Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft und Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW.
Klimareporter°: Frau Kemfert, laut einer neuen DIW-Analyse ist 2023 auch ohne russische Energielieferungen eine sichere Stromversorgung möglich, wobei trotzdem die letzten drei Kernkraftwerke wie geplant zum Jahreswechsel abgeschaltet werden und auch noch alle Kohlekraftwerke bis 2030 vom Netz gehen können. Wie soll das alles gehen?
Claudia Kemfert: Wir haben in Szenariorechnungen analysiert, wie das deutsche Stromsystem auf einen Stopp russischer Energielieferungen reagieren kann, ohne den beschleunigten Kohleausstieg bis 2030 und den beschlossenen Atomausstieg Ende des Jahres infrage zu stellen.
Neben erheblichen Mengen Erdgas importierte Deutschland bisher auch rund 60 Prozent seiner gesamten Kohleeinfuhren aus Russland. Diese Kohleimporte sollen bis August vollständig beendet werden.
Obwohl die Kohlepreise gestiegen sind, gibt es auf dem deutschen und europäischen Markt ein ausreichendes und flexibles Angebot an Steinkohle. Trotz des Kohle-Embargos gegen Russland ist also hier nicht mit Engpässen bei der Versorgung zu rechnen.
Wir zeigen in unserer Studie, dass alles sehr gut zusammengeht: Auch bei einem vollständigen Wegfall der russischen Erdgas- und Kohleexporte nach Deutschland bleibt die Stromversorgung sowohl im kommenden Jahr – nach dem Atomausstieg – als auch mittelfristig gesichert.
Bedingung hierfür ist der im "Osterpaket" der Bundesregierung vorgesehene beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien sowie eine befristete Erhöhung der Steinkohle- und Braunkohleverstromung. Auch die zusätzlichen Steinkohleimporte können relativ einfach von internationalen Kohlemärkten bezogen werden.
Fazit: Auch bei einem starken Rückgang der Erdgasverstromung und der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke gibt es im Jahr 2023 ausreichend Kraftwerkskapazitäten. Ein schneller Ausbau der erneuerbaren Energien beschränkt dabei die fossile Stromproduktion – der im Koalitionsvertrag angestrebte Kohleausstieg bis 2030 bleibt erreichbar.
Mittelfristig bleibt die Integration zwischen deutschem und europäischem Strommarkt für die Versorgungssicherheit entscheidend.
Ab kommender Woche wird das Osterpaket im Bundestag beraten. Wirtschaftsminister Habeck von den Grünen will damit die Energiewende beschleunigen, vor allem den Ausbau der Erneuerbaren. Der Koalitionspartner FDP hat dem Gesetzespaket bisher nur unter Vorbehalt zugestimmt. Befürchten Sie, dass das Paket im Politikstreit noch verwässert wird?
Ja, leider. Dabei müsste es verschärft werden!
Bei der Windenergie muss der Turbo eingelegt werden. Pauschale Abstandsregeln schaden der Energiewende und erhöhen auch nicht die Akzeptanz. Wie man in Bayern oder Nordrhein-Westfalen sieht, verringern sie die Flächen für den Bau von Windkraftanlagen unnötig. Der Ausbau kommt nahezu zum Erliegen.
Die geplante Abschaffung der Windkraft-Länderöffnungsklausel im Baugesetzbuch ist absolut sinnvoll und überfällig. Planungsverfahren müssen nicht nur erleichtert, sondern auch auf sichere Füße gestellt werden, um langjährige Prozesse zu vermeiden. Deswegen ist die einheitliche und vor allem vereinfachte Regelung zum Artenschutz beim Bau von Windanlagen zu begrüßen.
Zugleich müssen aber die Ausbauziele für die Solarenergie erhöht werden. Um möglichst viele Menschen für den Umstieg auf Eigenproduktion zu bewegen – "Solarzellen auf jedes Dach!" –, sollte nicht nur der eingespeiste, sondern gerade auch der selbstgenutzte Strom finanziell attraktiv sein. Das muss im Osterpaket dringend nachjustiert werden.
