüne" Digitalisierungsstrategien, Informationen, Kampagnen und Wettbewerbe sowie gute Vorbilder für gelingende Praxis. Allein können die Bürgerinnen die Megaherausforderung Energiewende nicht stemmen, dazu bedarf es vor allem guter Politik.
Aber die Schaffung und Stärkung eines reflektierten Energiebewusstseins, das uns in Zeiten der vermeintlich grenzenlosen Verfügbarkeit von Energie abhandengekommen ist, ist absolut zentral. Dass Appelle zum Energiesparen noch vor kurzem von manchen Politikern als ideologiegetriebener "Verzichtsumweltschutz" oder "unsexy" gebrandmarkt wurden, wirkt nicht erst seit dem Beginn von Putins Ukrainekrieg grotesk und verantwortungslos.
Das Schüren der Illusion, es gehe auch ohne Energieeinsparung, ist jedenfalls keine Realpolitik, sondern reinste Ideologie. Nur wenn wir am Ende der energetischen Nutzungskette durch Politikwandel, Technikwandel, Wirtschaftswandel, Kulturwandel und Lebensstilwandel deutlich weniger verbrauchen und die Energie effizienter nutzen, werden wir es schaffen können, schnell zu einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien zu kommen.
Nennen wir das Ganze die Drei-E-Strategie. Es geht um Einsparung, Effizienz und Erneuerbare gleichermaßen, also um ein "Weniger", ein "Besser" und ein "Anders". Wenn wir nicht auf allen drei Strecken zugleich erfolgreich sind, wird die Energiewende scheitern. Aber die gute Nachricht ist: Wir können das schaffen!
Reinhard Loske
befasst sich seit mehr als drei Jahrzehnten in Wissenschaft und Politik mit Energie- und Klimafragen, unter anderem als Leiter der Forschungsgruppe "Zukunftsfähiges Deutschland" am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Bundestagsabgeordneter der Grünen und Umweltsenator in Bremen, zuletzt als Professor für Nachhaltigkeit und Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Rheinland-Pfalz.
Zum Ende noch eine Erinnerung: Weil Deutschland sich in Sachen Energie so eklatant von Russland abhängig gemacht hat und dadurch verletzbar geworden ist, glauben dieser Tage manche, neben einem verstärkten Rückgriff auf nationale Energieressourcen wie die Braunkohle sei eine Diversifizierung der Bezugsquellen für Gas, Öl und Steinkohle der beste Weg, um das Risiko der Erpressbarkeit signifikant zu senken. Das ist für die kurze Frist vielleicht nachvollziehbar.
Jedoch hält die Geschichte auch hier eine Lehre für uns bereit. Als die Oapec, die Organization of Arab Petroleum Exporting Countries, den westlichen Industriestaaten im Oktober 1973 als Reaktion auf deren militärische Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg den Ölhahn zudrehte, fielen auf einen Schlag 75 Prozent der deutschen Erdölimporte weg.
Die Bundesregierung unter Willy Brandt reagierte prompt und entwickelte eine Gegenstrategie, die von Sofortmaßnahmen wie Sonntagsfahrverboten und Tempolimits über umstrittene Pläne zum verstärkten Ausbau der Atomkraft bis zu eben jener Diversifizierung der Bezugsquellen reichte, die auch heute verfolgt wird. Im Zuge dessen und auch im Zuge des "Wandels durch Annäherung" zwischen West und Ost stieg so allmählich der Anteil des als zuverlässig erachteten Russlands an den deutschen Energieimporten.
Dass dieser Anteil derart schwindelerregende Höhen erreichen sollte, wie sie heute bestehen, lag sicher nicht in Brandts und später Helmut Schmidts Absicht, weshalb Gerhard Schröders fragwürdiger Einsatz für Nord Stream 2 auch nicht für sich reklamieren kann, er stehe in einer Tradition der "Friedensförderung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit". Nord Stream 2 war von Anfang an ein Instrument der Spaltung Europas, ob gewollt oder ungewollt.
Aber dennoch bleibt als grundsätzliche Mahnung auch heute, dass hinter jeder neuen Diversifizierungsstrategie stets auch Risiken lauern, die genauestens abzuwägen sind. Eine Alternative zur Drei-E-Strategie sind Diversifizierungsstrategien beim Bezug von Gas, Öl und Kohle jedenfalls weder ökologisch noch ökonomisch oder sicherheitspolitisch.
Echte Quellen von Freiheit und Frieden sind letztlich nur die erneuerbaren Energien, die Energieeinsparung und die effiziente Nutzung von Energie. Ihnen gehört, anders als dem Putin-Regime, die Zukunft. Sie massiv und schnell voranzubringen, ist das Gebot der Stunde.
Lesen Sie hier Teil 1: Putins Ukrainekrieg als Katalysator für die Energiewende?