Das größte Hemmnis für eine schnelle Umsetzung des Osterpakets ist aber, dass eine beihilferechtliche Genehmigung der EU eingeholt werden muss, weil die Finanzierung der EEG-Umlage in den Staatshaushalt überführt wird. Insofern kann das Paket wohl erst 2023 in Kraft treten. Das wäre viel zu spät!
Die Lösung ist ein Booster-Programm für erneuerbare Energien als eine Art Notfallpaket, das sofort umgesetzt werden kann. Beantragte und Repowering-Projekte könnten – und sollten – dann sofort genehmigt werden.
Alle derzeitigen Neubauanlagen ließen sich damit bis auf Weiteres im Rahmen eines "EEG 2.0" finanzieren, das nicht aus Steuern finanziert wird, sondern wie früher über den Strompreis – und somit auch EU-rechtlich sofort wirksam werden kann. So haben wir vor über 20 Jahren mal begonnen, daran könnten wir wieder anknüpfen.
Auch beim Erdöl soll die Abhängigkeit von Importen aus Russland enden. 21,5 Milliarden Euro soll Deutschland 2021 für russisches Öl ausgegeben haben. Als größter Verbraucher gilt der Autoverkehr. Tempo 130 auf der Autobahn würde rund 600 Millionen Liter Sprit im Jahr sparen, Tempo 100 fast das Dreifache. Wäre nicht aber auch ein Verbot aller Verbrenner-Neuzulassungen angesagt?
Wir benötigen dringend eine echte Verkehrswende, die uns nicht nur unabhängig von russischem Öl, sondern generell von fossiler Energie macht. Wir brauchen eine Verkehrswende, die auf Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz setzt. Bisher ist davon wenig zu sehen.
Der jetzt vorgesehene Tankrabatt geht in die völlig falsche Richtung. Statt Benzin zu subventionieren, sollten wir besser den ÖPNV und den Schienenverkehr stärken, die Kfz-Steuer für emissionsfreie Fahrzeuge erlassen, strengere Pkw-Grenzwerte in der EU einführen, die Ladeinfrastruktur ausbauen und eine Elektroauto-Quote von 50 Prozent für alle neu zugelassenen Fahrzeugen einführen.
Zudem sollten die weiteren umweltschädlichen Subventionen im Verkehrssektor abgebaut werden. Ein Tempolimit ist überfällig. Auch würde ein autofreier Sonntag helfen, ebenso die Abschaffung der Inlandsflüge, mehr Nutzung von Homeoffice oder der Bahn sowie der Verzicht auf Freizeitfahrten mit dem Benzin- oder Dieselauto.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Wirklich erstaunlich ist für mich persönlich, wer plötzlich alles schon immer vor Erdgas aus Russland gewarnt haben will, wer erläutert haben will, warum die Nord-Stream‑2-Pipeline energiepolitisch falsch, betriebswirtschaftlich unrentabel und klimapolitisch schädlich ist.
Wir haben dazu zahlreiche Forschungsarbeiten vorgelegt und auch schon 2018 den Bau von Nord Stream 2 öffentlich kritisiert. Warum waren wir immer allein mit unseren Erkenntnissen? Warum wurde immer von Gas als "Brückentechnologie" gesprochen?
Warum wurde immer und immer wieder gesagt, Russland sei ein sicherer Lieferant – oder: geopolitische Risiken könne man auch "herbeifantasieren"?
Statt sich der Kritik anzuschließen, wurde unsere Studie als "umstritten" tituliert, während die von Nord Stream selbst in Auftrag gegebene Studie immer und überall öffentlich als "plausibel" eingeordnet wurde. Wirklich erstaunlich, dass sich daran niemand mehr erinnern will.
Fragen: Jörg Staude